Jörg Drews: „...bewundert viel und viel gescholten...“. Hermann Hesses Werk zwischen Erfolg und Missachtung bei Publikum und Literaturkritik
Im Mai 2002 wurde in Marbach die Ausstellung zur Entstehungsgeschichte des „Glasperlenspiels“ eröffnet. Ich wollte hinfahren und erwähnte das nebenbei gegenüber Freunden und Kollegen. Kopfschütteln und Naserümpfen waren nicht zu übersehen; also gleich noch eins drauf: Im Herbst fahre ich nach London zu einer Hesse-Konferenz. Alle wundern sich noch mehr, welche Laune, welche irritierende Wendung da mit einem Kritiker und Germanisten vorgegangen sein muß, der doch sonst eher für das steht, was die amerikanischen Kollegen „modernism“ nennen, und dazu gehört Hermann Hesse ja nun wirklich nicht. Die Reaktionen sind keineswegs zufällig und keineswegs nur auf mich bezogen. Germanistik und Literaturkritik in Deutschland haben sich in den letzten Dezennien nicht sonderlich intensiv um Hermann Hesse gekümmert; von Karlheinz Deschners Buch „Kitsch, Konvention und Kunst“ von 1957 bis zu den Bemerkungen Rolf Vollmanns in seinem Romanführer „Die wunderbaren Falschmünzer“ von 19971 sind eher herablassend kritisch, wenn sie nicht Hesses Werk insgesamt verwerfen, jedenfalls nicht ernst nehmen in dem Maße, wie Thomas Mann und Robert Musil, Hermann Broch, Alfred Döblin und – sagen wir mal: – Günter Grass ernst genommen werden. Noch in diesem Jahr konnte man die Verlegenheit bemerken, in die der Auftrag zu einer Würdigung von Hesses „Glasperlenspiel“ bei der Eröffnung der Marbacher Ausstellung Lothar Müller brachte, der bei solcher Gelegenheit natürlich höflich bleiben mußte und das Kunststück fertigbrachte, dennoch deutlich zu werden, so deutlich wie Burkhard Müller in seinem Aufsatz zum 125. Geburtstag Hesses von seiner Langeweile bei der Lektüre des „Glasperlenspiels“ berichtet und Hesse schließlich nur für seine Jugendwerke retten möchte, jene, die vor Hesses „Schwabenalter“, nämlich dem 40. Lebensjahr entstanden, in dem der Schwabe spät aber dann doch ‚reif’ wird – was das doppelte Problem ergibt, daß dann also der „Steppenwolf“ nicht zu den bedeutenden, den zu ‚rettenden“’ Werken Hesses zählte, zugleich aber Hesse am Ende doch eine Reife zugesprochen wird, die ihm andere Kritiker überhaupt absprechen und dies zu seiner spezifischen „Charakterpathologie“ rechnen. Burkhard Müller ist nicht der einzige, der dann doch seine Liebe zu einzelnen kleinen Prosastücken Hesses und deren trockenem schwäbischem, man müßte vielleicht sagen: alemannischen Humor gesteht und an diesen wenigen Punkten Hesse nahe bei Robert Walser und Johann Peter Hebel sieht; Rolf Vollmanns Herz ist auch zerrissen und sein Urteil gespalten: „Hesse schreibt wirklich keine gute Prosa, er schreibt umständlich, geziert, feierlich, betulich (niemals eitel, das ist wahr), und seine Seele ist voll von Botschaften, und sein Kopf voller Gedanken, die noch schlechter gedacht sind als seine Botschaften gefühlt. Aber sowohl hier im Narziß als auch im benachbarten Steppenwolf gibt es dann Passagen (sie haben immer schon angefangen, wenn man sie bemerkt), in denen eine merkwürdige, meist eine erotische Phantasie plötzlich ganz ungehemmt und sehr genau ausdrückt, wie ihr zumute ist. Die Sprache bekommt dann mit einem Male einen Ton, der, so sehr man sich wehren mag, ins Herz geht; man möchte das gar nicht gern, denn alles bleibt wirr und unklar, aber es ist dann auch eine so betörende Ehrlichkeit mit im Spiel, und so kann man fast gar nicht anders als für ein Weilchen diesem Klang sich öffnen.“ „… für ein Weilchen“ wenigstens, und fast widerwillig; ansonsten scheint die Härte der Urteile Karlheinz Deschners und Gottfried Benns vorzuherrschen, und in ihrer Gesellschaft Arno Schmidt, der einzig dem „Steppenwolf“ immer einmal wieder die Reverenz erweist, indem er erwähnt, wie sehr er früher, einst, vor vielen Jahren dem HARRY HALLER – er schreibt den Namen ganz in Versalien – „mit tiefer Ehrerbietung“ gegenüber gestanden habe, offenbar vor allem in jenen Jahren zwischen ca. 1930 und 1935, in denen er selbst seine ersten Gedichte schrieb und niemand anderen als Kritiker und Gutachter sich denken konnte als Hermann Hesse, dem allein er wohl zutraute, ihm für seine an Albert Ehrenstein angelehnten spätexpressionistischen Gedichte Zuspruch zu erteilen; Hesse reagierte allerdings nicht bzw. er reagierte erst, als er 1949 vom Rowohlt-Verlag Arno Schmidts Prosaband „Leviathan“ zugeschickt bekam. Dazu später mehr. Karlheinz Deschner stieß 1957, als er in „Kitsch, Konvention und Kunst“ Hermann Hesse neben Werner Bergengruen und Carossa als Epigonen und Kitschier anprangerte, übrigens bei der jüngeren Generation von Lesern nicht zuletzt deshalb auf Zustimmung, weil Gottfried Benn sozusagen vorgearbeitet hatte mit seinen spöttischen Bemerkungen über Hesse den „durchschnittlichen Entwicklungs-, Ehe- und Innerlichkeitsromancier – eine typisch deutsche Sache“ und mit der Kennzeichnung Hesses in einem Briefe an Oelze als „Kleiner Mann, Deutsche Innerlichkeit, der es schon kolossal vorkommt, wenn irgendwo ein Ehebruch erlitten oder gestartet wird … Spezi von Thomas M. Daher der Nobelpreis, sehr treffend und passend innerhalb dieses moddrigen Europa.“ Zehn Jahre nachdem dieser Brief geschrieben wurde, empfanden die jüngeren intellektuellen Leser den bundesrepublikanischen Erfolg von Hermann Hesse als Teil jener auch literarischen Restauration, innerhalb derer Hesse wie Bergengruen in Lyrik und Prosa als ernsthafte Schullektüre galten, der wir privatim schon die Radikalität Benns und den intellektuellen Horizont von Robert Musil, Hermann Broch und nicht zuletzt Thomas Mann entgegensetzten. Davon hat sich das Ansehen Hesses bei meiner Generation nicht mehr erholt; Alfred Döblins Gesamturteil „Langweilige Limonade“, von dem wir erst später erfuhren, erntete da bei uns nur noch kichernd abwinkende Zustimmung, und was nun nicht Autoren, sondern Wissenschaftler angeht, so verstehe ich zwar das positive Urteil eines Germanisten wie Oskar Seidlin über Hermann Hesse, aber die mit der Literatur des 20. Jahrhunderts so erfahrenen Ernst Robert Curtius und Hans Mayer unter den Lobrednern Hermann Hesses zu sehen, erstaunt mich doch bis heute. Insgesamt kann man die Geschichte der Entdeckungen und der sich zuerst im ‚Untergrund’ und dann ganz offen verschiebenden Bewertungen von Autoren als ein Teilphänomen jener Phase der unmittelbaren Nachkriegsliteratur betrachten, in der eine Wiederentdeckung der deutschen literarischen Vergangenheit, insbesondere der großen Autoren des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts passierte und die bis ungefähr 1960 dauerte; es war die Re-Orientierungsphase nach dem Informationsdefizit, welches das Dritte Reich verursacht und hinterlassen hatte. Günter Grass bekannte sich 1980 öffentlich zu „meinem Lehrer Alfred Döblin“ und es erschien eine Neuausgabe der berühmten Anthologie „Menschheitsdämmerung“, nachdem vier Jahre vorher Gottfried Benn die „Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts“ herausgegeben hatte; die „seltsamen“ literaturgeschichtlichen Wanderungen im Nebel hatten aufgehört.
Der neue bzw. auch der fortdauernde Hesse-Boom, von den amerikanischen 68er kids bis zu der offenbar – wenn auch leicht reduziert – fortdauernden Erfolgsgeschichte bis in die deutsche Gegenwart hinein, mitsamt des – wenn ich richtig informiert bin – Erfolges des Autors in China, Korea und Japan ist zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen und seinerseits zum Gegenstand funktionsgeschichtlicher Untersuchungen zu machen (um den guten alten Ausdruck der „Ideologiekritik“ zu vermeiden). Daß Hermann Hesse an so vielen Orten und auch in Deutschland noch immer so viel – sagen wir einmal neutral und schnöde – „Anklang“ findet, zeigt, daß seine Bücher eine ‚Funktion’ erfüllen; wenn auch die beiden Seiten nicht genau voneinander zu trennen sind, steht doch zu vermuten, daß es keine primär literarische, im genauen Sinn ästhetisch-erkenntnismäßige Funktion ist, sondern eher eine, die Brecht mit einem hübsch häßlichen Wort „inhaltistisch“ genannt hätte. Man kann auch sagen: Hesses Literatur hat einen fortdauernden Gebrauchswert, zunächst einmal seine Lyrik. Aber auf die Beschäftigung mit dieser Lyrik ist wiederum kaum jemand ernsthaft einzuschwören, der die große Lyrik des 20. Jahrhunderts kennt, welche aber offenbar sozial unverzichtbar ist – die „Stufen“ werden von meiner eigenen bis zu heutigen Abiturfeiern mit und zur Weihe rezitiert und erfüllen offenbar die Funktion einer rituellen Tröstung in Zeitläuften, die keinen religiös-metaphysischen Trost mehr hat und keine Feier- und Trauerrituale und die sich also auf eine Art ökonomisch allgemeinen größten gemeinsamen Nenner von Sinn- und Ermahnungsformeln einigen muß: und so was ist halt zum Beispiel das Gedicht „Stufen“, dessen Verlesung durch Durs Grünbein am Grabe eines großen Verlegers und Verehrers Hermann Hesses man nur übergehen kann mit dem, was sich am offenen Grab eines Menschen, den man geliebt hat, ziemt, nämlich mit Pietät.
Wie, genau, aber sich der jeweilige Gebrauchswert von Texten von Hermann Hesse darstellt, dürfte sehr verschieden sein je nach Alter, Bildungsgrad und Land, es dürfte verschieden sein bei koreanischen Studierenden und Professoren, die in einem Land mit rapiden Traditionsverlusten leben und deren allgemeines Lebensgefühl ein schwindelerregend zunehmendes Lebenstempo und das Gefühl der Entwurzelung sind, da in wenigen Jahrzehnten dem Land der Übergang von einer agrarischen zu einer hochindustrialisierten Gesellschaft aufgezwungen wurde, und der Fall dürfte bei amerikanischen High-School-Kids anders liegen als bei deutschen Schülern und Studenten, die Hesse „irgendwann durch eine verlängerte Pubertät begleitet, um anschließend wieder aus dem Blickfeld zu verschwinden“, wie Alexander Košenina neulich formulierte … da scheint die Sache so altersbedingt zu sein und so flüchtig wie früher Karl May-Lektüre: Hermann Hesse als Lebensabschnittsbegleiter in einem gewissen Stadium der Welt- und Lebensorientierung, was verdächtig also nur dann wäre, wenn dieser Lebensabschnitt sich ins weitere Leben hinein ausdehnte und Hesse-Lektüre fortgesetzt würde. Und der Fall liegt sicher noch einmal etwas anders bei dem israelischen Soldaten, der mit Rucksack und Uzi im Flughafen Sde Dov auf seinem Stahlhelm ganz versunken saß und in deutscher Sprache Hesses „Glasperlenspiel“ las, bis wir nach Rosh Pina abflogen. Jenseits des literarisch-ästhetischen Urteils über das Werk von Hesse, oder sozusagen noch ‚vor’ einem solchen Urteil müßte man unter funktionalen und psychologischen Gesichtspunkten diese Reaktionen auf das Werk von Hesse untersuchen; mich würden Tiefen-Interviews mit amerikanischen, chinesischen und deutschen Jugendlichen interessieren, wohlgemerkt, nicht einfach nur Gespräche, sondern um dies als methodisches Ideal zu formulieren unter psychoanalytischer Anleitung ausgearbeitete bzw. geführte Interviews nach dem Modell der Befragungen bei Motivationsforschern, die dem product placement vorarbeiten und – nach Vance Packard – die Strategien im Reich der Wünsche planen helfen; so würde man vielleicht Genaueres sagen können über die Wunsch-, Tagtraum- und Identifikationsstrukturen der weltweiten Hesse-Fans. Vermuten kann man allerdings, daß die eigentlichen Erfolgsphänomene „Unterm Rad“, „Demian“, „Siddharta“ und „Der Steppenwolf“ sind und erst in zweiter Linie die Erzählungen und „Das Glasperlenspiel“ auf zahlreiche Leser kommen, und vermutlich sind die Leser seiner Gedichte wieder großenteils andere als die Leser seiner Prosa; interessante lesersoziologische und lesepsychologische Untersuchungen ließen sich hier mit Sicherheit anstellen, etwa auch bei den deutschen Studenten, deren literarische Kenntnis inzwischen zum Teil so gering und ihre Schulung an komplexeren Texten so dürftig sind, daß sie Gedichte Hesses ernsthaft gut finden, die vor zwanzig, dreißig Jahren auf puren Hohn gestoßen wären; offenbar ist literarische Bildung kein Kontinuum, sondern kann in kürzester Zeit starker Regression unterliegen. Und vermuten kann man auch, daß die beliebtesten Texte Hesses etwas für Ratsuchende sind, die aber nicht genaue und bindende Forderungen und Sinnversprechen bekommen wollen, sondern so etwas wie die Versicherung, daß ihr Verunsichert-Sein edel ist. Daß sie vage „wollen“, daß sie „werden“ und daß sie jedenfalls nicht so erwachsen werden sollten, wie alle es wurden, sondern „anders sein“ und anders bleiben sollten, auf eine sanft rebellische, entschiedene aber kaum aggressive Weise anders – das ist die ungenaue Botschaft, daß ungenauer Idendifikationsangebot der Texte. Eine Sehnsucht nach Anarchie – was immer das genau heißen mag – oder doch ein Schuß davon ist als Ingrediens beigegeben, viel Naturmystik und ‚allgemeine’, fernöstlich tangierte Religiosität, die aber nicht auf Forderung und Bindung abhebt, sondern eher Freiheit und Wohlsein bei vage-höchster Verpflichtung als wünschenswert suggeriert. Strengere Lehre, verpflichtendes Dogma würden ja nicht das leicht Rebellische schüren, dem doch zunächst Freiheit von und die Freiheit zu vorausprojiziert werden muß, damit der Wunsch nach Gefolgschaft entsteht. Die Sinnsuche, auf die alle sich machen müssen – das ist mehr oder weniger stillschweigender Konsensus –, entspricht einem Zeitalter der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (sozusagen), und geboten wird eine allseits offene Popular-Version davon, die sich kombinieren läßt mit jeweiligen generationsbedingten Rebellionen, die sich transkulturell und überzeitlich immer als an der Tagesordnung empfinden lassen. Eine Literatur, die solche Identifikationen auf der Basis von bestimmten Wertangeboten machen will, darf dem keinen Widerstand im Sinn literarischer Komplexität entgegensetzen, darf keine ästhetischen Hindernisse bieten, sie muß sprachlich edel-konventionell sein. Eine der wichtigsten Belohnungen, die die oben genannten Bücher Hesses aussetzen, ist die, daß man sich als sich identifizierender, in der Welt eingeklemmter Leser feiner und nachdenklicher und leidensfähiger dünken darf als die Masse, als die „Bürger“, als die normalen Dickhäuter. Über Sexualität muß zugleich ganz freizügig und metaphernreich, kurz: poetischer gesprochen werden als es üblich war bzw. ist bei amerikanischen wie bei deutschen Jugendlichen. Detailrealismus ist auf diesem Gebiet zu vermeiden (etwas ironisch in Rezepturmanier gesagt), aber bei der angedeuteten Wildheit und zugleich Kultiviertheit im Sexuellen, die natürlich immer mehr als nur sexuell ist, entsteht der durchaus richtige Eindruck, daß man darüber wirklich anders reden könnte und sollte, so, daß etwas an Zärtlichkeit, Durchgeistigung und Geheimnis, das insbesondere für die suchende und tastende Jugend damit verbunden ist, gewahrt bleibt bzw. seinen Ausdruck bekommt. Ich meine das durchaus nicht nur ironisch oder gar spöttisch; vielmehr scheint mir dies auf ein Bedürfnis zu deuten, dem aber vielleicht nicht gerecht zu werden ist, nämlich dem, jenseits totaler technischer Aufgeklärtheit und Libertinage noch eine weitere Sprache zu finden.
Insgesamt hat die Hesse’sche Weisheit ja etwas Vages, zwar Geheimnisvoll-Feinsinniges, aber auch zum Gemeinplatz Verdünntes, und genau da steckt die Attraktivität und Wirkungsmöglichkeit – wenn man es als Leser nicht so ganz genau wissen will, wie es entweder die Dogmatik verkündet oder die Sachdisziplinen von Buddhismus, Shintoismus, Taoismus und Hindu-Mythologie es einem eigentlich abverlangen, wenn man sich ernsthaft in die Materie versenken würde. Nun sind Dichter nicht zu wissenschaftlicher Exaktheit verpflichtet, und alles, was ihre Kreativität fördert, ist grundsätzlich zu Inspiration oder Ausplünderung erlaubt, doch wieviel verliert ein Werk an Bündigkeit, an Verpflichtendem, wenn man den Stand des Wissbaren ignoriert und etwa, wie Hesse beim „Siddharta“ sich willkürlich in Widerspruch zum historische Siddharta Gautama begibt, indem man den Buddha im Sinne des Taorismus ‚überformt’, so daß der Romanheilige dann „indisch gekleidet (ist), seine Weisheit aber näher bei Laotse steht“ und eher zur Liebe im christlichen Verstande des Wortes führt als ins Nirwana? Man könnte sogar überlegen, ob solche Art des willkürlichen, stimmungshaften Vorgehens, das die Religionen zum weltanschaulich und ästhetisch konsumierbaren Mêlée zusammengießt, nicht gerade in dem Sinn „feuilletonistisch“ ist, wie dies Hesse selbst am Zeitalter gegeißelt hatte.
Ulrike Gfrereis, die neue Leiterin der Abteilung Ausstellungswesen am Deutschen Literaturarchiv in Marbach machte bei der Eröffnung ihrer Ausstellung zur Entstehungsgeschichte des „Glasperlenspiels“ im Mai eine kleine giftige Nebenbemerkung, sie habe bei der Vorbereitung entdeckt, daß die Germanisten sich gar nicht so intensiv um Hermann Hesse gekümmert hätten, um’s milde auszudrücken. In der Tat, wie schon skizziert, steht Hesses Werk als Forschungs- und – das muß man beim akademischen Betrieb der Ehrlichkeit halber dazusagen – Profilierungsgegenstand in der Germanistik nicht sehr hoch; dies Werk wird, vielleicht gerade auch in Zusammenhang mit seinem Erfolg bei den Jugendlichen der Welt, seinem Rang nach eher skeptisch eingeschätzt, und man hatte übrigens den Eindruck, daß sogar Siegfried Unseld sich ein bißchen schämte, über Hesse promoviert zu haben, wenn er doch zugleich der Verleger von Samuel Beckett, Bert Brecht und Friederike Mayröcker war. Nun ist es immer mißlich, sozusagen schachernd und wiegend dem einen Werk etwas mehr Rang und Gewicht zuzusprechen und dem anderen etwas weniger, und literarische Wertung ist mit gutem Grund keine wissenschaftliche Disziplin, sondern ihrerseits ein wissenschaftlicher Gegenstand. Andererseits gibt es, wie wir alle wissen, einen Rangunterschied sagen wir zwischen Franz Kafka und Ernst Wiechert, auch wenn wir zu dessen Kennzeichnung auf nicht-wissenschaftliche emphatische Termini zurückgreifen müssen. Mir scheint, daß – jetzt einmal abgesehen vom verschiedenen Rang einzelner Werke Hesses – sein Werk als ganzes in eine nicht zufällige, es charakterisierende Nähe zu den Werken von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt und Thomas Mann (natürlich) gerät. Hermann Hesse gehört nicht nur dem Geburtsjahr nach zu einer Generation und Gruppe von bedeutenden Autoren, deren Kennzeichen im Rückblick über das 20. Jahrhundert und vor allem dessen erste Hälfte etwas ist wie Moderne-Vermeidung. Sie sind alle zwar berührt von den Grundlagenkrisen der Künste um 1900, die Symptome für die Auflösung der Sicherheiten in den Künsten wie in den Wissenschaften finden sich bei ihnen auch, vom Sprachzweifel über die Psychoanalyse bis zur Relativitätstheorie und der Astrophysik, aber es werden keine radikalen Konsequenzen gezogen, die Krise wird in allen möglichen Gestalten beredet, zum Teil melancholisch kurz, zum Teil uferlos redend (wofür Hofmannsthals Chandos-Brief und Thomas Manns „Zauberberg“ stehen könnten), die Psychoanalyse wird umgedeutet – das heißt, die Revolution wird abgewendet und verharmlost, jene Revolution, für die van Hoddis’ Gedicht „Weltende“ und Franz Kafkas „Urteil“, die Prosa von August Stramm, von Franz Jung oder Döblin stehen, jene Moderne, die für Deutschland bzw. Mitteleuropa heißt Dada und die für England Virginia Woolf mit dem wunderbaren Satz gekennzeichnet hat: „Around december 1910, human nature changed.“ In diesem Sinn ist das Werk Hermann Hesses vor 1910 geblieben, es ist vor-modern, insbesondere seine Lyrik. Die tiefen Beunruhigungen des Zeitalters nimmt er zur Kenntnis, aber sie schlagen nicht durch auf seine poetische Diktion, auf seine Formen, seine Erzählverfahren, und das zeigt sich dann auch im Schlecht-Abstrakten, Feinsinnig-Müßigen des „Glasperlenspiels“, was Hesse dann den Protagonisten selbst noch erkennen läßt, aber es bleibt dann doch nur ein vages Reife- und Stufen-Gebot, nicht-vermittelte Didaxe, feinsinniges Ratgebertum; polemisch gesagt: die Großstadt im „Steppenwolf“ ist etwa so großstädtisch wie Zürich in den zwanziger Jahren, oder, nehmen Sie’s als Metapher: Es fehlt dem Werk Hesses radikale Großstadt-Erfahrung auf einen Seite und auf der anderen die Kraft, Rebellion nicht nur zu erträumen und zu erleiden, sondern sie aktiv und aggressiv auszutragen, und das würde bedeuten, daß dies doch auch bei einem Künstler auf die sprachlich-ästhetische Gestalt seiner Werke durchschlagen muß. Für den Hesse-Leser, der in der Lektüre nicht nur Identifikationsmöglichkeiten sucht, Erfahrungen, die er seinen eigenen ein Stück weit gleichsetzen kann, so daß er sich verstanden und bestärkt fühlen kann, steckt die Schwierigkeit schon allein in den Folgerungen, die man aus der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu ziehen bereit ist oder sich gezwungen sieht. Gewiß kann man nicht vom Apfelbaum verlangen, er solle Birnen tragen, aber wenn nicht alles gleich gültig sein soll, kommt man um die Wahrnehmung nicht herum, daß 1909, als „Unterm Rad“ erschien, Carl Einstein gerade „Bebuquin, oder die Dilettanten des Wunders“ abgeschlossen hatte, daß 1919 „Demian“ erschien, aber auch Texte wie Franz Jungs „Der Fall Groß“ oder Walter Serners „Letzte Lockerung. manifest dada“, Ende der zwanziger Jahre erscheinen sowohl der „Steppenwolf“ wie auch Hermann Brochs „Schlafwandler“ und 1943 bzw. 1947 das „Glasperlenspiel“ wie auch Thomas Manns „Dr. Faustus“. Hesse bleibt befangen und versponnen in kleinstädtische Bildungs- und Entwicklungsprobleme, und das begrenzt seinen Rang und seine Reichweite, wie seine Radikalität sogar im bewundernswerten „Steppenwolf“, wo er unbarmherzigen Analysen am nächsten kommt, weder an die Härte Knut Hamsuns noch an die gargantueske, sowohl kapitalismuskritische wie ungeheuer komische Großstadt-Epik Henry Millers in „Tropic of Capricorn“ herankommt, ein Buch, das ja auch ein Entwicklungsroman ist, aber eben nicht nur, und dessen Skandalwert inzwischen verblaßt ist gegenüber seinem Charakter als Porträt des menschenzerstörenden Wahnsinns der Großstadt New York in den zwanziger Jahren. „Wissenschaftlich“ ist das Problem der Gewichtung von literarischen Werken nicht zu lösen, aber es ginge zugleich, wie wir auch wissen, nicht an, alles für relativ und zu Geschmacksfragen zu erklären. Am fruchtbarsten ist es wohl, solche Fragen einer unablässigen Diskussion zu überantworten und nicht recht haben zu wollen, sondern sich gute Argumente einfallen zu lassen.
Was einen an Werk und Existenz Hermann Hesses immer wieder besticht, sind seine in vielen Jahren bewährte humane Gesinnung, seine Haltung zum Ersten Weltkrieg und nicht zuletzt etwas, das ich früh entdeckt habe und dessen Kenntnis man jetzt mit dem Fortschreiten der neuen Hesse-Ausgabe ausbauen kann. Ich meine Herman Hesse als Vor-Leser und Ratgeber in literarischen Dingen, als Rezensent und Literaturkritiker. Die „Bibliothek der Weltliteratur“ von 1929 ist ein Ratgeber im besten Sinne des Wortes, und der Literaturkritiker Hesse überrascht durch eine große Zahl von Urteilen über Bücher, zwischen 1900 und bis zum Ende der vierziger Jahre, die klug und unkonventionell sind: Er erkennt den Rang der Prosa sowohl Rudolf Borchardts wie Sigmund Freuds und Kafkas, er schreibt eindringliche Porträts nicht nur Mörikes, sondern weist auch auf Christian Wagner hin, er plädiert für Diderots „Jacques le fataliste“ und macht bis heute wertvolle Hinweise auf Elemente expressionistischer Prosa. Vielleicht kann man zusammenfassend und ein bißchen provozierend sagen, daß Hermann Hesse als Kritiker moderner ist denn als Autor, daß er die Möglichkeit nicht hatte oder auch die Notwendigkeit nicht sah, bestimmten literarischen Einsichten in seinen eigenen Texten nachzukommen.
Ich weiß nicht, ob Peter Weiss und Arno Schmidt vom Unterscheidungsvermögen des Kritikers Hesse wußten oder ob sie ihm aus anderen Gründen ihre Aufwartung machten und ihre frühen Werke ihm präsentierten, wobei die Begeisterung für den „Steppenwolf“ eine wichtige Rolle gespielt haben dürfte. Ich möchte zum Schluß eine Postkarte zitieren, die bisher nicht publiziert ist und die in komprimierter Fassung das „bewundert viel und viel gescholten“ des Werkes von Hesse und des Urteils darüber enthält, von dem hier die Rede war. 1949/50 liest Hermann Hesse Arno Schmidts erstes Buch „Leviathan“, einen Band mit drei Novellen, wobei die Titelnovelle nicht nur von einer tödlich endenden Flucht aus Görlitz im Februar 1945 erzählt, sondern dies in eine Art Weltmodell modernster philosophisch-physikalischer Provenienz hineinstellt. Hesse erkennt die Qualitäten dieses Buchs, macht aber anläßlich des aggressiv-besserwisserischen Tons des Buches einige einschränkenden Bemerkungen zu dessen vermutlich etwas unangenehmem Charakter: „Vom Verlag Rowohlt bekam ich ein dünnes Buch mit drei Erzählungen zugeschickt, „Leviathan“ von Arno Schmidt. Das ist nun, im Gegensatz zu fast allen seinen Kollegen, ein junger Intellektueller und Dichter, der nicht nur mit dem Untergang des Abendlandes von Herzen einverstanden ist, sondern auch den Untergang der Menschheit glühend wünscht und in naher Zukunft errechnet. Es geschieht in dem kaltschnäuzigen Ton des modernen Desperado, der den Krieg und alle Teufeleien unsrer heutigen Welt mit angesehen und ausgekostet hat, mit einem berechtigten und legitimen Pessimismus und einer begreiflichen Aggressivität also. Das wäre für sich allein nicht interessant. Der Weltkatzenjammer ist nicht mehr um Ausdrucksmittel verlegen. Aber hier ist nun ein wirklicher Dichter, der seinen Ekel uns ins Gesicht spuckt, und schon der von Hiob und Jesaja, aber auch von J. Green her mit Assoziationen gesättigte Titel „Leviathan“ verspricht mehr als nur ein existentialistisches Feuilleton. Dieser junge schnoddrige und sehr begabte Dichter, der schon in mythischen Vorexistenzen den Plato zur Strecke gebracht, den Dämon Leviathan erkannt und sich mit Berechnungen über die Liquidierung der Menschheit befaßt hat, ist ein etwas gefährdeter und möglicherweise nicht ungefährlicher, aber echter Visionär. Und auch seine etwas kokett betonte Liebe zum scheinbar exakten, zu Mathematik und Astronomie ist nicht die naive Liebe des gläubigen Logikers, sondern die glühende und nervöse des Phantasten und Häretikers.“
Das liest nun wiederum Arno Schmidt und schickt unterm 22. 5. 1950 eine eng beschriebene Postkarte an Hesse, die ich Ihnen zu Gehör bringen möchte:
„Sehr geehrter Herr Hesse!
ROWOHLT sandte mir Ihre Beurteilung: Schade! Sie ist bedauerlich flach.
Auf das Wort „Weltkatzenjammer“ hat schon NIETZSCHE dem D. F. STRAUSS die rechte Antwort gegeben. – Meine Liebe zur Mathematik ist nicht „kokett betont“: ich habe das Fach studiert, jahrelang als Geodät gearbeitet, und eine 500 Seiten lange Logarithmentafel hergestellt; „Fachsimpelei“ hätten Sie verantworten können. – Statt „HIOB“ wäre besser „HOBBES“ zitiert worden; eine biblische Autorität genügt. – „Jung und schnoddrig“: habe mokant gelächelt, ich bin nämlich schon 40 durch. – u.s.w. –
Sie wissen aus meinen früheren Schreiben, daß Sie mit dem „STEPPENWOLF“ einer der Götter meiner Jugend waren; ich hoffte, daß Sie das Lehrgebäude des LEVIATHAN nicht mit dem schnoddrigen b i d a m a g b u d e n abtun könnten. Schade.
Als Gegengabe will ich Ihnen mein Urteil über Ihr Werk senden: Ein begabter Dichter; weich und faltig. Zweierlei fehlt ihm: naturwissenschaftliche Kenntnisse (oder doch deren Einwirkung und Auswertung), und das Erlebnis folgender Urphänomene: Soldat sein müssen, Krieg, Kriegsgefangenschaft, Hunger. Also kennt er ausreichend nur die friedliche Seite des Menschen. Ein Glücklicher. Dies bezeichnet seine Stellung in der Literatur: „Die Stimme eines Sängers, die zwar keinen großen Umfang hat und nur wenige Töne enthält, aber diese gut und von schönstem Wohlklange.“
(Ich halte mich für keinen Kammersänger: aber Leute über 40 bekommen in Deutschland keine Arbeit mehr, werden also zwangsläufig Autoren. – : ich wüßte mir Besseres !)
Ich habe Ihnen noch nicht für Ihre letzte Mitteilung vom Februar gedankt, daß Sie gegen 8 Uhr aus dem kühlen Nebenzimmer Ihr Abendessen zu holen pflegen: ein Töpfchen Joghurt und eine Banane. – Bei uns sind die Wolken noch heute Brandmale.
Ich verbleibe mit tiefer Ehrerbietung für HARRY HALLER (der mich wohl anders angesehen hätte)
Ihr
sehr ergebener
Arno Schmidt.
Der Ton des Briefes klingt verletzt und ist offenbar genau deshalb auch verletzend, und jedenfalls schlägt Schmidt einen ungehörigen Ton an. (Ich wüßte übrigens gern, von dem der Satz über die „Stimme eines Sängers“ stammt, der ja als Zitat gekennzeichnet ist – von einem Romantiker?) Aber einmal herausgefordert, und das heißt: enttäuscht von der Reaktion Hesses rückt Arno Schmidt mit einem Urteil über Hesse heraus, was vielleicht jedenfalls gar nicht so entfernt ist von der Einschätzung vieler intellektueller westdeutscher Leser der bis heute dauernden Nachkriegszeit. Es stehen jedenfalls nur begrenzte Modernisierungs- und Aktualisierungsmöglichkeiten für Hesse zur Verfügung, und ganz bestimmt nicht passend ist jene ‚Modernisierung’, mit der sich der Suhrkamp Verlag bei der neuesten Ausgabe des „Glasperlenspiels“ versucht hat, deren Umschlag nämlich die Glasperlen so zeigt als sähen sie aus wie heutige „What-a-lot-I-got“-Smarties.
Anmerkungen
1 Karlheinz Deschner: Kitsch, Konvention und Kunst. München 1957. Rolf Vollmann: Die wunderbaren Falschmünzer. Bd. 2. Frankfurt/M. 1997.
2 Burkhard Müller: Der Humor des Nachtpfauenauges. Sein Om-Denken ist kein Umdenken, und alle Stufen führen immer zum Jugendwerk zurück: Vor 125 Jahren wurde Hermann Hesse geboren. In: Süddeutsche Zeitung, 2. Juli 2002. Vollmann, a. a. O, S. 1029.
3 Die Formulierung findet sich auf dem Typoskript als Widmung bzw. Untertitel auf dem Typoskript des Gedichts „Verbrüderung“, das Arno Schmidt wohl kurz nach 1930 Hermann Hesse zuschickte, um ein Urteil bittend. Postkarte Arno Schmidts an Hermann Hesse von 22. Mai 1950, im Besitz des Hermann Hesse-Archivs, freundlicherweise mitgeteilt von Volker Michels.
4 Gottfried Benn: An Ernst Robert Curtius. In: Briefe. Wiesbaden 1957. S. 200.
5 Gottfried Benn: Briefe an F. W. Oelze 1945 – 1949. Hrsg. Von Harald Steinhagen und Jürgen Schröder, Band II/1. Wiesbaden/München 1979. S. 58.
6 Vgl. Ernst Robert Curtius: Kritische Essays zur europäischen Literatur. Bern 1954, S. 152 – 168.
7 Vgl. Jörg Drews: „Was ich nun sah, war über alle Beschreibunk!“ Arno Schmidts Kaff auch Mare Crisium und das Ende der ersten Phase der westdeutschen Nachkriegsliteratur. In: Jörg Drews / Doris Plöschberger (Hrsg.): Starker Toback, voller Glockenklang. Zehn Studien zum Werk Arno Schmidts. Belefeld: Aisthesis 2001, S. 73 – 92.
8 Vgl. hierzu Hans Christoph Buch: Wie der Steppenwolf in Seoul seine Heimat fand. Wunder der Globalisierung: Hermann Hesses wahre Fangemeinde lebt in Asien. Ein Koreaner baut dem Dichter das größte Museum. In: Der Tagesspiegel, 17. März 2001.
9 Alexander Kosenina: Weltreligionen im Taschenformat: Auftakt zum Hesse-Jahr. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. April 2002.
10 Vgl. Anon.: Hermann Hesse. Der Guru für die Jugend der Welt. In: Stern. 27. Juni 2002.
11 Georg Lukacs: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. 2., um ein Vorwort vermehrte Auflage. Neuwied am Rhein / Berlin 1963, S. 59.
Jörg Drews: „… bewundert viel und viel gescholten …“. Hermann Hesses Werk zwischen Erfolg und Missachtung bei Publikum und Literaturkritik. In: Hermann Hesse Today Hermann Hesse Heute. Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik. 58/2005, S. 21-31.