Jörg Drews: 15 Erst-Begegnungen mit dem „Genius“, oder: “When a new planet swam into my ken…”
Am 7. August 1955 saß ich im Frühstücksraum der Jugendherberge von Memmingen, und in den 7 Uhr-Nachrichten sagte einer: „Der Schriftsteller Thomas Mann ist gestern im Alter von 80 Jahren in Zürich gestorben.“ Dabei befand ich mich doch – ich war damals Thomas-Mann-Fan – mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Zürich, um Thomas Mann zu sehen. In Kilchberg wollte ich mich ihm mutig und demütig in den Weg eines seiner Spaziergänge stellen und ihn eventuell fragen, was er von der Anthroposophie halte. Die interessierte mich damals, und Thomas Manns Wort hätte bei mir gegolten, wie man sieht. Er starb mir vorher weg.
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Das lumpige blaue Ullstein-Taschenbuch hieß „Provoziertes Leben“, es war mein Brevier, ich meditierte und betete darin. Gottfried Benn, dachte ich, müßte man doch mal in Berlin aufsuchen oder sehen können. Vielleicht sich respektvoll schweigend mit ihm in seiner Eckkneipe vor ein Bier setzen. Ein Klassenkamerad sagte mir auf der Straße: FAZ gelesen? Benn ist gestern gestorben. Mir, dem Atheisten und Nihilisten war er ein Gott gewesen; jetzt starb mir der weg, starb mir wieder einer weg! Nix „Begegnung mit dem Genius“ (Rudolf Goldschmit-Jentner).
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In der Lenbach-Galerie in München fanden 1959/60 die „nota“-Lesungen statt. Einer las wunderbare, schwer verständliche Texte, Texte von eleganter Abstraktheit und, wie ich fand, von feiner Komik. Manchmal schlenkerte er seinen leeren linken Jackenärmel, den Arm hatte er in Rußland verloren; er hieß Helmut Heissenbüttel und ich war überzeugt, daß durch ihn und Eugen Gomringer und Franz Mon und Max Bense und Arno Schmidt in der westdeutschen Literatur alles anders werden würde und es jetzt, nachdem die schlimmste Nachkriegszeit überwunden war, überhaupt erst richtig losgehe. Und ich hatte Recht.
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Max Bense sprach mit starkem Kölner Akzent und erklärte uns – er war Atheist und Materialist – mit einem russischen Witz, wo die Seele der Frau ihren Sitz habe. Für einen braven 22jährigen eine ziemlich verblüffende, nein, ziemlich schockierende Klarstellung. Aber was er in den Bändchen „Plakatwelt“ und „Ein Geräusch in der Straße“ und „Aesthetica I -IV“ schrieb, war äußerst gedankenreich und anregend und hatte intellektuelles Feuer. Bense war am besten, wenn er seine eigentlichen Theorien verließ und im Freistil dachte.
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Der Zug war pünktlich, um 14.21 Uhr war ich in Eldingen, dann drei Kilometer zu Fuß nach Bargfeld, und um 15.00 Uhr stand ich vor dem berühmten massiven Gartentor, und dahinter tauchte langsam Arno Schmidt aus dem Hintergrund auf, schloß das Tor auf und erklärte mir später, was „Celler Dickstil“ sei; wir grinsten uns ganz schräg an. Später an diesem 24. Oktober 1964 kredenzte mir seine Frau – hohe breite slawische Backenknochen: sowas sah ich erstmals bei ihr oder dachte es mir jedenfalls gleich – lauwarmen Tee, mit Teebeuteln aufgebrüht, sehr schwach, und einen Weinbrand der Marke „Alte Kanzlei“, schon besser!, inzwischen literarisch berühmt geworden. Er war eitel zufrieden damit, daß ich fließend den Titel eines seiner Essays aussprechen konnte: „Kaleidoskopische Kollidiereskapaden“. Die ganzen viereinhalb Stunden hatte ich den Eindruck, in der Gegenwart eines massiven, grimmigen, freundlichen und bedeutenden Menschen zu sein, wie später nur noch bei Gershom Scholem.
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Schuldt tauchte in München um 1960 auf, bei Otmar Engel. Er hatte ein großformatiges Buch namens „Steinigung der Nacht“ verfaßt und im Panderma Verlag Basel herausgegeben, später kam noch hinzu „Blut des Metronomen“, das keiner mehr kennt, woran man sieht, wie medioker der Geschmack und wie schwach das Gedächtnis der allgemeinen literarischen Öffentlichkeit ist. Es hieß, Schuldt sei schon mal in der Psychiatrie gewesen. Ich hielt das durchaus für möglich, daß dumme Psychiater seine Texte für „irre“ hielten und ihn dabehielten. Schuldt wollte keinen Vornamen haben, wir nannten ihn „Schuldt the poet“, weil ihn einer in New York gefragt haben soll, ob er der sei. Er war’s. Er war ein Organisationsfanatiker und lebte in Köln in einer unsäglich schmutzigen Wohnung. Sein Essay „Zweifel“ gehört zu den großen Essays der deutschen Literatur.
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Vielleicht war es eine Neujahrs-Party, in Berlin, 31. Dezember 1967 auf 1. Januar 1968, da war Gerhard Rühm dabei, und wir klinkten uns später aus und fuhren in Gerhard Rühms Atelier und Wohnung in der Offenbacher Straße 8, da war es kalt und Rühm begann einen Kanonenofen zu heizen und bis das Ding glühte, froren die Mädchen und dann sahen wir an der Wand ein Gemälde von Max Pechstein aus den zehner oder zwanziger Jahren, das gehörte hier einfach zur Wohnung. Pechstein hatte hier mal gewohnt, es war hinterm und überm Sofa und leuchtete – „Es lebe unser großer heiliger Expressionismus!“ (Arno Schmidt) – in unsere Gespräche hinein. Nur durch Heissenbüttel und bei Walter Benjamin habe ich so viel über Literatur gelernt wie durch Gerhard Rühm; wahrscheinlich ist der Bursche doch das reichste Talent der Wiener Gruppe. „Auf zu neuen Ufern!“
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1959/1960 und ein bißchen danach: die Scheitel-, die Sattelzeit der westdeutschen Literatur. Wieviel Sensation machten bei uns damals Peter Weiss‘ „Schatten des Körpers des Kutschers“, „Fluchtpunkt“, „Abschied von den Eltern“, „Das Gespräch der drei Gehenden“, sogar noch das Marat/Sade-Stück. Verglichen mit dem „Schatten“ (auch mit Rühms Prosastück „Die Frösche“) sind – damit verglichen – die meisten Erzählungen bis heute ein so braves Zeug, ein so mediokrer Quatsch – man sollte nicht glauben, daß dergleichen noch möglich ist! Auf der Messe 1967 oder 1968 gab es einen Auflauf in den Gängen zwischen den Bücherständen und plötzlich sangen alle die Internationale. Neben mir an der Wand lehnte ein Mann, der etwa 20 Jahre älter war als ich, mit einer Lederkappe auf dem Kopf Pfeife rauchend, den Trubel ruhig beobachtend. Er sang nicht mit. Das merkte ich und war empört. Es war Peter Weiss.
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Unter der Post ein kleiner Gedichtband: „Vom Sichersten ins Tausendste“. Oskar Pastior? Noch nie gehört. Ich lese, bin begeistert – aber das ist ja einer von unseren Leuten, der paßt, das ist aufregend! Wo kommt denn der her? Und dann schrieb ich im Drang der Geschäfte keine Rezension und mußte mich später beschämt bei ihm entschuldigen, bei Oskar Pastior, der mir bis heute so viel zarte Rätsel aufgibt und der eines der sinnlichsten Bücher deutscher Sprache schrieb: „Fleischeslust“.
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Er empfing mich quasi streng, im Winter 1969/70 in der Abarbanel St. 28 in Rehavia, taute aber auf und wurde immer lebhafter, als er mir erzählte, daß er gerade – er berichtete das ein bißchen angeberisch, muß ich sagen – Walter Benjamins „Berliner Chronik“ aus der Handschrift transkribiert habe: Herr Tiedemann sei ja daran „gescheitert“, wie dieser selbst zugebe. Gerhard Gershom Scholem war das einzige mir bekannte und wohl auch das einzige noch lebende Exemplar eines Berliner Wilhelminischen Professors, aber er war in Berlin nie Professor gewesen und saß aus freien, stolzen Stücken seit 1923 in Jerusalem … Seine Lieblingsautoren (außerfachlicher Art) waren Franz Kafka, Paul Scheerbart und Jean Paul. Wie das zusammengeht, weiß ich bis heute nicht. Oder doch, aber um das stilpsychologisch auszufalten, bräuchte man zu viel Platz… Wenn wir uns unterhielten, saß seine Frau Fania im Hintergrund lauschte seinen Perorationen, und wenn er mal kurz rausging, sagte sie: „Ist er nicht wunderbar?“ Ja, das war er.
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Ein paar Straßen weiter, in Alfasi St. 31, besuchte ich Werner Kraft, der in seinen Essays und vor allem in seinem Buch zu Carl Gustav Jochmann einen großen deutschen Autor, einen republikanischen Prosaisten höchsten Karats gerettet hat – er, der vertriebene Jude, in einem fernen Land – und das Andenken an andere aufrecht erhielt: er stiftete aus dem Exil die Kontinuität, die wir selbst zerstört hatten, er sollte kein Deutscher sein und diente dennoch dieser Nation. Durch ihn lernte ich nicht zuletzt Seume und Christian Wagner wieder kennen. Die Souterrain-Wohnung in der Alfasi St. war in ihrer Kargheit kaum zu übertreffen, die kleine Bibliothek enthielt fast nur zerfledderte Kostbarkeiten, alle Gespräche kreisten um deutsche Literatur, Werner Kraft hat deshalb nie mehr als rudimentär Hebräisch gelernt. Er war Jude – „Hitler hat mich 1933 zum Juden ernannt“ – , in Jerusalem nun, aber eigentlich war er nie etwas anderes als ein Hannöverscher Bibliotheksrat.
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Als ich irgendwann im Frühsommer 1970 im Bayerischen Rundfunk zu tun hatte, sagte Christoph Buggert: Drunten im Mövenpick sitzt Paul Wühr, ein toller Hörspielautor, der veröffentlicht bald ein Buch bei Hanser, den mußt du kennenlernen. Also saßen der massige und finstere Paul Wühr und ich einander gegenüber, versuchten im andern zu lesen, versuchten verbindlich zu sein: Er, weil er ja nicht einen prospektiven Kritiker verärgern wollte, ich, weil ich ja nicht ahnen konnte, was mir da in Gestalt von „Gegenmünchen“ bevorstand. Nicht einmal zwei Jahre später kriegte der Finsterling, der so drohend und stockend sprach, für sein O-Ton-Hörspiel „Preislied“ den Hörspielpreis der Kriegsblinden; ich war in der Jury gewesen, rief nachts noch Wührs Lektor Jürgen Kolbe an und berichtete, und wir weinten vor Freude. Literatur-Junkies, ernsthafte Kindsköpfe eben.
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Reinhard Prießnitz muß ich in den frühen siebziger Jahren in Wien kennengelernt haben. Ich hatte fast immer Angst um ihn, je mehr, desto tiefer es in die Nacht hinein ging. Er suchte Streit, den er mit seiner Schmächtigkeit nicht gewinnen konnte, so wurde er in einem Dorfgasthaus bei Prinzendorf furchtbar verprügelt. Es war ein Jammer. Am Telefon erzählte er mir, was er über Arno Schmidts „Kaff auch Mare Crisium“ schreiben wollte: es war eine Offenbarung. Ich hatte natürlich kein Tonband mitlaufen, und er schrieb natürlich nichts auf, der Essay ist nie erschienen, ebenso wenig wie sein Vortrag über Shakespeares Sonette in Bielefeld lief; Prießnitz saß den ganzen Tag drüber, rauchte 80 Roth-Händle und war am Abend betrunken und von Nikotin vergiftet und kapitulierte. Es war ein Elend. Wir liebten ihn, und die 44 seiner Gedichte, die er gelten ließ, sind wichtiger als meterweise sonstige Lyrik.
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Der Typ tauchte an einem Montag in der Redaktion auf: „Sie haben da eine Besprechung von meinem Buch gemacht, und da ist ein Photo dabei von mir und das hat ein Freund gemacht und der muß ein Honorar kriegen. Wo ham Sie denn des überhaupt her?“ Ich: Das stammt aus einem Prospekt von Suhrkamp, und natürlich kann der Photograph ein Honorar dafür bekommen, es steht bloß keiner drunter, und deshalb konnten wir auch nichts anweisen. Ich schreibe Ihnen gleich eine Anweisung an die Kasse, das Honorar beträgt 42 Mark. Er nimmt die Anweisung und sagt: „Die iss ja gut, die Besprechung.“ Ich: Ich hab‘ sie geschrieben. Er, überrascht, zögernd, lauernd, mich mißtrauisch musternd, in fragendem Tonfall: „So?“ (kurzes o, scharfes s). Exit: Herbert Achternbusch, Ort: Süddeutsche Zeitung, 1969; das Buch hieß „Hülle“. Über die Entwicklung Herbert Achternbuschs, der inzwischen ein viel bedeutenderer Maler als Schriftsteller ist, ein ander Mal mehr.
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Es muß ein ganzer Trupp von Leuten gewesen sein, der da Anfang der siebziger Jahre bei ihm einfiel, als er noch bei Hanser war. Wir tafelten in der Halle seines Hauses in Nartum und ich nahm ihn nur ungenau war, er war nur vage ein Erfolgsautor für mich, hatte noch kaum Kontur, erst später las ich den „Block“, sein erstes und eines seiner besten Bücher. Aus diesen lärmenden und leicht angetrunkenen Anfängen entwickelte sich die Wahrnehmung eines Werkes von – auf weite Strecken – scheinbar kurioser Biederkeit und Drögheit, und erst nach und nach lernte ich Walter Kempowskis Bücher lesen: Sie sind viel unheimlicher und hinterhältiger als den meisten Kritikern bis heute aufgegangen ist. Damals aber, Anfang der siebziger Jahre, wuselte Kempowski für mich nur im Hintergrund einer großen Gesellschaft in seinem geräumigen Haus herum, klein und schmal, und alle andern wirkten neben ihm fast ungeschlacht und dröhnend selbstsicher.
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Ich stand da oben auf einem viel zu hohen Podium, ekelhaft hoch über den Zuhörern in einer alten Turnhalle in Leonberg und hielt die Laudatio auf Karl Mickel, den wir mit dem Christian Wagner-Preis ausgezeichnet hatten. Er saß in der ersten Reihe und flüsterte mit einem irgendwie staunenden Gesichtsausdruck mit seiner blonden russischen Freundin. Später erzählte er mir, sie hätten sich gewundert, wie ich ein paar Sachen an seinen Gedichten verstanden hätte, die man eigentlich nur als DDRler verstehen könne. Ich besuchte ihn in Ostberlin, da war er schon krank, erzählte mir aber vergnügt, die Ärzte hätten ihm noch zwei Jahre gegeben, das sei schon mal gut, dann könne er den Lachmund-Roman Band 2 fertig machen und ein paar andere Sachen, und er dürfe Rotwein trinken und vögeln, das gehe dann schon. Er sprach über Swedenborgiana in Arno Schmidts „Abend mit Goldrand“, belegte das an ein paar Stellen und versprach mir einen Aufsatz darüber für den „Bargfelder Boten“. Er schaffte dann aber nur noch ein paar Monate. Ich hab mich selten in jemandes Gesellschaft so wohl gefühlt.
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Das ist eigentlich gar nicht ‚meine‘ Art von Literatur – naja, zum Teil dann doch; die beiden „Meßmer“-Bücher sind ja doch bemerkenswert. Aber ich soll die koreanische Autorin und Übersetzerin Bae Suh-Ah zu Martin Walser nach Überlingen-Nußdorf begleiten, die Übersetzerin von Walsers „Angstblüte“, und so kommen wir zu Walser. Er ist massiv, viel größer als ich ihn mir vorstellte bzw. erinnerte, manchmal brummbärig seufzend und von alemannischer Bonhommie, in der Flinkheit der Rede aber gar nicht wie 80. Irgendwann sag ich, daß ich unter seiner Prosa besonders das schmale, gestauchte und radikale Bändchen „Fiction“ von 1970 möge, und er sagt gleich: „Das glaub ich Ihnen, das muß Ihnen natürlich passen.“ Aber die Hauptrolle spielt Frau Bae für ihn und ich bin da nur sekundär, er ist charmant und charmiert sie, sie darf ihn photographieren und spricht so bewundernswert gut deutsch trotz ihrer Aufregung und Schüchternheit. Wir tafeln ausgiebig in Andelshofen im Johanniter Kreuz und ich bin fast beschämt ob der umfassenden, Behagen ausstrahlenden Freundlichkeit Walsers und seiner Frau über sechs Stunden. 1965 hatten wir ihn mit einer Gruppe von Studenten besucht, da wohnte er noch in Friedrichshafen, da waren wir noch viel mehr zu Bewunderung disponiert, aber schon damals hatte er uns (sozusagen) ’rumgekriegt.
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Ich traf ihn in einem Wiener Café, dessen Namen ich – obwohl es nur ein halbes Jahr her ist – vergessen habe, ich wollte Thomas Stangl einfach nur kennenlernen, fürchtete zugleich, ihn damit nur zu belästigen, wollte ihm eigentlich nur sagen, wie er sehr ich ihn bewundere für seine beiden Romane „Der einzige Ort“ und „Ihre Musik“. Er war so zurückhaltend und sprach so wenig, schaute aber freundlich, daß ich meinerseits, weil ich kein so langes Schweigen entstehen lassen wollte, wahrscheinlich zu viel und zu aufgedreht redete. Heute aber, am 1. Juli 2007 bekam er in Klagenfurt den Telekom-Austria-Literaturpreis. Sehr gut! Wenn schon nicht den ersten, dann wenigstens den zweiten Preis. Manchmal haben die leiseren Sachen doch auch eine Chance, sogar in Klagenfurt. Klasse!
Jörg Drews: 15 Erst-Begegnungen mit dem „Genius“, oder: “When a new planet swam into my ken…” In: manuskripte. Zeitschrift für Literatur. 47. Jahrgang / 178. Heft der Gesamtfolge, Dezember 2007, S. 50–54.