Jörg Drews: Vom Donner gerührt; immer wieder ...

Neben Mozarts „Cosi fan tutte“ kann allein der „Don Giovanni“ noch bestehen; kurz dahinter rangiert dann die göttliche Komik von „Der Schauspieldirektor“. Aber der ist quasi Mozart light, und ins geradezu anthropologisch Ernsteste ragen allein der abgründige „Don Giovanni“ und das kühl-illusionslose dramma gioccoso „Cosi fan tutte“, wo der „sogenannten Liebe“ so unbarmherzig der Prozess gemacht wird, daß es einen kalt anweht und schaudert. Das macht: Mozart wusste etwas von uns Menschen, nämlich unsere absolute Neigung zu Hybris und Treulosigkeit, und dies Wissen war in keiner musikalischen Gattung bruchlos unterzubringen, es ließ ihn beinahe alle Gattungen sprengen, zwang ihn jedenfalls zu einer – ja auch in der Musikkritik immer wieder diskutierten – Mischung der Genres: der „Don Giovanni“ ist eine Komödie (zum Teil sogar mit Elementen der ‚niederen‘ Komödie‘), er ist ein Mantel- und Degen-Stück, er ist eine „Opera buffa“ (schrieb Mozart einmal selbst), nein, keine Tragödie, sondern ein moralisches Lehrstück. 

Eine Tragödie ist die Oper nicht, weil Don Giovannis Schuld ganz eindeutig und ungemildert ist und nirgends mit einem anderen Set von Werten kollidiert: Er verstößt gegen jede Sitte, er ist der a-soziale Mensch schlechthin, und seine Hybris muß bestraft werden: Ein Schaudern der Furcht und der zitternden Genugtuung überläuft einen, wenn der Komtur spricht: „Don Giovanni, a cenar teco / M‘invitasti, e son venuto.“ Jetzt geht‘s dahin mit dem Schurken, dessen „sinnliche Genialität“ (Stefan Kunze) nicht im geringsten zur Entschuldigung taugt: Eine versuchte und eine gelungene Vergewaltigung und ein Totschlag sind genug, er muss „ärschlings zur Hölle“ fahren, wie das am Ende des „Faust“ drastisch heißt. Kantisch gesprochen: Mozarts Don Giovanni fehlt das, was Kant als Appellationsinstanz in jedem Menschen glaubte annehmen zu können: das „moralische Gesetz in mir“. Sowas hat der Don nicht, und daher muß es ihm aufs drastischste eingebleut werden, und daher darf dann auch am Ende zuversichtlich die moralische Weltordnung als wiederhergestellt besungen werden. Fast der ganze „Don Giovanni“ spielt nachts, passend, da Kant vom gestirnten Himmel über uns als Emblem der Geordnetheit der Welt spricht; dafür hat der Wüstling keinen Blick, und daher muß ihm durch den Tod die Metaphysik der Sitten vor Augen geführt werden. Sozusagen: Wer nicht lesen will, muß fühlen. Aber wirklich zusammengehalten wird die Elementenmischung Mozarts allein durch die Musik. Sie ist der Transzendenz so nahe wie sonst bei Mozart nur das späte Requiem. Falls es aber keine Transzendenz gibt, wie konnte Mozart sie dann komponieren? Das bewegt mich so sehr am „Don Giovanni“. 

Jörg Drews, „Vom Donner gerührt; immer wieder …“, in: „Don Juan oder ‚zwei und zwei sind vier’“ oder „Lust ist der einzige Schwindel, dem ich Dauer wünsche“, 

Hg. von der Ursula Blickle Stiftung, Kunsthalle Wien, Gerald Matt, Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 2006, S. 126.