Harald Eggebrecht: Staub abschütteln. Jörg Drews, dem Literaturkenner und Professor zum Siebzigsten.
Eine Möglichkeit, sich in den Weiten der Literatur zurechtzufinden, bietet der Blick auf die aufragenden Massive der Klassiker, in denen man sich lebenslang versteigen kann. Eine andere – sie hat Jörg Drews, Ende der Sechziger SZ-Redakteur, dann Professor für Literaturkritik und Literatur des 20. Jahrhunderts in Bielefeld, gleich gewählt, ist es, Expeditionen ins Unbekannte zu unternehmen oder jene Regionen zu erforschen, die bislang im Schatten der Klassikermassive lagen oder unbegreiflicherweise vernachlässigt wurden. Von solchem Abenteuergeist erfüllt hat Drews bei seinen Wanderungen an den vermeintlichen Rand neue Kontinente entdeckt. Zuerst natürlich Arno Schmidt, den König der Randlage, der von dort aus das Spiel mit Sprache, Wort und Satz revolutioniert hat. Drews ist wie Schmidt ein Literaturbesessener und wie der Meister überzeugt, dass kein nennenswertes Buch entsteht, ohne dass man jene kennt, die zuvor geschrieben wurden. Mit der Gründung und bis heute fortgesetzten Herausgabe der Bargfelder Boten als Hauptorgan des Dechiffrier-Syndikats von Arno Schmidts Werken hat er jedenfalls ein Wegenetz eröffnet, das inzwischen bis in die hintersten Winkel des weitverzweigten, aber auch hoch verstiegenen Literaturgebirges Schmidt nebst allen Abschweifungen, Blumenstücken und Zusatzpredigten reicht. Von Schmidt zu James Joyce ist es in diesem Zusammenhang nurmehr ein Schritt. Blättert man einmal in den zahllosen Kritiken und Artikeln, dann gibt es kaum etwas, das Jörg Drews nicht beackert hat zwischen Friedrich Achleitner und Ezra Pound, dem Kabbala-Forscher Gershom Sholem und Hans Wollschläger, zwischen Ernst Bloch, Alexander Kluge und Karl May. Außerdem hat sich Drews immer für Lyrik eingesetzt, besonders für solche, die den Geheimnissen von Buchstaben und Wörtern nachspürt oder die Virtuosenstücke wie Anagramme, Akronyme und ähnliches raffiniert erneuert. Da gelangt man mit Drews zu H. C. Artmann, Gerhard Rühm und Friederike Mayröcker, oder zum wild fabulierenden Herbert Achternbusch, dem solitären Paul Wühr oder dem Wortakrobaten Schuldt.
Einer ganz besonderen Spur folgt er ebenfalls bis heute, der des Spaziergängers Johann Gottfried Seume, der von Dezember 1801 bis August 1802 von Grimma nach Syrakus zu Fuß wanderte. Drews hat 1993 eine zweibändige Werkausgabe besorgt und Dirk Sangmeister sämtliche Briefe Seumes 2002 herausgebracht. Auch das eigene Geschäft, die Literaturkritik, nimmt sich Drews energisch vor, untersucht deren Traditionen, die jeweilige Rolle und Bedeutung in Politik und Gesellschaft, und ist selbst einer ihrer vortrefflichsten Protagonisten. Wer also der Literatur, ihren Autoren und ihrer Kritik so vorbehaltlos, ja, leidenschaftlich verfallen ist wie Jörg Drews, der möge, so unser gar nicht uneigennütziger Wunsch, seiner Passion ungezügelt und ergebnisreich weiter frönen, auch wenn er an diesem Dienstag hoffentlich vergnügt seinen 70. Geburtstag feiert.
Harald Eggebrecht: Staub abschütteln. Jörg Drews, dem Literaturkenner und Professor zum Siebzigsten. In: SZ,26.8.2008.