Jörg Drews: „ich will das schönste fest der menschheit entwerfen“. Kleines Bekenntnis zu Hermann Nitsch
Die Grünen, die Alternativen, die Landkommune müßten eigentlich bald auf Hermann Nitschs Theaterkonzeption stoßen. Daß sie’s noch nicht getan haben, hängt damit zusammen, daß sie weitgehend auch intellektuell ‚einfacher leben’ wollen, also von einer geistigen Regression bedroht sind. Dabei könnte ihnen doch auffallen, daß ihre Zivilisationskritik und alternativen Lebensentwürfe eine ähnliche Wurzel haben wie die Theater-Vorstellungen, die Fest-Konzepte Nitschs. Beides sind Reaktionen auf die Großstadt, auf die Domestizierung und Verhäßlichung des Menschen zur Plastikfigur, beide leben von einem immer wohlbegründeteren antizivilisatorischen Affekt. Nitsch entwirft Kunst für Städter, Kopfmenschen und Asphalttreter, aber er meint noch Kunst, läßt die Feste nur andeutungsweise für alternative Lebensentwürfe einstehen: Die lugen nur vorsichtig über den Horizont. Alle Ingredienzien aber weisen indirekt, negativ darauf hin, daß das erlebt werden soll, was die Großstadt nicht mehr ermöglicht; zu jedem Gegenstand und jedem Duftstoff, der in Nitschs Partituren auftaucht, könnte man das eindimensionale städtische, technische Gegenteil nennen.
Lau, flach und normiert wie die Pseudo-Exzeß-Erlebnisse, die die Zivilisation heute von der Disco bis zu Twen-Reisen bietet und die nur unterlaufen werden in Geschwindigkeits- und Suchtgifträuschen, in denen sich die nicht zu beseitigende Sehnsucht nach wirklich riskanten Exzessen ausdrückt – lau, flach und normiert ist auch die Alltagsexistenz und deren Ambiente: Man braucht sich nur die Beton-Vorstädte ansehen, um zu merken, welche Dimensionen der menschlichen Existenz hier verlorengehen oder verkrüppeln müssen. „Leben“ ist eine Utopie, auf dem Weg zu ihr rennt man sich den Schädel ein; Nitsch meint, er wolle den „durchbruch der existenz“ mit seinen Festen ermöglichen, was bedeutet; Das Leben lebt nicht, wir müssen erst dorthin kommen, und man könnte das Entfremdung nennen, wenn nicht eben diese Bezeichnung des Problems selbst schon wieder ein Stück Entfremdung signalisierte.
Nitsch weiß natürlich, daß Unmittelbarkeit nicht unmittelbar erreichbar ist, daß sie vielmehr gewissermaßen ‚synthetisiert’ werden muß, unter Einbeziehung von theatralischen, kultischen, psychoanalytischen musikalischen und bildnerischen Elementen (und Sprache bekommt dann ihre Funktion vor allem in der Beschreibung dieser Synthese, also in seinen Partituren und Festentwürfen – weil Sprache eben zeichenhaft benennt und nicht unmittelbar ist). Er versucht, dem Theater etwas von seiner alten, ursprünglichen Gewalt zurückzugeben, etwas vom Radikalen, Exzessiven, Amoralischen der griechischen Tragödie der Frühzeit etwa, der gegenüber ja das heutige Theater eine flache, ärmliche Sache für ein Publikum ist, das bekommt, was es verdient, an kaum einer Stelle zu vergleichen mit der Kühnheit dessen, was in den letzten 100 Jahren in der Prosa oder in der Lyrik passiert ist. Er will dem Ritus als Vollzugsform des Kultus wieder seine Rolle als theatralische Dramaturgie zurückgeben, den Kultus spielerisch restituieren und umgekehrt sowohl in Theater wie in Liturgie, in Kultus wie in Kunstwerk Formen finden, die mit den radikalen Einsichten Ernst machen und sie ‚inszenieren’, die die Psychoanalyse über den prekären Aufbau des Ich auf unterdrückten Trieben hatte und mit denen sie doch eigentlich nur in wissenschaftlicher Terminologie benannte, was der Kern von Theater und Religion ohnehin ist.
Wenn schließlich bei Nitsch die Musik weitgehend auf den Schrei und den Lärm, die Farbe aufs Material-Expressive bzw. aufs Organisch-Intensive zurückgenommen ist, so haben wir es nicht mit Regression und Irrationalismus, eher mit den Insistieren auf bestimmten verdrängten Phänomenen zu tun, die Nitsch ästhetisch zu integrieren versucht in seine Variante des Entwurfs einer ‚Ästhetik des Schreckens’, in seine Konzeption von Theater als zugleich Rekapitulation von Bewußtseinsgeschichte der Menschheit und Entwurf einer Utopie. Das „Orgien-Mysterien-Theater“, von den Einzelaktionen über das 6-Tage-Spiel bis zum Dramen-Monster der „Eroberung von Jerusalem“ und zum Kammerspiel „Harmating das Fest“, ist Gratwanderung und Vermittlungsversuch zwischen dem Ästhetischen und dem Nicht-Ästhetischen, zwischen Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit. Nitsch de-ästhetisierte den Tachismus, aber ästhetisierte die Religion; er will der Kunst wieder ihr dionysisch-dynamisches Element lassen, muß aber dem Exzeß Form geben; er muß an einem Moment von „Abreaktion“ festhalten, darf sich davon aber weder in einem subalternen Sinn „therapeutisch“ noch formal einengen lassen. Welche prekäre Balance da zu halten ist, wenn Ursprung das Ziel ist, ohne daß Regression das Ergebnis sein soll, kann man an zwei zentralen psychischen Komplexen benennen, an zwei Triebwünschen zeigen, an denen er sich irgendwie abarbeiten muß: In einer recht gut abgeschirmten Mitte des ganzen Orgien-Mysterien-Theaters, seiner Theorie und seiner Realisation, stehen das Töten und der Sexualakt, Thanatos und Eros, isoliert und legiert. Man kann Nitschs theoretische Schriften, seine Partituren und dann auch die konkrete Verwirklichung seiner Spielentwürfe als Versuche sehen, an diese beiden zentralen psychischen Antriebe bzw. deren exzessivste Äußerungsformen heranzukommen, ohne daß das Tabu darüber – zumindest das Tabu über die Realisierung des Tötungswunsches – entsprechend gelockert würde. Nitschs Spiele sind schier unendlich variierte Versuche, diese Triebzentren, die zugleich die Zentren psychischer Wahrheit über uns alle sind, in Formen und Symbolen zu umspielen, sie zu ersetzen, die Wünsche zu sublimieren, die Inhalte der Wünsche zu verwandeln: Alles soll symbolisch geschehen, aber es soll tendenziell so intensiv geschehen, als geschehe es wirklich. Das O.M.-Theater ist der Versuch, sich um ein paar Zentimeter näher an etwas Unmittelbares heranzuarbeiten – mittels ästhetischer Vermittlung, mittels Form, die der Schutzschild ist, hinter dem alles geschehen darf und mit dem zugleich alles abgewehrt werden kann, es ist eine mit bewundernswertem Einfallsreichtum ausinstrumentierte Ersatzbefriedigung, was, versteht man die Freudsche Kunsttheorie richtig, überhaupt nicht abträglich gemeint ist. „Ein Fest ist ein gestatteter, vielmehr ein gebotener Exzeß, ein feierlicher Durchbruch eines Verbotes“, sagt Freud in „Totem und Tabu“, ein Fest aber ist ebenso wie ein Kunstwerk ein Ausnahmezustand, in dem das Verbot zwar durchbrochen, aber nur symbolisch durchbrochen werden darf. Nitsch versucht etwas wie die Quadratur des Kreises; seine Spiele wollen „Gestalten mit der Wirklichkeit“, also nicht mit schwächlich-zeichenhaftem Material wie gesprochenem oder gedrucktem Wort oder wie Farbe, sondern mit „realen“ Materialien. Er will so nahe wie möglich an die Wirklichkeit heran, er will seinen Spielen tendenziell das nehmen, was an jeglicher Kunst immer auch ein bißchen lächerlich ist: daß sie nämlich nicht wehtut. Aber es bleibt eben doch beim „Gestalten“, bei der künstlerischen Gliederung und Bändigung der noch so rohen, noch so sehr auf Anarchisches deutenden Materialien. Das Paradox, daß alle Kunst auf etwas anderes als Kunst deutet, aber eben dies nur künstlerisch kann, ist bei Nitsch besonders zugespitzt wegen der Krudheit eines Teils seiner Materialien.
Die Elemente seiner Konzeption sind sozusagen roh und symbolüberfrachtet zugleich. Die Sprachlosigkeit seiner Aktionen und Spiele täuscht: Ihr Ablauf und ihre Bedeutung sind sogar besonders hoch sprachlich vermittelt, sind geradezu literarisch. Seltsamerweise schreibt Nitsch: „mich hat es immer gestört, wenn maler bilderrätsel oder poeten gedichträtsel aufgaben, mich stört das erklärbare der symbole, das bedeutet dies und das bedeutet das“, denn ein ziemliches Maß von Wissen über zumindest die historische Bedeutung bestimmter Symbole und Materialien muß sein Zuschauer doch mitbringen – und sei es, um dieses Wissen im Erleben dann auch suspendieren zu können. „wesentlich ist das transzendieren eines genusses, die registration“, das heißt: Unmittelbarkeit soll in Bewußtheit überführt werden, aber zugleich enthält Nitschs Vorstellung vom Ablauf des 6-Tage-Spiels „ein konzipiertes und verlangtes sich-fallen-lassen des zuschauers, der zu einer „bewußt gesteuerten abreaktion“ kommen soll. Mir scheint übrigens, daß Nitsch eigentlich seine Zuschauer für die Teilnahme an seinen Aktionen und Spielen schulen müßte; sie müßten lernen, wie und wann Konzentration und Lockerung, Reflexion und Genuß, Meditation und Exzess (oder doch innere Offenheit dafür) sozusagen angebracht sind. Das Spiel um die Grundexzesse aller Schöpfung verlangt seltsamerweise von Zuschauern und Teilnehmern Disziplin. Für den Ablauf der mehrtägigen Spiele Nitschs wird das, sollten die Spiele zustandekommen, meiner Ansicht nach das Zentralproblem werden; die Zuschauer müssen zu einem Exerzitium bereit sein, sich eine Selbstkontrolle auferlegen, wenn das Fest nicht an mangelnder Kräfteökonomie aller und jedes einzelnen scheitern und im Chaos enden soll.
Mit der Intention der „existenzverherrlichung“, der „feier der schöpfung“ ist für Nitsch natürlich Abkehr von der Individualität und die Wendung zur Amoralität gegeben: Individuum und Moral sind für die Schöpfung kaum Größen und sicher keine Werte. „das tragische als ausdruckselement der kunst hat seine freiheit bis tief hinein ins grausame, ins scheinbar amoralische. Der ausdruckswille der kunst kann keine grenzen kennen“, schreibt Nitsch, aber wenn es auch zur „tragik“ der Existenz im Nitsch’schen Sinn gehört, daß in ihr auch Tod, Grausamkeit, Böses eine konstitutive Rolle spielen, und wenn auch der moralfreie Verweis auf Grausamkeit als eine Grundwahrheit der menschlichen Existenz innerhalb des Nitsch’schen Spiel-Konzerts notwendig und fundierend ist, so kollidieren bestimmte Elemente der Spielentwürfe doch mit der Moral, sind dann höchstens als „ausdruckselemente“ in einem Text mit Konzept-Charakter zu rechtfertigen, sozusagen als riskante Hinweise darauf, daß da ein Problem ist. „die leiche eines 22jährigen mannes ist mit dem rücken an das tier gebunden“ – das ist eine Spiel-Vorstellung, die eine bestimmte Signalqualität innerhalb der Nitsch’schen Seins- und Theaterkonzeption hat, wo aber die Gefahr auftaucht, daß das Eingeständnis der Tatsache „Grausamkeit“ übergeht in deren lustvolle Bejahung. Mir scheint, daß Nitschs Konzeption sich an zwei Stellen in konsequente Extreme begeben hat, einmal in dem Entwurf „Die Eroberung von Jerusalem“, zum andern in der Partitur „Harmating ein Fest“; die Extreme heißen Ausagieren und Kontemplation (vielleicht sollte man eher Meditation sagen); das eine ist so vulgär wie eine Symphonie, das andere streng wie Kammermusik. „Die Eroberung von Jerusalem“ ist wohl auch das Ergebnis der sich verbrauchenden Ausdrucksmittel, jedenfalls der Angst Nitschs, eine bestimmte Intensität des Ausdrucks bzw. (bei realisierten Spielen) des Eindrucks beim Zuschauer/Mitspieler nicht mehr zu erreichen; zugleich aber hat sie Züge von Gigantomanie und von Ästhetisierung des Schrecklichen statt Ästhetik des Schreckens. Das Unbehagen bei der Lektüre von „Die Eroberung Jerusalem“ liegt nicht zuletzt darin, daß hier der massive Einsatz von Technik, und zwar von unzweideutig destruktiver Technik mitgedacht und eingeplant ist, denn da verläßt Nitsch denn den Bezug auf „Natur“ oder „Schöpfung“ ganz und setzt ein riesig gewordenes und verselbständigtes Instrument menschlicher Grausamkeit an die Stelle von Handlungen und Figuren, die noch menschliche Dimensionen haben. Panzer und Flugzeuge in einem Spiel-Konzept Nitschs wirken pervers, weil sie mono-funktional sind und in ihnen gar keine anderen Funktionen angelegt sind als destruktive. Er sollte darauf vertrauen, daß – und dies ist doch eine konstante Erfahrung auch der Lektüre seiner Partituren – ganz einfache Mittel eben erstaunlich frisch bleiben, bestimmte sinnliche Erfahrungen sich eben nicht abnutzen: Der Beweis dafür ist „Harmating ein Fest“, das, in den Mitteln zurückgenommen, eigentlich nur Nitschs Permutation, Addition, Nuancierung seiner – im Grunde ja ganz wenigen – Grundideen und –ingredienzien fortführt und dennoch außerordentliche Intensität erreicht.
Ich lese Nitsch nicht zuletzt als Utopiker, und seine Theaterkonzeption scheint mir eine der wenigen einleuchtenden Utopien dieser Jahre zu sein. „Er ist mein freund, weil er den hammer schwingt“, schrieb Oswald Wiener vor 12 Jahren über Nitsch, aber mir scheint, daß das schon damals eher ein verlegener Satz war, der einen gemeinsamen Nenner zu formulieren versuchte, den es vielleicht nicht gab; inzwischen aber scheint mir das aggressive, den herkömmlichen Kultur- und Theaterbegriff attackierende Moment von Nitschs Arbeit unwichtiger, das in gewissem Sinn geradezu rührend Konstruktive seiner Konzeption augenfälliger. Sicher steckt in seinen Schriften und Vorstellungen bei aller Gelehrsamkeit auch ein Stück Naivität, auch eine gewisse Simplizität der Grundidee. Aber er ist einer der wenigen, die noch auf so etwas wie Totalität reflektieren, sowohl auf die Totalität des Weltzustandes und der Schöpfung wie auch auf den Menschen als ganzen; seine Theater- und Festkonzeption, die man als den Versuch einer Versöhnung von Natur und Kunst verstehen kann, will den Menschen in allen Schichten erfassen und mobilisieren; Nitsch versucht, ein Defizit auszugleichen, das fast alle Kunst des 20. Jahrhunderts hat: daß sie nämlich Hirnkunst ist. Hier steckt wohl auch das Naive, vielleicht sogar ein bißchen Komische seiner Konzeption: daß das Gesamtkunstwerk ganz nah bei der ländlichen Gaudi angesiedelt ist, die raffinierte Mythencollage von Schrammelmusik begleitet sein soll. Aber solche Kritik ist billige Häme, und der Defekt liegt eher darin, daß wir so verkrampft und voller Abwehr sind, daß so wenige sich heiter, spielerisch und rückhaltlos solchen Aktionen wie denen Nitschs hingeben können. Gerade das Synkretistische, das tiefsinnige und nie genug kriegende Additive seiner Konzeption, die Idee eines Fests, das Mysterium und Volksfest, utopisches Modell und Gelage, Initiation und Sinnenschmaus, gesteigerter Augenblick und zugleich Verweis auf eine mögliche totale Ästhetisierung und Intensivierung des Daseins ist, hat etwas fröhlich Überwältigendes: Es ist einfach zu bestechend zu denken, daß Vergeistigung und Sich’s-wohl-sein-Lassen vielleicht doch unter einen Hut zu bringen wären und Prinzendorf ein besseren Bayreuth. Insbesondere das 6-Tage-Fest, diese Retrospektive auf die psychische Phylogenese des Menschengeschlechts und Utopie von der Versöhnung aller physischen und psychischen Möglichkeiten des Menschen, hat etwas vom Traum, einem Traum voller Unersättlichkeit, voller fröhlich eingestandener Unersättlichkeit, die sich am liebsten die ewige Trunkenheit und den ewigwährenden Orgasmus gleichzeitig wünschen würde: drunter möchte sie’s eigentlich nicht tun.
Allein die Aktionen und das 24-Stunden-Spiel, die Nitsch bereits verwirklicht hat, haben schon heute unser Erfahrungs- und Bilderreservoir ungemein bereichert, haben – ohne daß daraus ein feinsinniger Seelenkult geworden wäre – unsere Sensibilität, unsere Aufmerksamkeit für verschüttete Sinnlichkeiten wachgerufen; das Prinzendorfer Schloß im Sommer hat die Qualität eines Paradies-Bildes. Selbst wenn Nitsch keinen weiteren Entwurf mehr sollte realisieren können, so hätte er doch schon jetzt bei vielen die Ahnung davon gestiftet, was Fest und Festlichkeit sein können, und mit den Fest-Partituren wie „Harmating“ hat er die Suggestivkraft der Sprache so vorgeführt wie sonst in diesem Jahrhundert nur (mit Verlaub:) die Pornographie. Am Ende ist es wahrscheinlich einfach so, daß Nitsch eben die Menschen gern hat und sich deshalb in den Kopf setzte: „ich will das schönste fest der menschheit entwerfen.“
Jörg Drews: „ich will das schönste fest der menschheit entwerfen“. Kleines Bekenntnis zu Hermann Nitsch. In Protokolle 1981/2, S. 19-24.