Jörg Drews: Unser Bach – unser Hitler
Nach 53 Jahren wieder in Deutschland: Bilanz des Psychoanalytiker-Kongresses in Hamburg
Nicht nur beeindruckt, sondern gar begeistert von einem wissenschaftlichen Kongreß zu berichten, gehört sich nicht. Der 34. Kongreß der International Psychoanalytical Association in Hamburg war aber kein gewöhnlicher Kongreß. Es war der erste auf deutschem Boden seit dem Ende des Nazi-Regimes, das die jüdischen Psychoanalytiker ins Exil getrieben hatte – einschließlich ihres Begründers –, das Millionen von Juden ermordete und die Psychoanalyse als Wissenschaft verfemte. Angesichts dieser Vergangenheit konnte die Tagung von vornhinein nicht einfach als ein weiterer psychoanalytischer Fachkongreß ablaufen, wenngleich sie das auch war, sogar in einem die Teilnehmer offenbar sehr befriedigenden Maße, mit Falldarstellungen und theoretischen Diskussionen auf einem meist sehr hohen Niveau.
Schließlich versteht ein sehr beträchtlicher Teil der in Hamburg lebenden Analytiker die Psychoanalyse nicht nur als eine Theorie und Therapie der individuellen Psyche, sondern bezieht deren aufklärerische Aufgabe auch auf die Erkenntnis der psychodynamischen Aspekte des Politischen und Gesellschaftlichen, sowohl was die Vergangenheit in Deutschland angeht wie auch die angesichts jener apokalyptischen Katastrophe, die in der Gegenwart und in Zukunft nicht nur ein Volk, sondern die ganze Menschheit bedroht.
Der Kongreß brach unter der Last seiner Aufgabe nicht auseinander, verlief vielmehr ermutigend und bewegend, in den besten Traditionen einer Wissenschaft, die weiß, daß man das Reifen emotionaler und intellektueller Entwicklungen nicht forcieren kann, daß aber dem Verdrängen, Vergessen, Verleugnen als der sicheren Ursache späterer seelischer und sozialer Fehlentwicklungen mit behutsamer Offenheit entgegengearbeitet werden muß.
Die Mehrzahl der Vorträge und Arbeitsgruppen beschäftigte sich mit dem Begriff und Phänomen der „Identifizierung“ unter klinischen und theoretischen Aspekten. Eindrucksvoll an den Darstellungen von „Identifizierung und ihren Schicksalen“ in den Lebensgeschichten von Patienten war einmal, welchen Differenzierungsgrad inzwischen die Psychoanalyse erreicht hat, wie wenig sie noch dem gleicht, was sie in den Anfängen war, und erst recht dem, was die Öffentlichkeit, die mit den als gesunkenes Kulturgut zu ihr gelangten Begriffen wie „Ödipus-Komplex“ locker hantiert, sich darunter vorstellt. Der Reichtum an klinischem Material der sorgfältige Umgang mit dessen Interpretation, und das heißt vor allem: die offene Darlegung verschiedener Theorien und Erklärungsmodelle, auch das Eingeständnis von begrenzten therapeutischen Erfolgen und gar Fehlschlägen – das alles läßt die Kritik an der Psychoanalyse als einer wissenschaftlich veralteten, dogmatischen, selbstgerechten Disziplin schlankweg uninformiert erscheinen, wenn nicht einfach böswillig.
Bizarre Lebensbilder
Ich hatte den Eindruck, daß die Patienten, von denen berichtet wurde, in einem Maße ernstgenommen werden, das in vielen Heilberufen selten geworden ist. Und überdies waren die „klinischen Vignetten“, die im Verlauf der Erörterungen von pathogenen Identifizierungen bei Perversionen und Psychosen, in der Kindheit und in der Adoleszenz entworfen wurden, so plastisch und spannend, eröffneten so abgründige Blicke auf die bizarren Leidensbilder der menschlichen Psyche, daß damit kaum ein Stück Literatur von heute konkurrieren kann.
Daß dann am zweiten Tag das Thema „Identifizierung und ihre Schicksale in Beziehung zum Nazi-Phänomen“ erörtert werden konnte, ohne daß man schwere Beeinträchtigungen der Atmosphäre befürchten mußte, weil an alte Wunden gerührt wurde, ist vor allem zwei Rednern der Eröffnungsveranstaltung des Kongresses zu verdanken, dem Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi und der Pariser Analytikerin Janine Chasseguet-Smirgel. Allein schon, daß Frau Chasseguet-Smirgel ihre Ansprache auf deutsch hielt und Verse des deutschen Dichters und Exilanten Heinrich Heine über sein melancholisches Unbehagen bei einer Rückkehr nach Hamburg zitierte, war eine in ihrer Wirkung kaum zu überschätzende Geste.
Klaus von Dohnanyi aber identifizierte sich – ohne sich anzubiedern bei den Analytikern aus dem Ausland – mit unserem Land: Er wußte, daß er in diesem Moment als Deutscher sprach und also auch für die deutsche Vergangenheit einstehen mußte, obwohl er nach Herkunft, Alter und politischer Gesinnung keine Schuld trägt, wußte, daß Deutschland für einen Deutschen nicht teilbar sein darf. Daher der Satz: „Wer sagt: unser Bach und unser Beethoven, der muß auch sagen: unser Hitler.“ Und weiter: Faschistische Regierungen gab und gebe es auch in anderen Ländern, den Holocaust aber habe es nur in Deutschland gegeben, also müsse er wohl etwas mit Deutschland zu tun haben, aber die Hinweise auf den autoritären Charakter der Deutschen würden „nicht ausreichen, um auch nur die Peripherie von Auschwitz zu begreifen. Ich weiß auf die Frage nach der Ursache, der deutschen Ursache, keine Antwort.“
Adam Limentami, der scheidende Präsident der International Psychoanalytical Association, Italiener von Geburt, in London lebend, war aufs tiefste berührt von der Art, wie Deutsche und vor allem Klaus von Dohnanyi auch sprechen können. Das soll sagen: Wir Deutschen wissen oft kaum, wie tief noch immer, und auch bei Wohlmeinenden, jene Vorbehalte sitzen, deren Ursache jene deutschen Taten sind, die vor 40 und 50 Jahren begangen wurden. Daß da etwas in Bewegung geraten ist, daß ein paar hundert Leute – von Norwegern, deren Angehörige im KZ verschwanden, bis zu amerikanischen Juden – ihre Vorstellungen von Deutschland zu revidieren begannen, wiegt außerordentlich schwer.
„Es ist doch eine Schande, daß man 40 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg noch durch ein KZ stapfen muß“, soll vor einiger Zeit ein hoher politischer Beamter in Bonn gesagt haben. Der Widerlegung des dem zitierten Satz zugrundeliegenden Wunschdenkens, die Zeit heile alle Wunden, galten die Erörterungen der psychischen Spätfolgen von Verfolgung und KZ-Aufenthalt im Dritten Reich. „Unaufgelöster Kummer“, „wortlose Trauer“, „Unfähigkeit, sich zu freuen“ und „Mißtrauen“ sind vier Charakteristika dessen, was der aus Deutschland stammende New Yorker Psychoanalytiker William Niederland Mitte der sechziger Jahre als das „Survivor Syndrome“, als „Überlebenden-Syndrom“ untersucht und benannt hat. Inzwischen wissen wir aber, daß nicht nur bei vielen Überlebenden ihre Erlebnisse Traumata hinterlassen haben, sondern daß es sogar eine „transgenerationelle Weitergabe von Traumata“ gibt, daß die seelischen Verletzungen buchstäblich noch die Kinder und Kindeskinder der Verfolgten heimsuchen können.
Wortlose Trauer
Hillel und Kogan aus Jerusalem und David Rosenfeld aus Buenos Aires trugen Fallberichte vor, aus denen deutlich wurde, wie die Verarbeitungs- bzw. Nicht-Verarbeitungsmechanismen und die Weitergabe der seelischen Verstümmelungen funktionieren. Ein Beispiel: Eine Frau, dem KZ entkommen, gebiert 1946 eine Tochter, die sich einerseits mit ihrer Mutter als Opfer identifiziert, zugleich aber Phantasien entwickelt, in denen sie sich mit dem Aggressor, also den deutschen Wachmannschaften identifiziert. Sie entwickelt schwere Identitätsstörungen depressiver Art, die sie an ihr Kind weitergibt, das nun als gestört und schwer erziehbar gilt.
Eine „Verschwörung des Schweigens“ scheint es überdies nicht nur auf der Seite der Verfolger gegeben zu haben. Auch die Überlebenden konnten, aus anderen Gründen, häufig nicht über das Erlebte sprechen, etwa weil die Angst, davon beim Wiederholen überwältigt zu werden, zu groß war, das Entsetzen und die Erfahrung der Demütigung nicht zu bewältigen waren, oder auch, weil das Überleben Schuldgefühle hervorrief: Warum habe ich überlebt und andere, Familienmitglieder und Mit-Häftlinge, nicht? Das zeugte wiederum die Unfähigkeit, aktiv und konstruktiv zu trauern, dies dann eine vage, aber intensive Depressivität. Teile der Identität wurden dann auch bei Kindern von Opfern „abgekapselt“: Erst in der Analyse kommt dann zum Beispiel plötzlich zutage, daß jemand nicht Mario, sondern Moses heißt …
Dienlich für die psychoanalytische Erkenntnis des Phänomens Nationalsozialismus wären aber vor allem die Geschichten der Täter, der überzeugten Anhänger und der Mitläufer gewesen – und die kommen nicht als Patienten in die Analyse. „Was damals recht war, kann heute nicht unrecht sein“, hatte bekanntlich einer von ihnen vor einigen Jahren gesagt. Der Satz bezeichnet das Problem: Die an hoher oder niederer Stelle Verbrechen begangen haben, müßten fähig sein, eine so massive Diskontinuität ihrer Identität zu ertragen, müßten so tiefgehende alte Identifizierungen revidieren, daß sie die groteskesten Verdrängungsmanöver vorziehen oder ganz einfach schweigen und nach außen so tun, als sei nichts – buchstäblich nichts – gewesen.
Die Täter kommen nicht
Psychoanalyse als eine Theorie und Forschungsrichtung, die nicht auf den klinischen und therapeutischen Einzelfall sich konzentriert, war in Hamburg schwach vertreten, nicht zuletzt deshalb, weil die Psychoanalyse den gesellschaftstheoretischen und gesellschaftskritischen Impuls ihrer frühen Jahre eingebüßt hat. Einzig der amerikanischer Analytiker Mortimer Ostow benannte dieses Manko in seinem Referat. Er nahm die Redeweise von den „apokalyptischen“ Schrecken des Dritten Reiches beim Wort und untersuchte das Denken in Kategorien der totalen Reinigung der Welt vom Bösen und der einer Katastrophe folgenden Erneuerung der Welt in dessen psychologischen, bis ins Psychotische reichenden Dimensionen. Bemerkenswert war dabei, daß er an die Analytiker appellierte, sie sollten sich in der Gegenwart um das „apokalyptische Denken der Machthaber unserer Gesellschaften“ kümmern, dies benennen und ihnen „in den Arm fallen“, bevor sie zu handeln anfingen.
Ein nicht geringer Teil der in Hamburg versammelten Analytiker scheint dies als Aufgabe schon wahrgenommen zu haben. 300 Teilnehmer versammelten sich an einem Nachmittag außerhalb des Kongreßgebäudes, unter ihnen der neugewählte Präsident der International Analytical Association, der Amerikaner Robert S. Wallerstein, und hörten den Vortrag von Hanna Segal (London), die als Mitglied der „Internationalen Psychoanalytiker gegen den Atom-Krieg“ beim Namen nannte, was uns droht: eine Apokalypse, die wörtlich und total sein wird und nach der nichts mehr zu analysieren bleibt. Die beschönigende Sprache des Atomzeitalters („atomarer Schlagabtausch“), unsere Verleugnung der Gefahr, unsere Größenphantasien, unsere Projektionen alles Bösen auf den Feind, unsere Apathie angesichts der immer perfekteren Planung des Grauens – all das wehren wir ab wie der Krebskranke die Diagnose.
Hätten die Analytiker getagt, ohne daß sie ihre diagnostische Kapazität und humane Verantwortung auch dieser gegenwärtigen Situation zugewandt hätten, wäre das Grund zur Verzweiflung an ihrer Wissenschaft gewesen. „Schweigen ist das eigentliche Verbrechen“, zitierte Hanna Segal einen Satz von Nadeshda Mandelstam.
Jörg Drews: Unser Bach – unser Hitler.
Nach 53 Jahren wieder in Deutschland: Bilanz des Psychoanalytiker-Kongresses in Hamburg. In: Badische Zeitung, 8.8.1985.