Jörg Drews: Den Anschluss finden. (West-)Deutsche Literaturkritik 1945 bis 1955
In den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und bis zu den beiden deutschen Staatsgründungen 1949 zeigten sich schon fast alle Themen, Streitpunkte, Tendenzen und Teilungslinien, die tief in die Geschichte der Bundesrepublik fortwirkend (und zum Teil bis heute) die Entwicklung der Literatur und der Literaturkritik bestimmen sollten. 1946 veröffentlichte der überlebende KZ-Häftling des Lagers Buchenwald Eugen Kogon in München das Buch Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager und schuf damit erstaunlich schnell nach dem Ende des Dritten Reiches nicht nur ein ‚Standardwerk’, sondern damit einen Referenzpunkt für kommende Diskussionen, der allerdings gar nicht ausreichend genutzt wurde; Klarheit über das Lagersystem der Nazis und viele Details herrschte im Grund schon ab 1945/46, auch durch die Aufklärungsheften des „Office of the Military Government of the United States“ und ähnlicher alliierter Stellen. Deren zögernde oder undiskutierte Zurkenntnisnahme ist zugleich ein Symptom für die komplizierte Gemengelage von Schuldbewusstsein und Verdrängung in den Köpfen der Deutschen; nicht nur, dass man wie betäubt war von der deutschen Niederlage, den Zerstörungen und dem materiellen Elend, das auf das Kriegsende folgte, sondern es fehlten der Politik, auch der Soziologie und der Literatur und den einzelnen Lesern zunächst nicht nur oft der Wille, sondern einfach auch die Begriffe, um das Ausmaß dieser einmaligen moralischen und materiellen Katastrophe und der jeweiligen eigenen Verwicklung zu verstehen und zu benennen, und das heißt auch: es literarisch darzustellen, es zu ‚gestalten’, wie man damals eher sagte. Was der ‚Zivilisationsbruch’ zivilisationsgeschichtlich, geschichtsphilosophisch und kulturell-literarisch bedeutete, ist bis heute eine der Fragen, die auch die Literatur und die Literaturkritik bis in ihre Verästelungen bis heute durchdringen, und die gleich nach dem Krieg mit dem Erscheinen beginnenden Zeitschriften – Die Wandlung, Die Gegenwart, Ausblick, Aufbau, Der Ruf, Die Weltbühne, die Frankfurter Hefte – widmeten sich ja oft nur in zweiter Linie der Literatur, sondern hatten alle einen kulturphilosophischen, geschichtstheoretischen und politisch-moralischen Einschlag, versuchten sich an so etwas wie zaghafter – bisweilen eher konservativer, teils auch religiöser – Begriffsbildung, um den historischen Ort zu definieren, an dem man sich nach Krieg, Massenmord und Vertreibungen befand. Zugleich brachen sogleich, beginnend schon im Mai 1945 mit dem Meinungsaustausch zwischen Thomas Mann und Walter von Molo, Diskussionen auf, die sich mit der Statur und der moralischen Rechtfertigung befassten, welche die älteren Autoren, die ‚drin’ gebliebenen wie die exilierten, von Thomas Mann bis Ernst Jünger, später dann auch Gottfried Benn und Bertolt Brecht hatten (oder die ihnen abgesprochen wurden), als Sprecher in einer oder für eine deutsche Öffentlichkeit aufzutreten und Deutungshoheit zu beanspruchen; Emigration und Bleiben in Nazi-Deutschland wurden gegeneinander ausgespielt, Kommunistenfurcht nahm mit dem sich entwickelnden Kalten Krieg zu, bis mit der Gründung der beiden deutschen Staaten, die verschiedenen politischen Blöcken angehörten, ab 1949 so etwas wie ein deutscher bzw. gesamtdeutscher Diskurs, gesamtdeutsche Institutionen und eine Kenntnisnahme von literarischen Produkten und Entwicklungen des jeweils anderen Landesteils bzw. Staates sogar auf weite Strecken gar nicht mehr möglich, sogar gar nicht mehr gewünscht war und für viele Jahre unterblieb.
„Alle, die 1946 schreiben, sind im Anfang“ – dieser pathetische und zugleich ungenaue Satz Wolfgang Weyrauchs, zitiert im Vorwort zu der von Paul E. Lüth 1947 in Wiesbaden veröffentlichten Sammlung Der Anfang. Anthologie junger Autoren ist bezeichnend in seiner Verunsicherung, die gleichzeitig einen Stich von Selbstmitleid und ein Eingeständnis der Armseligkeit enthält. Es spricht daraus die Ausdrucksnot der Situation eines einschüchternd großen Zusammenbruchs, der einen in einem emphatischen Sinn sprachlos macht, und das Beste an diesem Satz ist eben dies Eingeständnis einer einmaligen Null-Situation, in der es nur eine Art zaghaften und zugleich bisweilen trotzigen Herumtastens gibt, geben kann. Sieht man die große Zahl von Aufsätzen und Essays durch, die dann von den in der Nachkriegszeit gegründeten Zeitschriften und bis sowohl in die Rezensionspraxis der fünfziger Jahre wie auch in die Essaybände der Literaturkritiker der fünfziger Jahre reichen, so gibt es auch kaum Entwürfe einer neuen Poetik der Lyrik oder Prosa, es gibt keine konkreter entwickelten Vorstellungen davon, wie den nun zu schreiben sei über Millionen Tote und das in Ruinen liegende Mitteleuropa; viel häufiger ist eine Grundtendenz zu erkennen, an die großen Traditionen der europäischen Literatur anzuknüpfen, nicht unbedingt, indem man ihnen umstandlos nacheifert, sondern überhaupt Kenntnisse zu vermitteln und zur Lektüre einer Literatur zu raten, fast: solche Literatur beschwörend zu nennen, deren Kenntnis durch das Dritte Reich verhindert worden war, und das heißt vor allem: die Kenntnis der klassischen Moderne bzw. der Publikationen der letzten ca. 30 Jahre in Frankreich, England und den Vereinigten Staaten, die weder ins Deutsche hatten übersetzt werden noch überhaupt zur Kenntnis genommen werden können; daher rührte ja der oft benannte und von den jungen Autoren damals durchaus auch verspürte mangelhafte Kenntnisstand und die Unbedarftheit bezüglich der Entwicklung der Literatur in den Jahren von ungefähr 1930 und bis in die fünfziger Jahre.
„… im Anfang“ waren 1946 ff. aber nicht nur die Autoren (vor allem auch die, welche Jahre hatten im Krieg zubringen müssen), vielmehr waren schlecht informiert auch die Leser in Deutschland, die ja gleichfalls orientierungslos waren, was die Entwicklung der europäischen Literatur seit den späten zwanziger Jahren betraf und deren Horizont auch dadurch verengt worden war, dass die ab ca. 1933 entstehende bzw. publizierte deutschsprachige Literatur nicht etwa in breitem und entschiedenem Maße offen faschistisch gewesen wäre, sondern vor allem verschwärmt konfliktscheu, idyllisch und in eine vage feinsinnige Innerlichkeit zurückgezogen. Woran sollten Leser und vor allem junge Leser anknüpfen, wo sollten sie nun Maßstäbe hernehmen? Woran sollten Dichter wie Rezensenten wie auch Leser beim Bedenken und Einschätzen neuer Literatur sich orientieren? Zugleich konstatierten viele ausländische Beobachter in den frühen Jahren der Bundesrepublik ein lebhaftes Interesse und eine große Aufnahmebereitschaft in literarischen und philosophischen Dingen vor allem bei der jüngeren Generation und insbesondere der studentischen Jugend; Adorno etwa notierte dies mit Erstaunen gleich nach seiner Rückkehr aus den USA an die Universität Frankfurt im Jahre 1949.
Die zeitdiagnostische Kulturkritik und dann ab 1950 vor allem auch die Literaturkritik, die sich langsam nach dem Ende der „Zeitschriftenzeit“ (Heinz Hartung) von den Zeitschriften in die Feuilletons der Tageszeitungen und in von Literaturkritikern zusammengestellte Essay-Bände verlagerte, sah ihre primäre Aufgabe, an Werke der kürzlichen Vergangenheit aus den westlichen Ländern – der kommunistische Osten musste dabei mit Beginn des Kalten Krieges zunehmend aus dem Blick bleiben, nicht zuletzt auch, weil viele kulturelle und literaturkritische Äußerungen aus Ostdeutschland erkennbar und unangenehm eng der politischen Regierungslinie und dem Parteidogma entsprachen – heranzuführen, über sie zu informieren und sie maßstabbildend in ihre Urteile über aktuell entstehende Literatur einzubauen. Die Wortführung bei dieser Bewegung übernahmen – man ist versucht zu sagen: natürlich – ältere und konservative Kritiker; der älteste unter ihnen war, so erscheint es mir im Rückblick – der Bonner Romanist E.R. Curtius, der mit seinen Kritischen Essays zur europäischen Literatur von 1950 (zweite Auflage schon 1954) uns ein auch mit antiker Bildung gesättigtes Europäertum vorführte, das jedoch auch aus dem 20. Jahrhundert beredt die Wortführer der Moderne vorstellte und mit einem plaudernden ‚name dropping’ in seinem Büchertagebuch von 1951 (in Buchform 1960) mit bestechender Bildung zum Lesen anregte. Dem Alter nach folgten dann drei oder vier Kritiker, die schon ins 20. Jahrhundert gehörten, an ihrer Spitze Friedrich Sieburg, Hans Egon Holthusen und Günter Blöcker, deren Argumentations- und Urteilsgestus oft etwas von vornherein Überlegenes annahm: sie hatten als die Beleseneren und Geschmackssichereren einer verderbten oder ganz uninformierten und zugleich von neuen atemlosen bundesrepublikanischen Aktualitäten irregeleiteten Leserschaft Orientierung zu geben, Horizonte zu öffnen oder Kenntnisse zu vermitteln. Wenn diese drei Großkritiker der fünfziger Jahre etwas gemeinsam hatten, so war es die stillschweigende Überzeugung, dass Futurismus, Expressionismus und Dada längst abgetan seien, dass der Surrealismus eher eine französische Narretei und Montagetechniken eine spätexpressionistische Narretei war und dass alle Literatur, die irgendwie nahe beim Kommunismus stand oder damit in Verbindung zu bringen war, wegen eben dieser Verbindung indiskutabel war; daher auch die zögernde und nur auf dem Theater etwas lebhaftere Brecht-Rezeption in der Bundesrepublik. Und dass Heinrich Mann 1950 vorhatte, zwar nach Deutschland, aber nach Ostberlin bzw. in die DDR zurückzukehren, führte dazu, dass er bis in die sechziger Jahre auf dem westdeutschen Büchermarkt nicht verfügbar war und man sich seine Titel aus der DDR bzw. bei Berlin-Besuchen beschaffen musste). Die Plattform für die Meinungen der Literaturkritiker wurden, wie gesagt, ab den frühen fünfziger Jahren, die ein großes Zeitschriftensterben mit sich brachten – gehalten haben sich auf die Dauer nur die Frankfurter Hefte und der Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken – vor allem die großen Tageszeitungen und die Wochenzeitung Die Zeit.
Schon im Juli 1945 startete die „Frankfurter Rundschau“; im September 1945 begann in München die Süddeutsche Zeitung zu erscheinen; es folgte weniger später – am 18. Oktober 1945 – „Die Neue Zeitung“, ebenfalls in München; am 21. Februar 1946 begann Die Zeit in Hamburg, ebendort am 2. April 1946 Die Welt und als Nachzügler dann ab 1. November 1949 die Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland, und damit sind die Blätter benannt, die in Sachen Literaturkritik – so man damit, wie es in den letzten Jahren sich eingebürgert hat , das Buchbesprechungswesen meint, weniger die literarkritische Essayistik – bis heute tonangebend, ‚meinungsführend’ sind. Man muß allerdings hinzufügen, dass wenig genauere Untersuchungen vorliegen bezüglich die kurz- oder längerfristigen Einflusses von Rezensionen auf Kaufverhalten und literarisches Denken der Leser; vor allem in den Jahren ab 1948 spielte, so ist anzunehmen, zunehmend auch der Rundfunk in seinen Nachtstudio-Sendungen eine bedeutende Rolle bei der Geschmacks – und Urteilsbildung der Leser und Hörer; da durch Beschluß der Besatzungsmächte, die keinen zentralen, keinen Reichs-Rundfunk mehr wollten, fast jedes Bundesland einen eigenen Landessender bekam, hatte auch die Literaturkritik für Besprechungen und Radio-Essayistik die reichste Möglichkeit, sich gesendet zu sehen bzw. zu hören innerhalb des florierenden Rezensionsbetriebes. Die große Zahl von Landessendern mit je eigenem Kulturprogramm ist übrigens fast so etwas wie die Ermöglichung von Literatur und Literaturkritik in einem Maße, um das etwa französische Literaten die bundesdeutschen Literaten beneidet haben; die spöttische Formulierung, dass der Rundfunk als Mäzen mit seinen Honoraren ungefähr den halben Literaturbetrieb und der reichste Sender, der Westdeutsche Rundfunk, ab 1955 allein ungefähr ein Drittel des Literatur- und Rezensionsbetriebs ermöglicht habe, dürfte von der Wirklichkeit nicht sehr weit entfernt sein.
Was rückblickend auffällt an den Rezensionen der fünfziger Jahre, ist die Selbstsicherheit der Urteilsbildung und –verkündung bei gleichzeitigem Verzicht auf den Glauben, irgend etwas ‚verändern’ zu können; das ist eine Hoffnung erst der späten sechziger Jahre, in denen sogar die Literaturkritiker glaubten, durch Literaturkritik die Gesellschaft verändern zu können. Literaturkritik blieb in den fünfziger Jahren demütig-resignativ – man kann auch sagen: realistischerweise – dabei, den zur Lektüre und zur Geschmacksbildung bereiten 5 % der Bevölkerung Urteile und Informationen vortragen zu können, ohne dabei dauernd auf den Gesamtzustand der Gesellschaft und auf methodische Fragen der Urteilsfindung eingehen zu müssen. Friedrich Sieburg ließ sich vor allem auch über neue entstehenden Literatur granseigneural abwartend aus, gediegen, immer leicht ironisch und schulterklopfend, soigniert, ‚brilliant’ formulierend aus dem weiten Horizont seiner Belesenheit und bei neuer Literatur gern mit dem Unterton eines „immer langsam mit den jungen Pferden …“ des Herrenreiters; Blöcker gab mehr den geschmackssicheren Studienrat, war etwas trockener und betulicher als Sieburg, und Hans Egon Holthusen positionierte sich mehr als christlicher Existenzialist, sah den Gipfel aller kulturkritischen und dichtungstheoretischen Reflexion in den Essays T. S. Eliots und die Vollendung aller Radikalität in Gedichten Ezra Pounds, T. S. Eliots und Gottfried Benns; grundsätzlich lag er auf einer Linie der Besinnung auf ein modern-existenziell getöntes christliches Abendland, auf das wir uns doch (wieder) besinnen sollten, damit Der unbehauste Mensch, wie seine einflussreiche Essaysammlung von 1951 hieß, doch wieder zu etwas wie einem spirituellem Obdach finde. Und eigentlich hinzurechnen müsste man den etwas seltener schreibenden FAZ-Kritiker Karl Korn, der häufig unverächtlich scharfzüngige (wenn auch konservative) Rezensionen zu Büchern Arno Schmidts verfasste, und den jungen Tübinger Universitätsprofessor und Rezensenten an diversen Publikationsorganen Walter Jens, dem wir nicht vergessen wollen, dass er einer Literaturwissenschaft, die – damals viel mehr als heute – für ihre Unsicherheit gegenüber aktueller Literatur bekannt war, mit dem lebendigen Mut entgegentrat, Vorlesungen zur deutschen und ausländischen Literatur des 20. Jahrhunderts zu halten und 1958 das wahrhaft bahnbrechende Buch Statt einer Literaturgeschichte zu publizieren. Bisweilen war man als junger Leser leise beunruhigt durch die Frage, was diese Herren mit so gediegenem Bildungshintergrund und mit so fester Stimme vorgetragenen Urteilen eigentlich vor 1945 gemacht hatten: waren sie in bürgerliche Unauffälligkeit abgetaucht, waren sie einfach Soldaten gewesen? Im Exil waren sie ja wohl nicht gewesen …. Bei Gottfried Benn, dessen Rolle als literaturkritischer Stichwortgeber und Geschmacksbildner – vor allem durch seinen Marburger Vortrag Probleme der Lyrik von 1951 – man gar nicht überschätzen kann, war die Sache ja schrecklich eindeutig: 1933/34 war ihm dieser schreckliche Kollaps seiner gesamten moralischen Persönlichkeit passiert, aber in den zehn Jahre in der Verborgenheit als Sanitätsoffizier hatte er wahrhaft gebüßt. Wie perplex waren wir dann aber, als sich Sieburg als frankophiler Nationalsozialist herausstellte, der bei Botschafter Abetz in Paris sich höchst Führer-konform äußerte, und auch Karl Korn sich als einschlägig vorbelastet erwies, und schließlich Holthusen als SS-Mann der ersten Stunde; der begrüßte dann mit cäsarischer, historisch ganz groß verfügender Geste, nach Polen und in den Osten einzufallen sei eine sozusagen traditionsgeheiligte Sache (das Ganze in der protestantischen Kulturzeitschrift Eckart). Aber warum sollte es, kann man heute nur sarkastisch fragen, beim älteren Personal der Literaturkritik anders zugegangen sein als beim Rest der Bevölkerung?
Versucht man zu rekapitulieren, auf welche Weise, aufgrund welcher Lektüre und Informationen sich diejenigen, die in den fünfziger Jahren zur Literatur erwachten, ihre literarischen Präferenzen, ihre Orientierungspunkte, ihrer Vorstellung von Qualitäten und Entwicklungen der Literatur erwarben und korrigierten, so muß man gestehen, dass Literaturkritik im Sinne von Besprechungswesen in den Tageszeitungen wahrscheinlich eine geringere Rolle spielte als vielmehr Essays und Autorenpoetiken, kleine Aufsatzsammlungen oder etwa Vorträge bzw. Autorenpoetiken wie die Gottfried Benns, bei denen die Autoren selbst die Begriffe vorgaben, mit denen sie verstanden sein wollten. Solche Begriffe und Wegweisungen musste man dann revidieren; sie sprachen ja pro domo, aber die Stichworte waren sehr effektiv. Wolfgang Weyrauchs Forderung nach einer metaphern- und geschwätz-feindlichen, antikalligraphischen ‚Kahlschlagliteratur’ in der Einleitung zur Anthologie Tausend Gramm von 1949; Benns Einschätzung dessen, was ein modernes Gedicht ausmache in der Marburger Lyrik-Rede; seine wehmütige Präsentation und Begründung der Größe des Expressionismus im Vorwort zu der von ihm herausgegebenen Sammlung Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts von 1955; Bölls Verteidigung des Begriffs ‚Trümmerliteratur’, dem er auf noble Weise das Verächtliche zu nehmen verstand; Albrecht Fabris Aperçus à la Der schmutzige Daumen, seine Verteidigung der ‚Atelierkritik’ in den kurzen, absolut verdichteten, an den französischen Moralisten und am Konzept des l’art pour l’art und an Notizen Valérys geschulten Kürzestessays in den Bänden Der Mythos von Sisyphos (1952) und Der rote Faden (1958); Max Benses kühner und schneidender Entwurf einer bzw. unserer modernen Plakatwelt in den vier Essays des gleichnamigen Bandes von 1952, die alle Erbaulichkeit in der Kunst so verspotteten wie die Begriffslosigkeit der Bildungsrhetoren unter den Literaturrezensenten, sein umstandsloser Einsatz von neuen Bergriffen im ersten Band seiner Aesthetica von 1954 – solche begriffliche Entschiedenheit trug viel mehr als die Summe vieler einzelner Rezensionen dazu bei, bei den ambitionierteren jüngeren Lesern eine Ahnung davon zu entwickeln, dass Literatur eine ernsthafte Sache mit einer denkerischen, begrifflichen Seite war, eine Sache, die nicht nur Einfühlung und feinsinnige Ergriffenheit erforderte, sondern Handhabung von Konzepten und Reflexion von Termini und notfalls Erfindung ganz neuer Termini verdiente.
Das Rezensionswesen der fünfziger Jahre, dem Umfang nach zusammen mit der Produktion belletristischer Bücherstetig wachsend in diesem Jahrzehnt, war dennoch insgesamt keineswegs eine so reaktionäre und der neu entstehenden Literatur so feindliche Sache, wie oft beklagt wurde; geht man einmal die besprochene neue Literatur durch, so findet man, dass von Erich Kästner bis Ernst Kreuder, von Elisabeth Langgässer bis Hans-Erich Nossack, von Günter Eich bis Arno Schmidt es doch eine große Zahl von rezensierenden Bemühungen gab, ihren Arbeiten gerecht zu werden; allerdings war oft die Literatur kühner als die Literaturkritik. Es brauchte aber nur eben etwa fünfzehn Jahre, bis ungefähr 1960, bis die deutsche – und das soll hier vor allem heißen: westdeutsche, schweizerische und österreichische – Literatur mit den entscheidenden Teilen ihrer Produktion die Phase des Nachholens und der Neuorientierung hinter sich lassen konnte. Im Rückblick kann man wohl das Urteil wagen, dass wohl von der Literatur bis ca. 1959 nicht viel an fortdauernden Werken übrig bleiben wird; die Entstehungsumstände nach der großen Katastrophe waren zu ungünstig. Ich nehme mir heraus zu sagen: Koeppens Romane, die frühen Romane Arno Schmidts, die Gedichte Celans und einiges, sehr Weniges weiter; fast am Ende des Jahrzehnts dann Gerhard Rühms „die frösche“ – dies sind die Werke, die durch ihren hohen Grad an Innovation in die Zukunft deuten und ein Bewußtsein davon zu haben scheinen, dass eine radikal veränderte Wirklichkeit andere Darstellungstechniken sich erfinden muß. Danach, nach 1959, wurde dann ein ganz anderes Kapitel aufgeschlagen, das des großen Umbruchs in den Jahren 1959 bis 1962, der die Literaturkritik vor ganz andere Herausforderungen stellte, politische wie auch solche, die Verfahren und Materialien einer der Zeit adäquaten Literatur völlig neu zu durchdenken zwangen.
Am Anfang dieser Nachkriegs-Epoche unserer Literatur und Literaturkritik steht 1948 Alfred Anderschs großer Essay Deutsche Literatur in der Entscheidung. Ein Beitrag zur Analyse der literarischen Situation, ein erstaunlich gut informierter und weitsichtiger Beitrag des Autors, der nicht krampfhaft nach dem Neuesten sucht, sondern die Autoren aus der Emigration wie aus der Inneren Emigration abwägend nach Rang und Entwicklungsmöglichkeiten einzuschätzen versucht; fast alle Einschätzungen Anderschs sind bis heute zumindest eingehende Diskussion wert. Andersch hat danach dann als Redakteur der literatur- und kulturkritischen Sendungen des Hessischen Rundfunks ab 1948, dann beim NWDR in Hamburg und später beim Nachtstudio des Süddeutschen Rundfunks in Stuttgart bei der Prägung des intellektuellen Niveaus des westdeutschen Rundfunks und bei der Förderung von Autoren vielleicht – wie manche meinen – mehr geleistet denn als Autor eigenen Rechts. Und am Ende dieses Jahrzehnts von Literaturkritik steht dann Theodor W. Adornos Essay-Sammlung Noten zur Literatur von 1958, worin auf einem ganz neuen Niveau über den Essay als literarische Form, über Lyrik und Gesellschaft und über Paul Valéry als den ‚Statthalter’ einer der Aktualität nicht verpflichteten Art von Künstlertum beschreibt, damit auch eine Theorie der Kunst in einem Zeitalter der Entfremdung zum ersten Mal in Deutschland setzt und damit einem literaturkritischen Diskurs eröffnet, der durch die sechziger und siebziger Jahre weitergeht. Ein solcher Diskurs, übrigens nicht von einem der im Land gebliebenen Literaturkritiker angestoßen, sondern von einem aus dem Exil heimgekehrten Kulturkritiker initiiert, datiert schon aus dem Jahr 1949; schon damals formulierte Theodor W. Adorno den dann erst 1955 in dem Band Prismen publizierten Essay „Kulturkritik und Gesellschaft“, in dem sich der abgründige, verdiktähnliche, aber eine legitime und eine tiefe Frage an alle Kunst nach Auschwitz formulierende pointierte Satz findet, der bis heute in vielen Diskussionen und Auslegungen von Texten mitschwingt oder offen herangezogen (und meist falsch oder verkürzt) zitiert wird: „ … nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ Zehn Jahre nach Kriegsende gedruckt, fragt dieser Satz danach, ob es denn möglich sei, nach dem Zivilisationsbruch des nazistischen Völkermords nach einem kleinen pietätvollen Schweigen einfach mit dem Kulturbetrieb wie gehabt weiter zu machen, also etwa auch das äußerste Grauen zum Kunstwerk zu machen und Genuß daraus zu schöpfen, eine ästhetisch-moralische Frage, die Adornos später nach erweiterte bzw.modifizierte zu der Frage, ob sich denn überwältigendes massenhaftes Morden überhaupt künstlerisch in einer verantwortbaren Komplexität darstellen lasse; er war dabei nicht weit entfernt von Friedrich Dürrenmatts 1957 in einer Diskussion gestellten Frage, „ob diese Welt überhaupt noch in einem Theaterstück wiedergegeben werden könne und ob nicht eine Epoche heraufkomme, die keinen Dichter mehr brauche.“ Weit bescheidener, theoretisch weniger anspruchsvoll, aber sehr belebend und konstruktiv wirkte zudem eine „literarische Streitschrift“ (Untertitel), die Karlheinz Deschner 1957 publizierte: Kitsch, Konvention und Kunst warf drei Stichworte ins literarische Publikum und stellte zum ersten Mal ernsthaft die Frage nach der Kategorie „Kitsch“ in der Literatur, welche doch auch in Gymnasien und der Öffentlichkeit gepriesen wurde, den Büchern von Hesse und Carossa vor allem, die er eben dem Kitsch oder doch wenigstens der puren literarischen Konvention zuzurechnen polemisch empfahl, und diesen Autoren stellte er die damals in Deutschland noch wenig rezipierten Prosaautoren Robert Musil, Hermann Broch und Hans Henny Jahnn. Diese Polemik fand ein großes und begeistertes Echo; weniger der Begrifflichkeit Deschners nach als vielmehr in der gefühlten Lebenswirklichkeit junger Leser, die das Schwächlich-Poetische der Hesse und Carossa vage spürten, hatte das schlagende Evidenz, und intensiv, wenn auch ungenau stellte sich vor allem die Frage nach der Angemessenheit solcher Sprache spätromantischer Besonntheit und Innerlichkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und viele jüngere Leser schöpften gewissermaßen Verdacht.
Symptomatisch erscheint schließlich, dass Peter Weiss’ Prosastück Der Schatten der Körpers des Kutschers, 1952 im Stockholmer Exil geschrieben, gezeichnet von den Fremdheitserfahrungen des Exilanten Weiss, der sich erst wieder der Möglichkeit und Fähigkeit, in deutscher Sprache zu schreiben, quälend versichern musste, nicht zu denken ohne die Kenntnis der Collageromane Max Ernsts und der Erzähltechniken Kafkas und des Surrealismus, machte dieses Manuskript acht Jahre lang die Runde über die diversen Verlags- bzw. Lektorenschreibtische, bis es schließlich in Teilen in der Anthologie movens, die 1960 im Limes Verlag erschien, abgedruckt und dann auf dringende Empfehlung Hans Magnus Enzensbergers im Suhrkamp Verlag bibliophil als sogenannter ‚Tausenddruck’ ganz publiziert wurde. Der Text war dem durch das Dritte Reich lädierte Urteilsvermögen auch qualifizierter deutscher Leser voraus; es brauchte eine Nachholfrist von anderthalb Jahrzehnten, bis deutsche Lektoren und Literaturkritiker einigermaßen mit dem Buch zurechtkamen und seinen Rang erkannten. Zwischen 1959 und 1962 zeigte sich dann, dass die unmittelbare Nachkriegszeit in der deutschen Literatur vorbei war: es erschienen geradezu geballt eine ganze Gruppe von neuen Büchern ganz anderen Schlages: Günter Grass’ Die Blechtrommel 1959, Uwe Johnsons Mußmaßungen über Jakob 1959, Franz Mons artikulationen 1959 , Helmut Heissenbüttels Textbuch 1 1960, Peter Weiss’ Der Schatten des Körpers des Kutschers 1960, Arno Schmidts Kaff auch Mare Crisium 1960, kurz danach Alexander Kluges Lebensläufe, und noch 1960, wie schon genannt, die Anthologie movens, die nun wieder besagter Hans Magnus Enzensberger im selben Jahr in einer Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Produkt der ‚movens-Bande’ verhöhnte. Er ist einer der gewitztesten Kulturkritiker der Nachkriegsliteratur und durch die Essays der Einzelheiten von 1962 einer, der auch unseren literarischen Blick geschärft hat, aber bis heute ist er eigentlich ästhetisch reaktionär, muß man leider sagen.
Jörg Drews: Den Anschluss finden. (West-)Deutsche Literaturkritik 1945 bis 1955. In: Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland. Hg. von Helmut Böttiger, Bernd Busch, Thomas Combrink unter Mitarbeit von Lutz Dittrich. Göttingen (Wallstein), 2009. 2 Bde.