Jörg Drews: Wissenschaftlich erwiesen: Träume sind keine Schäume.
Fischer Verlag und Psychoanalytiker feiern in Frankfurt 100 Jahre ‚Traumdeutung’*
Zuerst schien sich damals der 370-Seiter gut zu verkaufen, dann wurde er – nach heutigen Maßstäben erst recht – ein Flop, aber schließlich erwies sich Sigmund Freuds Die Traumdeutung nicht nur als Jahrhundertbuch, sondern, wie der Analytiker Hermann Beland kürzlich emphatisch meinte, sogar „mehr als ein Jahrhundertbuch“. Das Jahrhundertbuch also, wenn das die Steigerungsform ist, erschien vor genau 100 Jahren, vordatiert auf das auratische Datum 1900, ein wahrhaftes Aufklärungsbuch, sowohl im Sinne der im späten 18. Jahrhundert einsetzenden empirischen Psychologie der Spätaufklärung wie auch in dem Sinne, daß es den Menschen des 20. Jahrhunderts radikal über sich selbst aufklärte. Noch vor der offiziellen Auslieferung am 4. November 1899 schickte Freud seinem Freund Wilhelm Fließ, der die „Patenschaft“ in den Jahren der Entstehung des Buches 1896 bis 1899 übernommen hatte, ein Vorausexemplar, dankbar und ängstlich zugleich. Denn Freud hatte es nicht nur unternommen, eine als ‚absurd’ geltende seelische Hervorbringung des Menschen als ernstzunehmend und bestimmten Gesetzen gehorchend darzustellen, sondern skandalöserweise so etwas wie „unbewußte“ seelische Akte zu postulieren, und vor allem: er hatte vier Dutzend erkennbar eigene Träume in dem Buch analysiert und damit eine Selbstverleugnung begangen, vor der ihm bei allem Mut doch bange war.
Im Bewußtsein der Öffentlichkeit ist die Traumdeutung eher die Gründungsurkunde der Psychoanalyse geworden als die fünf Jahre früher erschienen Studien über Hysterie. Zwar gab es wegen des zunächst geringen Zuspruchs der Käufer erst 1909 eine zweite Auflage; die letzte zu Lebzeiten Freuds, die achte, erschien 1930; auch dürfte bis heute die Zahl derer, die das Buch ganz gelesen haben, nicht allzu groß sein. Aber auch wenn man davon absieht, daß in heutigen Analysen die Deutung von Träumen wohl nicht mehr dieselbe Rolle spielt wie in den frühen Jahren der Analyse, ist die Traumdeutung ein einmaliges Dokument, nicht nur ein psychologisches, sondern auch ein anthropologisches, auch ein Dokument der Lust an Erkenntnis über die Ordnung des Unbewußten und zugleich der Einsicht in die Gründe für den Widerstand, den wir gegen Einsichten in uns selbst mobilisieren, und ein tiefer Einblick in all die Symbolisierungen – vom Mythos über die Kunst bis zum Traum –, in denen Wahrheit sich ausdrückt und camoufliert. Das Buch ist aber vor allem eine Universalgrammatik, nicht auf der dichten Bildarbeit, durch die und in der der Traum sich „inszeniert“, sondern auch so etwas, wie eine Teil-Grammatik der Sprache der Kunst. Der Traum spricht von Wünschen, mit einer moralfreien Intensität, die Freud als seinen zentralen Antrieb diagnostizierte, und er bezeugt seine eigene, geradezu künstlerisch zu nennende Kunstfertigkeit in der Traumarbeit. Das berühmte Motto „Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo“ aus Vergis Aeneis ist mit „Weigern’s die droben [die Götter], so wird ich des Abgrunds Kräfte bewegen“ viel zu edel übersetzt und deutet an, daß das in der Seele Verborgene nur im Widerspiel mit anderen gegnerischen Instanzen die Wahrheit enthält: göttliche Ideen, Maximen, edle Werte sind wirkungslos: wenn das aus moralischen Motiven Nichtzugelassene nicht mitbedacht wird, entsteht keine Erkenntnis. Im Englischen würde das Motto mit seinem Drohpotential so lauten müssen: „If I can’t move the Gods, I’ll raise hell!“
In Frankfurt hatte der S. Fischer Verlag, unterstützt von der Sigmund-Freud-Stiftung und dem Frankfurter Psychoanalytischen Institut, zum 100. Geburtstag des Buches in die Aula der Johann Wolfgang Goethe-Universität eingeladen. Zwar benützen wir heute meist die achte Auflage der Traumdeutung, doch zu feiern war die erste Auflage, sozusagen die „Ur-Traumdeutung“, die soeben als Faksimile-Edition samt einem Beiheft mit drei Essays von Jean Starobinski, Ilse Gubrich-Simitis und Mark Solms erschienen ist.
Ilse Gubrich-Simitis, die die Veranstaltung konzipiert hatte, machte in ihrem Vortrag zur Textgeschichte des Buches detailliert deutlich, wie sehr der Text von 1900 durch Zusätze und Revisionen Freuds und durch Beifügungen Otto Ranks und anderer verändert wurde, und rekonstruierte Freuds überraschend widerspruchsvolle Beziehung zum eigenen Opus magnum. Seine Annahmen über das, was er so kühl und schnöde den „seelischen Apparat“ nennt, unterlagen zwischen 1900 und 1930 so starken Veränderungen, daß er, um neuere Erkenntnisse bzw. Denkmodelle berücksichtigen zu können, das Buch hätte eigentlich neu schreiben müssen. Den großen Stilisten Freud sehen wir hier also nicht auf der Höhe seiner selbst; er liefert eher ‚patchwork’, betreibt Flickschusterei, klebt Anbauten ans Textgebäude usw. Aber trotz Freuds Unbehagen an dem stilistisch nicht so durchgebildeten Buch ist durch diese einePublikation ein völliger Paradigmenwechsel in der Psychologie herausgeführt und übrigens auch der Subjekt-Begriff in der Philosophie weitreichend verändert worden; die Psychologie des Unbewußten war etabliert, zentrale Figuren wie Ödipus und Hamlet waren als Ausgangspunkte für zahllose Denkfiguren unseres Jahrhunderts gesetzt und konnten nun natürlich auch – es durfte nicht ausbleiben – so popularisiert werden, bis kaum noch wiederzuerkennen war, was Freud zum Beispiel mit dem „Ödipuskomplex“ oder mit „ödipal“ gemeint hatte. Erkenntnisse sind eben nicht davor gefeit, eines Tages beim gesunkenen Kulturgut zu landen.
Gegenwärtig muß man feststellen, daß Ressentiments gegen die Psychoanalyse und die Unkenntnis ihrer Texte eher wachsen, daß auch die Triebtheorie zu einer flachen allgemeinen Rede über das „Begehren“ wird und die Symbolisierungen des Psychischen zu Symbolkatalogen von komisch mechanistischer Simplizität verdinglicht sind. Der größte Feind der Psychoanalyse sind aber heute weder bewußte oder modische Widerstände, sondern es ist die simple Tatsache, daß das heutige Lebenstempo und die herrschenden Vorstellungen von therapeutischer „Effizienz“ weder lange Analysen noch intensive und geduldige Lektüre von Texten wie der Traumdeutung fördern.
Wie radikal und umsichtig, wie schonungslos und verantwortungsvoll langsam Freud etwa vorging, als er in der Passage der Traumdeutung über Träume vom Tod naher Verwandter den Neid auf die Jugend, die Todeswünsche und generell unsere Ambivalenz gegenüber geliebten Personen – gar den eigenen Söhnen – zugeben muß und in seiner abgründigen Verständigkeit vorführt, konnte der Schauspieler Wolfram Koch in seiner Lesung – deren Text Ilse Gubrich-Simitis ausgewählt hatte – eindringlich deutlich machen. Es handelte sich um das Zu-Gehör-Bringen jener Kernpassage des Buches, in der mit der Beschreibung der ödipalen Konstellation „nicht nur die Hauptachse der späteren Neurosenlehre, sondern eine unerläßliche Grundkonfiguration psychischer Strukturbildung überhaupt erstmals erkannt und benannt wird“.
Der Neurochirurg und Psychoanalytiker Mark Solms vom Londoner St. Bartholomew Hospital konnte, die Veranstaltung mit einem Einblick in eine Nachbardisziplin abrundend, den zahlreichen Zuhörern die frohe Botschaft überbringen, daß die „neuroscience“ sich inzwischen ein so differenziertes Bild vom Traum als einem Hirnphänomen machen und sowohl Auslöser von Träumen wie auch die beteiligten Hirnregionen so präzis benennen kann, daß – ganz neutral formuliert – Freuds Annahmen über den Traum weitgehend kompatibel sind mit dem Stand der Erkenntnisse der Neurologen. Daß zum Beispiel eine Hirnregion, die zuständig ist für „wanting“ (etwas wollen, einer Sache bedürfen), beim Mechanismus der Hervorrufung von Träumen eine wichtige Rolle spielt, paßt bestens zu Freuds These vom Traum als einer versuchten Wunscherfüllung. Und wenn Solms hinzufügt, bei Träumen seien die Gehirnstellen für „rationales Denken“ weitgehend „inaktiv“ diejenigen fürs emotionale System aber „hochgradig tätig“, so lassen uns solche Analogien zu Freuds Thesen, formuliert auf der Basis der coolen Hirnforscher, Hoffnung schöpfen, daß die Zeit der Behauptung, Träume seien nichts als eine Art hirnelektrischer Entladung ohne jede Bedeutung, nichts als Schäume, zu Ende geht.
Keine Wissensdisziplin kommt nach hundert Jahren ohne gravierende Grundannahmen aus, und die Psychoanalyse ist da keine Ausnahme. Am Traum sieht sie heute weniger das rein „Textliche“, versteht ihn auch eher als eine Art konkreten Agierens in der therapeutischen Situation und enger verknüpft mit traumatischen Erfahrungen des Subjekts. Objektiv ironisch aber ist die Wirkung der Psychoanalyse in den Künsten, vor allem in der Literatur. Der psychologische Roman zum Beispiel ist ein anderer nach der Etablierung der Wissensdisziplin Psychoanalyse, die den Romanciers einen erheblichen Teil ihres Scharfsinns und ihrer intuitiven Menschenkenntnis dilettantisch erscheinen ließ. Insgesamt dürfte der Umgang der Künstler mit den Ressourcen ihres Unbewußten schon dadurch vielfältig anders geworden sein, daß sie selbst nun – denn niemand blieb gänzlich unberührt von der Psychoanalyse – ein Bewußtsein ihrer seelischen Mechanismen haben und dann auch anders damit umgehen – so sehr anders, daß Freud etwa von den doch auf ihn sich berufenden Dadaisten und Surrealisten gar nichts hielt: die hatten aus der Psychoanalyse die Möglichkeit von Texten einer nicht-klassischen Ästhetik abgeleitet, zu der der klassisch gebildete Freud keinen Zugang mehr haben konnte. Vielleicht kann die Psychoanalyse doch viel weniger auf die Analyse literarischer Texte übertragen werden, als viele Analytiker gerade aus Freuds frühem Kreis glaubten: ästhetische Texte sind – bei aller Verwandtschaft – etwas kategorial anderes als psychologische Dokumente wie etwa Träume und Tagträume, aber die einläßliche Deutung von Träumen in ihrer Vielschichtigkeit hat unsere Fähigkeit, Texte als ein subtiles Widerspiel des Manifesten mit dem Verborgenen darin zu verstehen, jedenfalls unendlich vergrößert.
Und der psychoanalytische Verstehensprozeß hat vor allem eine erheiternde Dringlichkeit: man kann sich selbst nicht heraushalten; um etwas Relevantes zu entdecken, muß man sich verwickeln lassen … Die Jünger der Göttin Isis sahen, wenn sie deren berühmten Schleier hoben, nicht einfach das Geheimnis der Göttin, sondern sie sahen – sich selbst. In allen Humanwissenschaften ist Erkenntnis nicht vom Erkennenden zu trennen, nicht objektivierbar und als dingliches Wissen ohne Bezug zu uns isolierbar; als erkennende Subjekte treffen wir beim Objekt immer auch auf uns selbst. Daher die Berechtigung des halb-albernen, halb tiefsinnigen Wortspiels von Arno Schmidt: Psychoanal-Isis.
Die Traumdeutung selbst aber hat immer noch ihre dunklen Stellen: Was ist zum Beispiel mit folgender Formulierung Freuds angedeutet: „Jeder Traum hat mindestens eine Stelle, an welcher er unergründlich ist, gleichsam einen Nabel, durch den er mit dem Unerkannten zusammenhängt“? Freud spricht ja kaum je mystisch oder raunend – also was meinte er hier? Ein Nabel ist eigentlich eine Narbe – was aber sollte da vernarbt sein? Wie omphalisch-seinsgründig soll man diese Bemerkung verstehen? Der kleine Satz hat jedenfalls die Chance, dereinst so häufig interpretiert worden zu sein wie jener Traum Freuds (und seine daran anschließende Deutung) vom Sommer 1895, genannt „Irmas Injektion“, mit dem bekanntlich auf Sommerhaus Bellevue bei Wien alles begann. Diese zwölf Seiten sind nach ihrer ersten Deutung durch den Urheber 1899 noch einmal so häufig gedeutet worden wie Franz Kafkas „Vor dem Gesetz“ oder „Die Sorge des Hausvaters“ Es sind halt Jahrhunderttexte, nach Herman Beland müßten wir sogar sagen: „mehr als Jahrhunderttexte“. Wir zehren eben bis heute von dem, was im ersten Drittel unseres Jahrhunderts (und ein klein wenig davor) gedacht und gedichtet wurde.
* Originalfassung eines Berichts über die Veranstaltung des S. Fischer Verlages 100 Jahre ‚Traumdeutung’ in der Frankfurter Universität, verkürzt abgedruckt in der Süddeutschen Zeitung vom 3.12.1999.
Jörg Drews: Wissenschaftlich erwiesen: Träume sind keine Schäume.
Fischer Verlag und Psychoanalytiker feiern in Frankfurt 100 Jahre ‚Traumdeutung’. In: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis. Jg. XV, 2000, 1, S. 106 – 110.