Jörg Drews: Ein Gedicht als Entwurf des idealisierten Selbst
Zu Gottfried Benns „Wer allein ist – “
In Dankbarkeit für einen Brief,
den mir Helmut Heißenbüttel
im Sommer 1960 schrieb.
Und nicht nur dafür.
Erscheint ein Traum besonders vernünftig, geschlossen, unauffällig, ‚realistisch’, so suche man – dies die psychoanalytische Regel – nach der Stelle, wo der Traumtext doch eine kleine Auffälligkeit, einen Sprung, eine Verwerfung, ein rätselhaftes Moment zeigt. An welcher Stelle hat die sekundäre Bearbeitung die Oberfläche nicht ganz geschlossen, die innere Stimmigkeit doch nicht ganz überzeugend dargestellt? Zwei solcher ‚Stellen’ scheint mir Gottfried Benns Gedicht „Wer allein ist – “ zu haben, mindestens zwei:
Wer allein ist –
Wer allein ist, ist auch im Geheimnis,
immer steht er in der Bilder Flut,
ihrer Zeugung, ihrer Keimnis,
selbst die Schatten tragen ihre Glut.
Trächtig ist er jeder Schichtung
Denkerisch erfüllt und aufgespart,
mächtig ist er der Vernichtung
allem Menschlichen, das nährt und paart.
Ohne Rührung sieht er, wie die Erde
Eine andere ward als ihm begann,
nicht mehr Stirb und nicht mehr Werde:
formstill sieht ihn die Vollendung an.[1]
Da ist zunächst einmal eine Art logischer Fehler, besonders deutlich zu greifen in der ersten Strophe. Fragen wir im Zusammenhang der Benn’schen Kunsttheorie: Kann Benn meinen, daß jeder, der „allein“ ist, damit automatisch „im Geheimnis“ sei, also durch die bloße Tatsache der Vereinsamung Zugang zum „Geheimnis“, zu Sphären tieferer Einsicht und höherer Weihe habe? Betrachtet man, was in der Folge in dem Gedicht dem Einsamen an Fähigkeiten zugesprochen, zuphantasiert wird, so erweist er sich nicht als ein „jeder, der“, sondern als Künstler; der verallgemeinernde Denkansatz wird verräterischerweise sofort verengt auf das Benn’sche Ich, das zur Künstler-Imago hypostasiert wird; wer mehr weiß als die anderen, wird und muß auch mehr allein sein als die andern: das klingt wie Trotz und Trost.
Zweitens aber fällt auf, daß diesem Künstler-Ich, das da „allein“ ist, „denkerisch“, „aufgespart“, „ohne Rührung“ und allem „Stirb und Werde“ abgewandt, doch die Epitheta „trächtig“ und „erfüllt“ beigegeben werden, und daß dieses Ich inmitten einer „Flut“ von „Zeugung“ und „Keimnis“ steht und offenbar als auf paradoxe Weise dieser Sphäre und Fähigkeit von „Zeugung“ und „Keimnis“ teilhaftig gesehen wird. Dieses Ich scheint sich einerseits abzugrenzen von jedem „Menschlichen, das nährt und paart“, doch gerade in seiner geistigen Existenz spricht es sich in einem anderen Sinn die Fähigkeit von „Zeugung“ zu, reklamiert für die Seite des Formenden und Denkerischen doch auch eine geradezu vegetative Fruchtbarkeit. Da scheint ein ungeschlichteter Konflikt vorzuliegen, abzulesen an einer Art seitenverkehrter Bildwahl des Gedichts: der künstlerische Geist sieht seine Schöpfung als „formstill“, als starr und zeitenthoben, dennoch entstammen die diese Schöpfung konstituierenden „Bilder“ dem Bereich von Gestaltung, Umgestaltung, Vergänglichkeit, Flut und Verfließen.
Und drittens ist der Widerspruch zu notieren, daß dieses Gedicht vom „formstillen“ Kunstwerk spricht, hart und fast verkniffen dem Künstler eine Haltung „ohne Rührung“ zuschreibt, das Menschliche verhöhnt und die „Vollendung“ preist, daß aber Gottfried Benn selbst diese Gedicht, wie zwar vom Text nicht unbedingt nahegelegt wird, aber auf alten Plattenaufnahmen zu hören ist, weich, voller Emotion, fast schluchzend spricht.
Das scheinen mir Hinweise genug dafür zu sein, daß das Gedicht psychoanalytisch gelesen werden kann als ein Phantasma, daß konfligierende Strebungen zu inkorporieren und zu beruhigen versucht, als Schlachtfeld, auf dem mit Mühe etwas in Schach gehalten wird, nicht ohne verräterisches Tremolo, aber mit einer „Haltung“ die Benn so schätzte und zu der der preußische Offizier, in dessen Stand Benn 1936, als dies Gedicht entstand, ja „aristokratisch“ als Stabsarzt emigriert war, verpflichtet ist. Wovon das Gedicht spricht, ist aus den Implikationen und den Oppositionen des manifest Gesagten zu erschließen: „Wer allein ist, ist auch im Geheimnis“ – wer unter vielen ist, ist in der Profanität, wer in der Menge ist, ist in der Oberflächlichkeit: odi profanum vulgus et arceo. Einsamkeit aber gehört sozusagen zum Glorienschein des Künstlers. Und nehmen wir noch einmal die Epitheta „aufgespart“, „ohne Rührung“ und „formstill“: ihnen stehen im Benn’schen Vokabular, in den Benn’schen Denkbildern ein „Sich verströmen“, eine „Träne“, auch die „Geschichte“ gegenüber, also Bilder des Sich-Verausgabens, des Affektiven, der Vergänglichkeit und des sinnlosen Sich-Weiterwälzens in Natur und Historie. Benn selbst spricht sein Gedicht zutiefst bewegt, obwohl er doch auf der Ebene des manifesten Inhalts des Phantasmas behauptet, „ohne Rührung“ zu sein.
Unter solchem Blick zersetzt sich das scheinbar so gefaßte und „formstille“ Gedicht, wird die Form als Ideologie und die Abstraktion als Abwehr deutlich: das „Geheimnis“, die „Schichtung“, die „Vernichtung“, die „Vollendung“ sind Verflüchtigungen dessen, was den Sprechenden in Verlegenheit bringen, entblößen würde, müßte er es konkret benennen. Der Analysand sagt „man“ und meint „ich“, will das aber nicht sagen; die weihevolle kunsttheoretische Abstraktheit ist die Vermeidung einer Deutlichkeit, die peinlich wäre. Denn als Versuchung des harten, „Haltung“ bewahrenden Ich taucht dann einerseits die Natur, das Vegetative, das Mütterliche auf, auch die Trauer über dessen Vergänglichkeit, und nicht zuletzt das Konturenlos-Feuchte, vielleicht das Schmutzige der prokreativen Sphäre, das – wie gesagt – abgewehrt wird, abgewehrt und herabgesetzt werden muß. Als Ideal dieses Ich aber erscheint andererseits ein Zustand, der von schmerzfreier Starre ist, unangreifbar, emotionsenthoben – und damit auch der Enttäuschung enthoben: „Vollendung“ ist nicht mehr angreifbar, ist gegen Zerstörbarkeit gefeit, gibt sich keine Blöße mehr. „Form“ ist zu lesen als das Gegenteil des Zulassens eigener Gefühle, die das Ich überwältigen könnten, nicht unähnlich übrigens der Uniform, die in Hermann Brochs Pasenow oder die Romantik den chaotisch fühlenden und vor seinen Gefühlen sich ängstigenden Leutnant Pasenow zusammenhält.
Damit sind wir an dem Punkt, wo das Gedicht als Kompensation einer Situation zu lesen ist, in der Benn so allein war wie vielleicht nie zuvor. Seine Arztpraxis in Berlin hatte er aufgeben müssen, in Hannover lebte er als Militärarzt isoliert und als Untermieter in schäbigen Verhältnissen, im Mai 1936 griffen ihn anläßlich seines 50. Geburtstags das Schwarze Korps und der Völkische Beobachter an, in diesem selben Mai beunruhigte ihn das unvermutete Auftauchen einer Erbkrankheit seiner Familie bei seiner jüngeren Schwester – dies alles Auslöser von Phantasien, in denen er sich und seine Gedichte ansiedelte im Bereich des „Gegenglücks“, des „Geists“, wie es in dem Gedicht „Einsamer nie – “ heißt, das er, als er wieder publizieren konnte, 1948 auf der dem Gedicht „Wer allein ist – “ gegenüberliegenden Seite des Bandes „Statische Gedichte“ anordnet:
Einsamer nie –
Einsamer nie –, als im August:
Erfüllungsstunde , im Gelände
die roten und die goldenen Brände,
doch wo ist deiner Gärten Lust?
Die Seen hell, die Himmel weich,
die Äcker rein und glänzen leise,
doch wo sind Sieg und Siegsbeweise
aus dem von dir vertretenen Reich?
Wo alles sich durch Glück beweist
und tauscht den Blick und tauscht die Ringe
im Weingeruch, im Rausch der Dinge –:
dienst Du dem Gegenglück, dem Geist.[2]
In einer Volte versucht er die Dekadenz der „Rasse am Ende der Bahn“, seiner und seiner Familie als einer physisch verfallenden, zu adeln: „Leben“ wird als „niederer Wahn“, als „Traum (!) für Knaben und Knechte“[3] denunziert. „Form“ aber wird jenen „Statuen“ gleichgesetzt, die allein die „Saat“ „bergen“, also die schöpferischen Resultate dessen retten, der sich nicht verströmt, sondern sich „aufspart“. Und auch Benns Briefe jener Wochen im Sommer 1936 sind voller Formulierungen, die sich ähnlichen Vokabulars und ähnlicher Denkfiguren bedienen wie die Gedichte. Schon 1912 hatte Ernst Stadler anläßlich von Benns erstem Gedichtband Morgue konstatiert, in Benns Gedichten herrsche „eine unbeteiligte Sachlichkeit“, hinter der aber „ein starkes mitleidendes Gefühl steht, eine fast weibliche Empfindsamkeit und eine verzweifelte Auflehnung gegen die Tragik des Lebens und die ungeheure Gefühllosigkeit der Natur“[4]; 1936 aber enthalten in Benns Imagination die gefühllosen „Statuen“ jene „Saat“, die die Fortzeugung, Fortpflanzung, jenes Säen und Gebären zugleich sind und negieren, dem die Sehnsucht und die Abwehr Benns gilt:
Form nur ist Glaube und Tat,
die erst von Händen Berührten,
doch dann den Händen entführten
Statuen bergen die Saat.[5]
„Es wird nicht ausbleiben können“, schreibt er an Oelze[6], „die Erkenntnis, daß nur der Geist lebt, trächtig ist … Und wenn es immer nur wenige sind, die es wissen, diese wenigen werden sein. Und was wollen Sie, sollten es denn viele wissen? … Alle die armen Hunde, die leben müssen u. Weib u. Kund erhalten …“ Und analog zur Abwehr des seinerseits ironisch Goethes „Selige Sehnsucht“ zitierenden „Stirb und Werde“ im Gedicht „Wer allein ist – “ bezeichnet er den Geist und die „Formgebung“ als „das Prinzip bewußter antinaturalistischer Funktion“ und nennt „die Goethesche Grundhaltung sehr tellurisch, mütterlich, uterin, noch nicht die Stirn-höhle des 20. Jahrhunderts.“[7] „Tellurisch, mütterlich“ setzt Benn hier übrigens synonymisch nebeneinander und legt damit den Gedanken nahe, daß die „Erde“, die er „ohne Rührung“ sich verändern sieht, emotional aufgeladen ist wahrscheinlich durch die Erinnerung an seine Mutter, deren Nähe zu Pflanzen und Tieren er immer wieder erwähnt und deren Sterben ihn so bewegte, daß er sich dagegen panzern mußte.
Dem Goetheschen, ‚naturhaften’ Künstlertyp stellt er, das Selbstporträt verallgemeinernd, einen Künstlertypus gegenüber, dessen Produktivität er eben jene Fruchtbarkeit zuschreibt, die er doch abwehren möchte, und dessen Produkte so fühllos und belebt sind, wie er selber ist und es sich nicht eingestehen möchte. Denn die „Vollendung“, das Vollendete, das er schuf, blicken ihn in der letzten Strophe von „Wer allein ist – “ an, als seien sie wie sie selbst oder wie er sich selbst wünscht: „formstill“ und zugleich beseelt. Im distanzierten Selbstporträt werden Einsamkeit und Verzicht auf Kommunikation und Hingabe weg-objektiviert und glorifizierend verdinglicht: das künstlerische Objekt wird zum idealisierten Aspekt seines Selbst, zum objektbeziehungslosen Entwurf seiner selbst, triebfrei und stillgestellt. Abhängigkeit, die mit Angst besetzt ist, wird in den „Formen“ und „Statuen“ wunschhaft verkehrt zu Selbstrepräsentanzen, die für Allmachtsphantasien und Unabhängigkeitsphantasien stehen; geradezu ergriffen von den vollbrachten Abwehrleistungen spricht das Ich des Gedichts zelebrierend und halluzinierend von regressiven Sehnsüchten und von strengen Idealen zugleich: es möchten Unverletzlichkeit, Makellosigkeit und Autarkie ebenso erreicht sein wie die Möglichkeit, alle Emotionalität zu leben und auszudrücken.
„Thema meiner Untersuchung ist nicht die dichterische Form, sondern die Phantasiewelt Benns, die ich als Kundgabe tiefer Wünsche sehe“, schreibt Oskar Sahlberg in seinem Buch über Gottfried Benns Phantasiewelt,[8] doch eben diese Trennung zwischen Form und Inhalt müßte eine psychoanalytische Lektüre des Gedichts überwinden, die deren Dialektik begreift. Gerade die beschwörende Fetischisierung der „Form“ ist als Abwehrvorgang zu begreifen, der den Inhalt leblos machen möchte. „Das … Ich sucht für seine Selbstliebe ein Asyl zu finden, wo ihm der Verfolger nichts anhaben kann. Das ist ihm vortrefflich gelungen, wenn er seine Phantasien, also einen Teil des Ich und sogar denjenigen, der dem Verdrängten und Verpöntem am nächsten steht, soweit veredelt, daß dieser Teil dem Ich-Ideal, also dem Richter, in dessen Diensten der Büttel ‚Gewissen’ steht, annehmbar und sogar wohlgefällig wird.“[9] Annehmbar ist dieses objektivierte, zum von sich weghaltbaren Gegenstand gewordene Ich-Ideal, wenn es mehreren Zielen der von Kämpfen durchtobten Psyche des Autors eine Erfüllung bietet, wenn es also Rechtfertigung von Einsamkeit und Entsagung und zugleich Erfüllung von Sehnsüchten ist, wenn es lebendig und lebensenthoben, Refugium für Emotion und frustrationssicher zugleich ist. Eine solche Funktion erfüllte für Benn das Kunstwerk; es ist der Ort, wo „selbst die Schatten“, das Tote, das psychisch und lebensgeschichtlich Frühe noch lebendig ist, noch „Glut“ hat und wo es als Werk, „das ja nur ein Stück dieses Ich ist“[10], zugleich narzißtisch unangreifbar, unabhängig, ungefährlich lustvoll erlebbar ist und auch die Gewißheit gibt, daß es unter dem Aspekt der Überzeitlichkeit eben doch Kommunikation mit der Welt ermöglicht, Liebeszuwendung und Wohlgefallen bei einem imaginären Leser erregt. So bildet aber gerade jene „Form“, die Bändigung des konfliktreichen Widerstreitenden, die Fassade, „die zwar selbst eine vorläufige Lustprämie, wir nennen sie ‚Vorlust’ bietet, deren eigentlicher Zweck aber darin besteht, daß unter ihrem Schutze die aus dem Unbewußten stammende Lust, die Endlust, unbemerkt und straflos genossen werden kann.“[11] Diese Endlust aus dem Unbewußten, mobilisiert in einen Moment des Benn’schen Lebensprozesses, in dem die von ihm gewählte „aristokratische Form der Emigration“ als ihrerseits höchst zweideutige gerechtfertigt werden mußte, ist die Onanie als Kompromißbildung: Lust, die die Möglichkeit der Zeugung in sich trägt, sich aber unkommunikativ „aufgespart“ verhält und narzißtisch in etwas sich niederschlägt und ideologisiert, was doch zwar nicht momentan, aber grundsätzlich auf späteren Beifall abzielt: im Kunstwerk. Diese erhoffte Liebeszuwendung erhielten die Gedichte Benns dann später, als sie, in Vers und Reim gebrachte Evangelien für „Artisten“ und andere einsam und heroisch sich Fühlende, in dem Band „Statische Gedichte“ 1948 publiziert wurden und die zweite Phase von Benns Ruhm einleiteten.[12]
[1] Gottfried Benn, Statische Gedichte. Zürich (Arche) 1948, S. 57
[2] Statische Gedichte, S. 56.
[3] Vgl. das Gedicht „Leben – niederer Wahn“, Statische Gedichte, S. 66
[4] Cahiers Alsaciens I, 1912
[5] Statische Gedichte, S. 66
[6] Gottfried Benn, Briefe an F. W. Oelze 1932 – 1945. Wiesbaden/München (Limes) 1977, S. 110
[7] Briefe an F. W. Oelze 1932 – 1945. Wiesbaden/München (Limes) 1977, S. 110
[8] Oskar Sahlberg, Gottfried Benns Phantasiewelt. München (edition text + kritik) 1977, S. 110
[9] Hanns Sachs, Gemeinsame Tagträume (1924). In: W. Beutin (Hrsg.) Literatur und Psychoanalyse. München (Nymphenburger Verlagshandlung) 1972, S. 75
[10] Hanns Sachs, a. a. O., S. 74
[11] Hanns Sachs, a. a. O., S. 73
[12] Über die Faszination, die gerade Benns Gedichte aus den dreißiger und vierziger Jahren bei der Generation derer ausübten, die in den fünfziger Jahren sich in die Literatur hineinzulesen begannen, vgl. meinen kleinen Text „Gottfried Benn: Wer allein ist – “, in: Der Reiz der Wörter. Eine Anthologie zum 150jährigen Bestehen des Reclam-Verlags. RUB 9999. Stuttgart 1978, S. 52 – 56
Jörg Drews: Ein Gedicht als Entwurf des idealisierten Selbst. Zu Gottfried Benns „Wer allein ist – “. In: Aus Wörtern eine Welt: zu Helmut Heißenbüttel. Portrait I. Frankfurt am Main 1981, S. 159 – 165.