Herbert Wiesner: Der Blick ins Weite – Wie man Fixsterne in Bewegung bringt: Zum Tod des Literaturwissenschaftlers und Kritikers Jörg Drews
Sein enzyklopädisches Wissen, seine Genauigkeit und seine Begeisterungsfähigkeit werden uns fehlen: Am Dienstag ist Jörg Drews im Alter von 70 Jahren in Bielefeld an einem Herzversagen gestorben. Er war 1974 aus der Feuilletonredaktion der Süddeutschen Zeitung heraus als Professor für Literaturkritik und Literatur des 20. Jahrhunderts an die noch junge Universität Bielefeld berufen worden. Fast dreißig Jahre lang hat er dort gelehrt, ohne von der Kritik gegenwärtiger Literatur zu lassen.
Mit Klaus Ramm und Hartmut Geerken hat er 1976 die Reihe „Frühe Texte der Moderne“ begründet. Von 1978 bis 2003 haben Jörg Drews und Klaus Ramm im „Bielefelder Colloquium Neue Poesie“ Jahr für Jahr die alten und die jungen Dichter des literarischen Experiments nach Bielefeld gelockt. Von H.C. Artmann und Bodo Hell über Ernst Jandl, Friederike Mayröcker und Franz Mon bis Oskar Pastior, Gerhard Rühm, Schuldt und Paul Wühr sind sie alle gekommen, obwohl die meisten von ihnen vor allem deshalb noch zur experimentellen Dichtung zählten, weil nur das ihrem Selbstverständnis, ihrem Modernismus entsprach.
Eigentlich aber war Jörg Drews ein Goetheaner. Nicht nur sein Geburtstag am 26. August lag dem Goethes am 28. August nahe, sondern auch der Blick auf das Ganze, der sich von einem gegebenen Konkreten, einem kleinen Satzteil womöglich, ins Weite richtete, vom Text auf die Welt oder vom Monitor der Flugsicherung, bei der Drews einst gearbeitet hatte, auf den Himmel und ein universales Wissen. Jörg Drews war kein Schwärmer, er hatte den nüchternen Blick des geborenen Berliners, aber in Bayern und besonders im Schwäbischen gingen ihm das Herz und der Mund auf.
Der zweite Fixstern neben Goethe war für ihn James Joyce. Von ihm aus erschloss sich Drews die Klassische Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie hat er, seit seiner Münchner Promotionsarbeit über den expressionistischen Lyriker Albert Ehrenstein, entziffert, interpretiert, ediert und propagiert, und er hat mit der ernsten Bescheidenheit des Nachgeborenen die Vertreibung und Vernichtung der frühen Moderne betrauert.
Die Reise nach Jerusalem
Aus dieser stets tätigen Trauer sind ihm Verpflichtungen erwachsen. Er ist wiederholt in die Länder der Zuflucht gereist, in die Vereinigten Staaten, zuletzt nach Christchurch / New Zealand, wo er gelehrt und geforscht hat, 1988 war er Gastprofessor der Hebrew University in Jerusalem gewesen. Dort hat er Gespräche mit dem großen Philologen und Dichter Werner Kraft geführt und früh schon das Gespräch mit Gershom Scholem gesucht. Dem Briefwechsel Werner Krafts mit dem Dichter Wilhelm Lehmann galt seine letzte Rezension, die nun posthum in dieser Zeitung erscheint (siehe nebenstehenden Text).
Zwei Genies sei er in seinem Leben begegnet, hat er einmal gesagt, eines davon war Gershom Scholem. Ich glaube, Jörg Drews war in seinen Gedanken oft ganz nahe bei Scholem. Das zweite Genie könnte Arno Schmidt gewesen sein. Aus den Begegnungen mit ihm und seinen Texten erwuchs Drews eine zweite Verpflichtung: das Verständnis für eine ganz neue deutschsprachige Literatur zu fördern, welche die Moderne der ersten Jahrhunderthälfte aus eigenständigen Kräften und formalen Mitteln zu erneuern imstande war.
Das ist wohl ein zentrales Kriterium des Literaturkritikers Jörg Drews bei der Beurteilung gegenwärtiger Literatur gewesen. Als 1970 Arno Schmidts Großwerk „Zettels Traum“ erschienen war, gründete Drews so etwas wie das „Dechiffriersyndikat“ zum Verständnis jenes Romans, ein Syndikat, das sich gegenüber manchen Syndikaten der 68er Jahre behauptete. Erneut begann die genaue Arbeit am Text, und für Jörg Drews schloss sich wohl der Kreis zur Sprache von „Finnegans Wake“ von James Joyce (erschienen im Kriegsjahr 1939). Damals hatte seine literaturkritische Arbeit eine Strahlkraft, die weit über die Süddeutsche Zeitung hinausreichte.
Gegen Ende seines Lebens ist Jörg Drews noch einmal zum philologischen Entdecker geworden, hat die Briefe und Texte Johann Gottfried Seumes, des deutschen Parteigängers der Französischen Revolution, ediert und in zahlreichen Aufsätze interpretiert, wurde Vorsitzender der Seume-Gesellschaft zu Leipzig.
Er hat von dem alten Wanderer gesprochen wie von den ganz Jungen, und von beiden mit der gleichen Begeisterung. Jetzt ist Jörg Drews aus einem dicht verwobenen Freundeskreis gebrochen. Wir werden fassungslos, aber mit Ehrfurcht und Bewunderung an seinem Grabe stehen.
Herbert Wiesner: Der Blick ins Weite. In: Süddeutsche Zeitung, 5.3.2009.