Jörg Drews: 1960 und die Folgen. Erinnerungen an Helmut Heißenbüttel
Alles änderte sich im Jahr 1960. Gut, wir hatten sechs Jahre vorher schon als Pennäler durch einen Zufall Arno Schmidt entdeckt; ein Klassenkamerad und ich fischten „Brand’s Haide“ und „Aus dem Leben eines Fauns“ aus einer eben bankrottierenden Buchhandlung und waren irritiert begeistert, aber irgendwie blieb das eine isolierte Erfahrung: Was hatten wir denn – fragten wir uns verunsichert – für einen kuriosen Geschmack, daß uns diese beiden Bücher gefielen, wir damit aber völlig alleinblieben? Und es war auch schon Paul Celan ins Blickfeld gekommen – die Studentenbibliothek der Universität Heidelberg hatte „Mohn und Gedächtnis“, im Sommersemester 1958 wurde in Arthur Henkels Oberseminar ein Celan-Gedicht analysiert, und bis heute hat es mir Celans Gedicht „Ein Knirschen von eisernen Schuhn ist im Kirschbaum“ ganz besonders angetan. Und seien wir historisch gerecht, auch wenn die Entfernung von Grass in den letzten drei Jahrzehnten stark angewachsen ist: „Die Blechtrommel“ hatte 1959 einen ungeheuer befreienden Effekt , und den Gedichtband „Die Vorzüge der Windhühner“ von 1956 halte ich immer noch für ganz vorzüglich; ansonsten aber betete, wer nicht einfach nur bildungsfromm zu Magister Thomas von der Trave aufschaute, um dort gediegenes Deutsch zu genießen, zum großen Gottfried Benn. Damit sind sozusagen unsere damaligen Standards in der Literatur bezeichnet, das hielten wir für modernst.
Dann aber schrieben wir 1960 und es tauchte in München ein leise sprechender, leise vortragender einarmiger Mann namens Helmut Heißenbüttel auf und las irgendwann im Winter 1959/60 – ich denke, es war im Januar 1960 – in der Lenbach-Galerie. Ein Gerhard von Graevenitz und ein Jürgen Morschel hatten eine Literaturzeitschrift gegründet, die hieß „nota. studentische zeitschrift für kunst und dichtung“ und brachte es nur auf vier oder fünf hochformatige Hefte. „nota“ lud zu sechs Lesungen ein, unter den Lesenden waren Eugen Gomringer, Max Bense, Claus Bremer, Bazon Brock – war Franz Mon auch dabei? Ich weiß es nicht mehr –, Bense theoretisch hochgestochen und später beim Bier atemberaubende Obszönitäten von sich gebend (jedenfalls schien das uns Buben so), Claus Bremer aufgeräumt, strahlend und Vertrauen erweckend, Gomringer mit der Designer-Neokargheit jener Jahre sehr beeindruckend, Bazon Brock irritierend eitel und hochfahrend aus seinem Band „kotflügel kotflügel“ vorlesend. Und dazwischen also Helmut Heißenbüttel, und er las Texte, die wenig später in „Textbuch 1“ standen, darunter „Cinemascope 59/60“, „Der Wassermaler“ und „Einsätze“.
Sowas hatte ich noch nie gehört, das haute mir das ganze spät- oder post-bennsche poetische System auseinander, aber wie Heißenbüttel das ruhig und nur bisweilen mit seinem Armstumpf im Jackenärmel wedelnd vortrug, machte es den größten Eindruck von Lakonik und Modernität, und von dem Stück Prosa namens „Der Wassermaler“ waren wir geradezu gerührt und bezaubert. Aber wie sollten die „Einsätze“ eigentlich verstanden werden? Jetzt hatten wir – Studenten im 6. Semester, als analytisch ambitionierte Benn-Leser organisiert in einem kleinen „forum artisticum“, auf dem kleinen Poster unserer Gruppe Benn im Profil mit seiner scharfen Nase – gedacht, wir marschierten an der Spitze des poetischen Fortschritts, und nun das!
Wolfgang Weyrauch war bei dieser Heißenbüttel-Lesung im Publikum; ihm traute ich, er hatte gerade die Anthologie „expeditionen“ im List-Verlag herausgegeben, und ich fragte ihn verstört und ganz naiv: „Wie soll man das denn verstehen?“ Weyrauch gab mir keinen strukturellen Ratschlag, sondern antwortete klug und väterlich: „Lesen! Immer wieder lesen!“ Das war natürlich das Allerallgemeinste, was man sagen konnte, aber stimmte eben doch auch konkret: Gar nicht viel später hielt man es dann für selbstverständlich, daß man so mit der Syntax umgehen konnte, und bis heute ist für mich „Einsätze“ einer der suggestivsten Texte Helmut Heißenbüttels.
Im Herbst kam dann das „Textbuch 1“ heraus, im Format so hoch und ein bißchen breiter als DIN A 4, strahlend weiß, mit viel Platz auf den Seiten, großzügig, damit die Texte atmen konnten und nicht so gequetscht wie üblich auf winzigen Seiten stehen mußten, und ich fand das würdig, daß endlich einmal Gedichte luxuriös viel Platz hatten und wirken durften. Zwar höhnte im Oktober 1964 bei meinem Besuch Arno Schmidt über die „Textbücher“, auf den großen Seiten sei „fast nix druff, iss doch sehr viel weiß“, und das fand ich so schockierend und verständnislos und banausisch wie seine Bemerkungen über Samuel Beckett, aber ich dachte: Besser kein Kommentar.
Heißenbüttel entgrenzte alle unserer Vorstellungen von Texttypen und Gattungen – es hatte sehr wohl einen Sinn, angesichts vieler der Stücke in den „Textbüchern“ provozierend, cool und korrekt von „Texten“ zu sprechen und damit die Gattungsfrage fürs erste zu neutralisieren, auf die Seite zu schieben. Und wie sollte zum Beispiel ein Stück wie „c) konjunktivisch“ noch als „Gedicht“ oder als „Lyrik“ zu bezeichnen sein? Es war ja obendrein auch noch wurscht. (Obgleich es natürlich Spaß machen konnte, gerade die Bezeichnung ‚Gedicht’ in einzelnen Fällen dialektisch doch wieder zu verfechten, ähnlich wie kurz darauf Heißenbüttel im Nachwort zu „Laut und Luise“ von Ernst Jandl auf die antizipierte (- und in der Tat ja damals oft gehörte -) Frage, ob dies oder jenes noch ein Gedicht sei, lakonisch antwortete: „Wie soll denn sonst ein Gedicht heute aussehen?“.)
Kein Buch von Helmut Heißenbüttel hat mir bis heute einen solchen Eindruck gemacht wie die ersten sechs „Textbücher“. Mit den Aufsatzbänden „Über Literatur“ und „Zur Tradition der Moderne“ ist es was anderes, sie haben eine ganz andere Art von Gewicht, haben argumentatives Gewicht, während die Textbücher eben doch näher an der Poesie waren. Rekapituliere ich heute Texte wie „Kalkulation über was alle gewußt haben“, „Politische Grammatik“ oder „Deutschland 1944“ oder das große „Gedicht von der Übung zu sterben“ mit ihrer strengen Trauer und ihrem großen Pathos, auch den wundervoll ruhig und lese atmenden Sechszeiler (oder Fünfzeiler?) „einfache Sätze“:
einfache Sätze
während ich stehe fällt der Schatten hin
Morgensonne entwirft die erste Zeichnung
Blühn ist ein tödliches Geschäft
ich habe mich einverstanden erklärt
ich lebe
– so habe ich den Eindruck, daß vieles im Aussagesystem der gegenwärtigen Literatur geradezu geschwätzig ist, regrediert, rekonventionalisiert, und dies nicht nur verglichen mit dem, was bei Heißenbüttel schon realisiert war, sondern auch bei anderen, bei Franz Mon, bei Eugen Gomringer, später bei Prießnitz und Ernst Jandl.
Aber vielleicht war es ein besonders günstiger und unwiederholbarer Moment des Zerfalls alter, altmodischer literarischer Ausdrucksmöglichkeiten; was da zwischen ungefähr 1958 und 1962 in der deutschen (der westdeutschen) Literatur passierte, ist so etwas wie das konzentrierte Aufholen jenes literarischen Hinterherhinkens – „cultural lagging“ nannte das damals Hans Kilian in seinen Vorlesungen zur geistigen Situation Deutschlands nach 1945 – , welches uns das Dritte Reich und in seiner Folge auch noch die Adenauer-Zeit eingebrockt hatte: die fünfziger Jahre brauchten und verbrauchten wir bei unserer Modernisierung.
1960: Heißenbüttel war, wie gesagt, nicht allein. Ich sehe sein „Textbuch 1“ flankiert von zwei anderen Büchern dieses Jahres. Eines davon ist die Anthologie „movens“, erschienen bei Limes in Wiesbaden, herausgegeben von Walter Höllerer, Manfred de la Motte und Franz Mon (erstaunlicherweise ist nichts von Heißenbüttel drin in diesem Band), die der große Konservative Hans Magnus Enzensberger – daß er das werden würde, begann damals schon absehbar zu werden – gleich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift „Die Movens-Bande“ verhöhnte, welchem Hohn er dann gleich noch den Aufsatz „Die Aporien der Avantgarde“ hinterherschickte.
Ich mußte einen Tag lang im Studentenschnelldienst Bierfässer rollen in einer Münchner Brauerei, um abends die 26 DM gleich zum Buchhändler in der Veterinärstraße tragen und beispielsweise entdecken zu können, daß Kurt Schwitters nicht nur „An Anna Blume“ geschrieben und Merz-Kunst gemacht, sondern auch die Prosa „Der Schürm“ sich ausgedacht hatte, und daß ein gewisser Peter Weiss (noch nie gehört!) ungeheuerliche und unheimliche „Prosa“ verfaßt hatte; mehr an Überschrift als dieses „Prosa“ stand nicht drüber.
Das war sensationelle Prosa, und wir wußten damals nicht, daß „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ acht Jahre lang auf deutschen Redaktions- und Lektoratsschreibtischen gelegen hatte, bis Suhrkamp sich traute, einen „Tausenddruck“ daraus zu machen:1960!, ohne den dann wiederum die Gruppe 47-Prosa der folgenden Jahre nicht zu denken ist.
In den nächsten Jahren war Helmut Heißenbüttel einer meiner Hausgötter, zusammen mit Arno Schmidt und gegen Ende der sechziger Jahre dann Gerhard Rühm, der den Innovationen der Jahre um 1960 vor allem präludierte mit dem Prosastück „die frösche“ von 1958. Mit Heißenbüttel wechselte ich einige Briefe, in denen er freundlich auf meine Fragen Auskunft gab, mich – damals – sehr erstaunte mit seiner Hochschätzung Stefan Georges, des Lyrikers, der mir in jenen Jahren Anathema war (daß die Sache so einfach nicht ist, weiß ich heute auch), und ich wunderte mich über die eigenartig hübsche, harmonische, fast ‚weibliche’ Handschrift von Heißenbüttel – so meine Anmutung; dabei verstand und verstehe ich nichts von Graphologie, aber meine damalige Freundin sagte: „Wer so eine Handschrift hat, kann auch den ‚Wassermaler’ schreiben.“
Heißenbüttel war es auch, der 1963 die schöne Formulierung prägte, Arno Schmidt sei „ein Volksschriftsteller, aber ein verhinderter“. Damit hebelte er die öde Behauptung aus, Schmidt sei – so hätte man es wenige Jahre später formuliert – „elitär“, und zugleich bestätigte er die Diagnose doch. Schmidts Literatur war ja einerseits – vom „Leviathan“ bis zu gewissen Aspekten der Erzählungen in dem Band „Kühe in Halbtrauer“ von 1964 nach seinen Stoffen und Handlungen ganz nah an den Nachkriegs- und Alltagserfahrungen vieler Westdeutscher, aber dann doch untermischt mit entlegen-eigensinnigen Bildungs-Elementen, ernsthaft und zugleich närrisch versetzt mit bizarrer Gelehrsamkeit, die sich vom Quasi-Volkstümlichem dezidiert in Einsamkeitsträume absetzen wollte.
Mitte der siebziger Jahre machte ich auf Einladung Heißenbüttels drei längere Rundfunksendungen über Arno Schmidt beim Radioessay des Süddeutschen Rundfunks in Stuttgart, außerordentlich dankbar, daß Heißenbüttel mir so viel Sendezeit einräumte, um „meinem Affen Zucker zu geben“, wie Benn so gerne sagte. Es war dies vielleicht die Zeit meines größten Einverständnisses auch mit seinen theoretischen und kritischen Positionen, die er in den Bänden „Über Literatur“ 1965 und „Zur Tradition der Moderne“ 1972 dargelegt und mit Heinrich Vormweg in dem „Briefwechsel über Literatur“ schon 1969 diskutiert hatte. In diesen Jahren war er für mich als Kritiker an die Stelle des immer mehr verstummenden Kölner Literaturkritikers und Essayisten Albrecht Fabri getreten. Summarisch gesagt: Er war mir damals fast der einzige, der einen Begriff hatte von dem, was Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Kenntnis und Bewußtsein ihrer avancierten Traditionen in einem ernsthaften Sinn – auch gegenüber den Wissenschaften – überhaupt war und sein konnte, als spezifische Disziplin, deren Tun immer auch mit Erkenntnisprozessen zu tun hatte, aber eben im Medium des Ästhetischen, als strenges und spielerisches Probierfeld für die Darstellung von Gesellschafts- und Bewußtseinsrealitäten eben dieser zweiten Jahrhunderthälfte.
Er war jemand, der Sprache als historisches Material auffaßte und das Nachdenken über Literatur nicht als Sequenz von irgendwie nacheinander entstehenden und eins nach dem andern auf den Schreibtisch des Rezensenten gespülten Büchern auffaßte, sondern nach ihrer Problemstellung und ihrer Notwendigkeit fragte.
Bis heute bewundere ich aufs äußerste die Essays „Vortrag über: was alles Platz hat im Gedicht“ und „Was ist das Konkrete an einem Gedicht?“, erschienen 1969 in einem kurios quadratischen Bändchen bei Hansen & Hansen in Itzehoe in der Reihe „Vorspann. Eine Schriftenreihe zur Einführung in die Dichtung der Gegenwart“, und besonders sympathisierte ich mit seiner Hochschätzung von Arno Holz’ „Phantasus“.
Dabei wirkte er übrigens auf mich als Süddeutschen, der etwa einen Besuch im niedersächsischen Bargfeld schon als Visite in einem Landstrich empfand, der noch exotischer war als Arno Schmidt ihn schilderte, sehr „norddeutsch“, was ja nicht recht an seiner Schweigsamkeit liegen konnte, denn oft war er – allerdings mit seiner etwas gequetschten, nie so richtig aus ihm heraus kommenden Stimme – leise munter plappernd eher lebhaft, aber oft reagierte er auch langsam und zögerlich. In seiner Massivität wirkte er fast immer auf mich etwas einschüchternd; als er älter wurde, machte er oft den Eindruck, abweisend-hochmütig, mürrisch aggressiv oder vielleicht sogar auch depressiv zu sein.
In Stuttgart Mitte der siebziger Jahre schien er mir besonders aufgeräumt, gesprächig und entspannt, worüber ich mich dann wieder sehr wunderte. An die Wohnung in der Donizettistraße erinnere ich mich als ganz vollgestellt – aber gar nicht mit Büchern bzw. Bücherregalen, sondern mit unzähligen Schallplatten in Regalen an mindestens zwei kompletten Zimmerwänden. Es gibt ja eine große Zahl von Musik- bzw. Plattenbesprechungen von ihm – davon möchte man doch einmal eine umfangreiche Auswahl haben! – , aber damals in Stuttgart konnte ich mir merkwürdigerweise noch nicht einmal vorstellen, daß er musikalisch sei – irgend etwas an ihm schien mir zu prosaisch oder dröge und seine Stimme zu unmusikalisch, zu unmelodiös zu sein. Am meisten aber verblüffte mich, wie – na, sagen wir mal: lustvoll und ausgiebig er Klatsch aus dem Literaturbetrieb erzählte, in scheinbar völligem Ernst und – so schien es mir jedenfalls – ohne jede Brechung durch Ironie, auch kaum lachend: Wer mit wem, und wie da die dramatischen Momente aussahen, als etwa die Lyrikerin B. sich von dem Lyriker und Kritiker H. telefonisch trennte und H. buchstäblich ohnmächtig vor Herzschmerz wurde; Heißenbüttel, sachlich und amüsiert: „Wir mußten ihn dann auf eine Couch legen …“
Ich sperrte Mund und Ohren auf, daß der große Kritiker Heißenbüttel sich mit so was abgeben konnte, stundenlang, mit nicht nachlassendem detaillierten Interesse, aber andererseits aber doch auch so, daß mir der ernsthafte Gedanke kam, er müsse dies doch alles mal aufschreiben, nicht einfach nur als lustigen Klatsch, sondern man könnte dies alles dann doch auf die Literatur durchsichtig machen oder eben genauer herauskriegen, daß dies eben nicht mit Literatur kompatibel sei, sondern etwas ganz anderes; das alles wäre nicht einfach als lüsterne Grotesken zu goutieren, über Indiskretionen kichernd, sondern es müßte als deutbar zu betrachten sein und als Beispiel für … methodisch, aber wie?
Ich habe später – ich glaube, in einem Artikel zum 60. Geburtstag Heißenbüttels – im Ernst vorgeschlagen, er sollte doch einmal die Geschichte der westdeutschen Literatur sozusagen von ihrer Kehr- und Klatschseite her erzählen; ich meinte das aber gar nicht leichtfertig und nur als Gag, sondern als Material zu Überlegungen zur literarischen Kreativität oder zur Anthropologie der Dichter, mal hochgestochen gesagt. Ich weiß nicht, ob er mit das übel nahm, Heinrich Vormweg reagierte auf die gedankenspielerische Überlegung geradezu indigniert, und nicht nur deshalb, weil Heißenbüttels Erzählungen dieser Art vielleicht halt doch nur im Erzählen, mündlich funktionierten und nicht in Schrift und Druck; außerdem aber war Vormweg ja ethisch eher ein Protestant.
Bei den Treffen und Sitzungen des „Bielefelder Colloquiums Neue Poesie“ war Helmut Heißenbüttel von 1978 bis zu seinem Tod neben Ernst Jandl und Franz Mon derjenige mit der größten Autorität, allerdings auch der, welcher häufig von uns allen am schlechtesten gelaunt war, oft auch lange Zeit bedrückend stumm, auch der, der Einwürfe anderer einfach überging oder abbürstete. Sagte man ihm etwa beiläufig, daß an irgend einer Stelle eines Artikels von ihm, der vor kurzem publiziert war, eine falsche Information stecke, der er offensichtlich aufgesessen sei, sagte er nur unwirsch, das sei ihm egal, brummte, und wandte sich ab.
Vielleicht waren dies aber auch schon Vorboten der Krankheit, die ihn zu zeichnen begann, wobei manchmal immer schwerer zu unterscheiden war, was da Krankheit und was da einfache grobe Aggressivität war. Seine letzten Auftritte bei den öffentlichen Lesungen des Colloquiums im Bielefelder Rathaussaal waren für uns Colloquiumsmitglieder und insbesondere für Klaus Ramm und mich sehr bewegend, gleichgültig, wie sehr er uns bisweilen verletzt hatte. Der Schlaganfall hatte den massigen Mann ja nicht auf einen Schlag gefällt, sondern verdammte ihn zu einer stummen Rollstuhlexistenz, bei der schwer zu deuten war, wieviel er mitbekam und ob und wie er sich hätte äußern mögen.
Was uns am meisten fehlte und fehlt, ist aber, neben seinem trockenen Sinn für Komik (verknüpft nicht mit Gelächter, sondern einem feinen, strahlenden Lächeln, zusammen mit einer Art rhythmischem Atmen), die Souveränität seiner Positionen, das nicht an den Tag Gebundene seiner Urteile und Perspektiven in einem Literaturbetrieb, der schon damals ungemein kurzatmig war und heute so völlig orientierungslos zu werden droht, daß die einzelnen Urteile durch kein Bewußtsein von Tradition irgendeinem lange oder weiter reichenden Gedanken mehr verbunden sind, damit aber eigentlich beliebig bleiben.
Zwar war Heißenbüttel bisweilen auch in seinen Urteilen über Bücher für Überraschungen gut, etwa wenn er zur Verblüffung von Klaus Ramm und mir ein Buch von Heinrich Böll (einen der späteren Romane) pries oder verblüffend vorbehaltlos positiv über einen Band von Chris Bezzel sich äußerte. Bei allem Respekt vor Heißenbüttels Leistung, durch die Propagierung eines Konzepts der „Offenen Literatur“ 1977 ein zu enges Konzept von Moderne- und Avantgarde zu sprengen – das war nun doch verstörend. Dennoch: Ein Mann wie Heißenbüttel täte uns not – in der Literaturkritik.
Was seine Literatur selber angeht, fällt es mir schwer, mich damit abzufinden, daß er im Moment in einer größeren Öffentlichkeit wenig gilt, wenig Resonanz hat. Kennt man den Literaturbetrieb länger, wundert man sich aber nicht. Erstens gab es bei Heißenbüttel eine gewisse handwerkliche Ernsthaftigkeit sowohl des kritischen wie des produzierenden Denkens, die im Moment kaum angesagt und vor allem auch mit der Rekonventionalisierung der literarischen Ästhetik bei vielen Autoren ohnehin nicht kompatibel ist.
Vielleicht kann man sagen: Daß so vielen Autoren die Gattungen wieder so evident zu sein scheinen, ist das Problem. Daß es bei Heißenbüttel so viele Texte gab, die jeweils eine neue/andere Gattung darstellten, ist nicht ein literarischer Reichtum, sondern bezeugt Akte der literarischen Erkenntnis.
Fast hätte ich resignativ gesagt: Da kann man nichts machen; es ist halt wohl so, daß es Zeiträume gibt, die weniger innovativ sind und z.B. vielleicht eben in der Lyrik Gedichtbände publiziert werden, deren gefällige Verschnarchtheit ganz unglaublich ist (keine Namen, damit es nicht nach Denunziation klingt), während zugleich die „44 gedichte“ von Reinhard Prießnitz kaum bekannt sind, so wenig wie seine Prosastücke, etwa „13 flocken“ oder „schrauben“, die weder von der Literaturwissenschaft noch von der Kritik bisher gründlich angeschaut wurden. Es kann ja auch wieder anders werden.
Bei Heißenbüttel bringt sich aber halt jeder – und das ist eine Art Trost – um einen Genuß, der die Liebesgeschichte „Oberwasser und Feuerborn“ oder die Erzählung von der „Haarigen Witwe von Botnang“ oder die Brecht-Geschichte „Eine Handvoll Gedichte, eine Handvoll Fotos“ nicht kennt, und auch nicht die so lakonischen wie seltsam verschwätzten Prosa-„Herbste“ und so vieles andere mehr.
Sehr viele Titel sind übrigens durchaus noch lieferbar, Heißenbüttel ist ja keineswegs völlig vom Markt verschwunden, und außerdem gibt es das ZVAB und es gibt zwei Heißenbüttel-Titel sogar via Print on demand. Zu den größten Kostbarkeiten meiner Bibliothek aber gehörten neben einem Band mit erotischen Kriminalerzählungen von Walter Serner von 1925 und der Originalausgabe von Rubiner/Eisenlohr/Hahns „Kriminalsonetten“ von 1913 gewiß auch Helmut Heißenbüttels „Topographien. Gedichte 1954/55“, die mir jemand am 30.12.1960 schenkte, und das auch schon leicht angegilbte Exemplar des „Textbuch 1“, das ich mir laut handschriftlicher Eintragung am 3.10.1960 kaufte.
Ein Heide sagt über einen anderen Heiden: Gesegnet sei sein Name!
Jörg Drews: 1960 und die Folgen. Erinnerungen an Helmut Heißenbüttel. In: die horen, 4. Quartal 2006, Heft 224, S. 69-75.