Jörg Drews: Acht Thesen zu den Arbeiten von Ilse Garnier
- Ilse Garnier hat keine Angst. Sie ist zwar zart und vorsichtig, aber sie scheut sich weder vor der Abstraktion noch vor der Metapher. Sie ist streng, aber sie ist keine Puristin, und sie hat einen Sinn für Komik, der es ihr erlaubt, in manchen ihrer Bildtexte ganz entspannt, geradezu nonchalant, auch den Kalauer zu streifen. Nicht zuletzt damit hängt es zusammen, daß bei ihren Demonstrationen bei den Lesungen des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie eine Art verblüffte feine Heiterkeit herrscht – bisweilen jedenfalls, und neben einem seriösen Angerührtsein.
- Ilse Garniers Arbeit hat Teil an jener Tradition, für die sich – weil kein anderes Wort sich anbot – die Bezeichnung „Experimentelle Literatur“ eingebürgert hat, und innerhalb dieser Tradition kann man ihre Literatur natürlich zur Konkreten Poesie und zur Visuellen Poesie rechnen; ganz speziell hat sie – mit Pierre Garnier – den Begriff „poésie spatiale“ geschaffen. So gesehen ist sie nicht ‚einmalig’. Aber wenn es auch in der Experimentellen Poesie den Begriff „Stil“ eigentlich nicht sinnvollerweise mehr geben kann (er ist durch „Technik“ oder „Verfahren“ abgelöst), gibt es dennoch eine höchst persönliche Wortwahl und sehr persönliche Arten der Anordnung von Wörtern/Worten auf der Fläche. Es gibt da zum Beispiel eher Gomringer-typische Vokabeln, es gibt doch Rühm-typische Vokabeln, ja sogar Verfahren, und es gibt dann auch eine Ilse Garnier’sche Ausrichtung von Fügungen und Wörtern. Sie hat keine Scheu, sich häufig an und mit romantischen Wörtern, romantisch ‚belasteten’ Vokabeln zu schaffen zu machen, sie gewissermaßen lächelnd neu zu inszenieren.
- Die „poésie spatiale“ hat Teil an der Abwendung von der Rhetorik, welche die große Literatur des 20. Jahrhunderts zu bekämpfen hatte: das war ihre historische Aufgabe. Die Lust an der absoluten Ökonomie des Ausdrucks ist auch Ilse Garniers Text-Bildern anzumerken. Doch zu dieser Ökonomie gehört, daß die Beschränkung Reichtum freisetzt, daß das einzelne Wort, das einzelne Bildelement seine Suggestionskraft wieder zurückerhält, und diese Strahlkraft ist übrigens nicht zu trennen davon, daß das einzelne – freigesetzte – Wort körperlich, räumlich, materiell, gegenstandshaft wirkt. Der Grenzfall ist dann, daß ein einzelnes Wort kahl, fragil und in seiner Einsamkeit doch sehr monumental wirken kann. Und eben dies wirkt dann auch wieder erheiternd, denn wir werden Zeuge dessen, daß ‚Kleinigkeiten’ große Kraft innewohnen kann, und der fröhliche Trost ist dabei auch, daß eben am Anfang das Wort war und nicht das Geschwätz.
- Das einzig Aggressive an den Arbeiten von Ilse Garnier ist, daß sie ‚schlagend’ einfach sind. Sie verbeißen sich Lautlichkeit und erst recht Lautheit; wenn es aber um Vokale sich dreht wie etwa in den „Blason du corp féminin“, dieser so herrlich erotischen Heraldik, so suggeriert auf jeden Fall der gedruckte Vokal (als Buchstabe) Räumlichkeit und nicht der gesprochene, Erklingende. (Daß es aber doch stellenweise die Möglichkeit eines Umschlags der Stummheit des visuell Konzipierten in Lautlichkeit gibt bei Ilse Garnier, steht auf einem anderen Blatt.) Wäre das Wort „Pointe“ nicht so heruntergekommen und pur in die Nähe von Kabarett und Robert Gernhardt’scher Poesie geraten, müßte man die Wirkung vieler Blätter von Ilse Garnier als die von Pointen bezeichnen: Der Text ‚spricht’ stumm, und wir lachen erheitert, weil er seine Pointe verschluckte.
- Es gibt nur wenige Sätze bei Ilse Garnier, aber dennoch ist sie eine große, eine schier unendlich einfallsreiche Syntaktikerin. Die Wörter und Worte sind bei ihr aus dem Satz befreit, aber Blatt und Rahmen, Punkt und Bogen, Pfeil und Kreis sind die neue Syntax, und vor allem fehlt bzw. ist durch Suggestion zu ersetzen: das Verb. Sie erweitert die Syntax in den Raum hinein, und ihre Haupt-Kunst ist, Raum zu eröffnen, in die Fläche Raum hineinzusuggerieren – und bei aller Offenheit dennoch nicht alles ins Vage verströmen zu lassen.
- Ilse Garnier braucht keine Theorie. Jedes Blatt ist bei ihr der einfache und deutliche Beleg und Beweis für das, was sie will: die immer neue Ineinssetzung von „abstrakt“ und „konkret“, das Erzielen von Fülle durch Kargheit, die wie beiläufige Erzeugung von Aura nach dem Zeitalter der auratischen Kunst.
- Soll man sagen: Sie ist eine Kosmikerin? Ein großes Blatt wie „Kosmische Uhr“ (S. 58) aus den „Fensterbildern“, könnte das schon nahelegen, und wo ist in den letzten Jahrzehnten so karg und bildkräftig nachgedacht worden über den Kosmos wie bei ihr? Und wo ist das Wort „Begegnung“ so ruhig befreit worden von allem Tremolo des Jargons der Eigentlichkeit wie in den wenigen Linien, Kurven und Punkten ihres Blattes „Begegnungen“? Und wer hat schon mit so verblüffendem Resultat reagiert auf Kurt Kusenbergs Frage bezüglich des Mondes: „Ließ er sich noch lyrisch verwerten?“ Ilse Garniers Antwort ist das Blatt „Lyrik“ (S. 72) aus ihrer „Fibel“, über dessen Komplexität man verrückt werden könnte, obwohl doch nur ein einziges, bis zur Abgenutztheit bekanntes Photo und vier Wörter darauf zu sehen sind.
- Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurde das Land der Moderne erobert, und danach, sagt Ezra Pound, kamen (nur noch) die Kolonisatoren. Ganz richtig und ganz schief. Ilse Garniers Werk ist ein Beleg dafür, wie man in einem abstrakt gewonnenen Territorium erst nach und nach – und das heißt: bis heute – alle Möglichkeiten entdeckt werden. Sie arbeitet ohne große Gesten, und das Resultat ist ruhiger Reichtum.
Jörg Drews: Acht Thesen zu den Arbeiten von Ilse Garnier. In: Visuelle Poesie. Für den Bielefelder Kunstverein herausgegeben von Andreas Beaugrand und Jörg Drews. Diese Publikation erschien anläßlich der gleichnamigen Ausstellung des Bielefelder Kunstvereins im Museum Waldhof vom 4. Mai bis zum 16. Juni 2002 und des 25. Bielefelder Colloquiums Neue Poesie vom 3. bis 5. Mai 2002. Pendragon Verlag, Bielefeld 2002, o. P.