Jörg Drews: Arno Schmidt. Für die einen Außenseiter für die anderen Mittelpunkt der deutschen Literatur nach 1945
Die einen halten ihn bis heute für einen Außenseiter; für die anderen war und ist er – mit Alfred Andersch zu sprechen – einer der „geheimen Mittelpunkte“ der deutschen Literatur nach 1945. Die einen halten ihn für einen Autor, der in seinen Anfängen links und aufklärerisch – oppositionell eingestellt war, später aber sich zum kulturkonservativen, fast reaktionären Esoteriker wandelte; die anderen meinen, er sei schon immer in seinen Grundüberzeugungen eher konservativ gewesen. Die einen halten ihn für einen späten Nachfahren des Expressionismus, der später dann abstrus-umfangreiche, mit Theorien befrachtete Romane geschrieben habe; die anderen – darunter etwa Hans Wollschläger – schreiben ihm eine große, ganz einzigartige schriftstellerische Leistung zu, die, säßen nur andere Leute in der Stockholmer Akademie, ihm den Nobelpreis hätte eintragen müssen. Die einen erstarrten vor seiner offensichtlichen Gelehrsamkeit, vor der Fülle der Zitate, die in seinem Werk versteckt sind; die anderen behaupten hartnäckig, diese Gelehrsamkeit brauche niemand abzuschrecken, da fast alle seine Bücher auch durchaus als spannende Stories, als Geschichten zu lesen seien, aus denen auch über die Entwicklung von Alltag und sozialem Leben in unserer Bundesrepublik in den fünfziger und sechziger Jahren viel zu entnehmen und wiederzuerkennnen sei. Die einen meinen, er sei bis heute nur ein kurioser „Geheimtip“ geblieben, habe sich nie richtig „durchgesetzt“ bei einer breiteren Leserschaft; die anderen verweisen darauf, daß sowohl seine gebundenen wie auch seine Taschenbücher doch in immerhin insgesamt 600000 Exemplaren verbreitet seien, also doch Tausende von Lesern gefunden hätten. Zweieinhalb Jahre nach seinem Tod am 3. Juni 1979 schwankt so immer noch das Bild Arno Schmidts im Bewußtsein der deutschen literarischen Öffentlichkeit, gehen die Urteile über dies umfangreichste von einem deutschen Autor nach 1945 geschaffene Werk weit auseinander. Der Fall scheint’s in sich zu haben und einer näheren Betrachtung wert zu sein.
Ein Egozentriker, ein Solipsist – aber welthaltig
Paradoxerweise ist dies vielfältige literarische Werk, das der am 18. Januar 1914 in Hamburg geborene Autor geschaffen hat, auf einer schmalen Basis angesiedelt, die Schmidt aber mit immensem Fleiß, mit großem Einfallsreichtum zu einem ganzen Kosmos von innerlich zusammenhängenden Büchern ausbaute. Schmidt hatte immer darauf verzichtet, in dem Sinne „zeitgenössisch“ zu sein wie etwa Heinrich Böll oder Martin Walser oder auch Alfred Andersch. Seine Romane und Erzählungen, seine Radio-Essays und Biographien waren vielmehr von Anfang an ganz unverwechselbar geprägt, sozusagen imprägniert von den Vorlieben und Abneigungen, die er selbst, dieses überall durchspürbare Ich Arno Schmidt hatte; alles, was er schrieb, war vermittelt und gelenkt einzig durch die spezifischen Erlebnisse und Interessen dieses Ich-Erzählers.
Doch gerade in seinen ersten Büchern, dem Erzählungsband „Leviathan“ von 1949, den Romanen „Brand’s Haide“ und „Aus dem Leben eines Fauns“ von 1951 bzw. 1953, der Erzählung „Der Umsiedler“ (1953), dem Roman „Das steinerne Herz“ von 1956, ja sogar in der Science-Fiction-Erzählung „Die Gelehrtenrepublik“ von 1957 wird von Erlebnissen und Erfahrungen, von Ängsten und Phantasien berichtet, die durchaus geteilt werden konnten von vielen Lesern der fünfziger Jahre. Der aus der englischen Kriegsgefangenschaft im Spätsommer 1945 zurückgekehrte Artillerie-Unteroffizier erzählte von Erfahrungen, die so oder ähnlich viele Angehörige seiner Generation gemacht hatten: Kleinbürgerliche Existenz im Dritten Reich und danach, Kriegsende, Flucht, Flüchtlingsdasein, langsames Wieder-auf-die-Beine-kommen in den fünfziger Jahren, Angst vor einem neuen Krieg, der aus dem Ost-West-Konflikt entstehen könnte, usw. Er hätte beinahe so etwas wie ein „Volksschriftsteller“ werden können. Aber was Schmidt da an Wiedererkennbarem darstellte, war zugleich – und das irritierte die Kritik bis weit in die sechziger Jahre – fühlbar von etwas anderem durchsetzt und überlagert. Dies andere waren einmal die Interessen und zum anderen die Sprache Arno Schmidts: sie waren so persönlich, so versponnen und zugleich so radikal verschieden von dem, was an Ansichten und an Sprachbehandlung in jenen Jahren gängig war, daß durchaus eine Aufnahme seiner Bücher durch eine breitere Leserschaft quasi sabotiert wurde.
Man spürte, daß dieser Autor die Umwelt so böse genau er sie auch schilderte, so liebe voll gerade viele „kleine Leute“ darin beschrieben werden – doch nur wie ein übles Hindernis betrachtete, das seiner Selbstverwirklichung im Wege stand; was ihn allein zu interessieren schien, waren verschollene Bücher, die er lesen und propagieren wollte, und die eigenen Bücher, die er schreiben wollte. Und seine Sprache knüpfte an den durch das Dritte Reich verdrängten und ausgelöschten Expressionismus an, an Autoren, derer man sich kaum noch erinnerte: August Stramm und Albert Ehrenstein in der Lyrik, Alfred Döblin und Otto Nebel in der Prosa zum Beispiel. Seine Prosa war eigentümlich nüchtern und präzise, dabei pathetisch und von großem Bilderreichtum, auch durchsetzt von vielen gedrängten Wortneubildungen.
Was sich da darstellte – und was eben diese Mischung aus linken Ansichten, verstehbaren sozialen Erfahrungen, Natur- und Literaturbegeisterung von kaum noch bekannter Intensität für eine kleine, aber später wachsende Gemeinde von Lesern auch besonders attraktiv war –, war dieses erzählerische Ich in den Büchern Schmidts, das mit einem verbissenen Selbstbewußtsein ganz private, sozusagen a-soziale Ideale verfolgte: sich von allen sozialen Bindungen zu lösen und einen Freiheitsraum zu erreichen, in dem es sich rücksichtlos und glücklich jenen Beschäftigungen und Werten widmen konnte, die die Masse verachtet: reine Wissenschaft – von der Mathematik bis zur Astronomie – und reine Literatur, von dem deutschen Autor Christoph Martin Wieland bis zum amerikanischen Autor Edgar Allen Poe. Schmidt war antiklerikal, war antimilitaristisch, war aufklärerisch gesonnen, und zugleich war er ein von Arthur Schopenhauer beeinflußter Misanthrop, resigniert, menschenverachtend und einsamkeitssüchtig; in dem Kurzroman „Schwarze Spiegel“, den er 1951 veröffentlichte und der im Jahre 1960 spielt, nach einem schon für 1955 angenommenen Atomkrieg, konnte er ohne zu zaudern sagen: „Das Experiment Mensch, das stinkige, hat aufgehört!“ – der Erzähler ist einer der wahrscheinlich letzten europäischen Menschen, und er baut sich nun, tief melancholisch, aber unverdrossen, ein Robinson nach dem ABC-Krieg, in der Lüneburger Heide eine Sonderexistenz auf; endlich kann er sich in seinem Blockhaus mit den Büchern umgeben, die er schon immer um sich haben wollte. Gerade daß die Unwahrscheinlichkeit, daß ein letzter, völlig einsamer Mensch eine solche hoffungslose Isolation ohne schwere Depression durchstehen würde, von Schmidt in den „Schwarzen Spiegeln“ ganz a-psychologisch und unrealistisch außer Betracht bleibt, deutet darauf hin, daß diese Erzählung die Funktion eines – für die Person Schmidts sehr aufschlußreichen – Wunschtraums hatte: „Und ich war erst Anfang Vierzig; wenn Alles gut ging (?), konnte ich noch lange über die menschenleere Erde schweifen: ich brauche Niemanden!“
Ein Kosmos wird geplant
Betrachtet man in Kenntnis seines späteren Werkes seine ersten publizierten Texte, diese teils pessimistische und einzelgängerische, teils aber auch jünglingshaft begeisterte Prosa voller Tempo und Überraschungen, so läßt sich fast eine Art Programm herauslesen für seine weitere Arbeit. Immer wieder fallen die Namen von bestimmten Autoren, die er hoch schätzte und die später in seinen Büchern und Essays eine Rolle spielen würden. Karl May und der vergessene, zweitrangige Romantiker Friedrich de la Motte-Fouqué werden erwähnt – 1958 erscheint dann Schmidts Biographie „Fouqué und einige seiner Zeitgenossen“, 1963 die psychoanalytische Untersuchung „Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk und Wirkung Karl May’s“. Poe und James Fenimore Cooper werden immer wieder rühmend angeführt – in den sechziger Jahren übersetzt Schmidt dann (zusammen mit Hans Wollschläger und anderen) die Werke Edgar Allen Poes und unterwirft ihn psychoanalytischer Durchleuchtung in seinem Riesenroman „Zettels Traum“; in den siebziger Jahren übersetzt er Coopers „Littlepage-Trilogie“. Aus den deutschen Autoren Wieland, Tieck und Wezel wird immer versteckt oder offen zitiert, wenige Jahre später macht er sie zum Gegenstand von literarhistorischen Dialogen, die im Funk gesendet werden und ihm das Überleben in den fünfziger Jahren sicherten. Bis in seine letzten Bücher hinein finden sich die Spuren seiner bereits in der Jugend geliebten Vorzugsautoren von E.T.A. Hoffmann bis Jules Verne. Und gegen Ende der fünfziger Jahre stößt Schmidt dann auf jene drei Autoren, die sein Denken und Schreiben bis in den nachgelassenen, Fragment gebliebenen Roman „Julia, laß das!“ bestimmen: Sigmund Freud, James Joyce, Lewis Carroll.
Sieht man Schmidts Werk unter solchen Aspekten, so werden seine inneren Entwicklungslinien deutlicher, die Prinzipien des Ausbaus seines literarischen Kosmos, und macht dies bei fortgeschrittener Lektüre seiner Bücher einen ihrer Reize aus: daß man Namen, Anspielungen und Verknüpfungsfäden wiedererkennt, Zusammenhänge und Fortentwicklungen von Motiven erkennen kann. Doch man muß eben zugleich betonen, daß auch die unmittelbaren Stories, sozusagen die „Oberflächen“ seiner Geschichten temperament- und reizvoll genug sind, um einen in das früh angelegte Muster seines Werkes hineinzuziehen.
Immer in der Opposition
Die erzählerische Basis dessen, was in seinen Büchern aus den vierziger und fünfziger Jahren steht, ist – sieht man einmal von den in der Antike angesiedelten Prosastücken wie „Alexander oder Was ist Wahrheit“ von 1953 und „Kosmas oder vom Berge des Nordens“ von 1955 ab, die karge Bestandsaufnahme dessen, der noch einmal davongekommen ist und sich jetzt unter widrigen Umständen an seine eigentliche Arbeit machen möchte, Erzählungen aus der Lebenserfahrung dessen, der schon immer Bibliomane und Dichter sein wollte, nun aber seine Bibliothek in Schlesien 1945 verloren hat, eine Konservendose als Kochtopf und eine Tür mit einer Zeltplane drüber als Bett benützen muß. Doch über seine Interessen und seine literarischen Privatgottheiten spricht er mit dem grimmig-ungebrochenen Elan dessen, der seine Ideale nach 1945 nicht – wie so viele andere Autoren, Gelehrte und Bürger – revidieren mußte, weil sie ohnehin nie die allgemeinen Ideale waren, so daß er in dem, was er nun schreiben konnte, gleich wieder sozusagen reichinstrumentiert einsetzen konnte. Zugleich ist er seit dem Beginn seiner Publikationen im Jahre 1949 in der Opposition, er antwortet gleich mit „Anti-Programmen“ zum gerade intellektuell Schicken, und er hält diese Position bis in seine späteren Romane. Als es wieder passend war, sich über das „christliche Abendland“ und seine Traditionen Gedanken zu machen, antwortete er 1949 mit dem Entwurf eines mythisch-bösen Weltprinzips, dem Leviathan. In dieser Idee eines Bösen mit göttlicher Allgewalt sieht er eine illusionslosere Antwort auf die Frage nach Gott als in den neo-christlichen Diskussionen nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus dessen Zerstörungsorgien folgert er die universale Herrschaft eines Dämons, dessen Existenz er mit Hilfe von Astronomie, Relativitätstheorie und Schopenhauerscher Philosophie beweist – wobei der Beweis zwar wissenschaftlichen Gestus hat, aber doch eher eine poetische Groß-Chiffre darstellt. Als die Kirchen sich wieder öffentlich etablierten und sich obendrein den Anschein zu geben verstanden, als seien sie im Dritten Reich klar auf der Seite des Widerstandes und der Opfer gewesen, spottete Schmidt in der Spätantike angesiedelten „Kosmas“-Erzählung über christliche Weltbilder aller Art, und auf die erneute Etablierung eines humanistischen Bildungsideals reagiert er indirekt mit der Erzählung „Alexander oder Was ist Wahrheit“, in der er seinen schwärmerischen jungen Helden zu der Erkenntnis kommen läßt, daß auch der große Grieche Alexander ein Hitler-ähnlicher blutrünstiger Tyrann und Eroberer war. Schmidt äußerte Abschätziges und Bilderstürmerisches über Schiller, Goethe und Stifter, die bürgerlichen Bildungsgrößen, denen man sich in den fünfziger Jahren wieder ebenso respektvoll wie im Grunde hilflos zu nähern begann; er verachtete Hemingway und Camus, spottete über Beckett und Sartre, später auch über die Texte der „Konkreten Poesie“ aus der Wiener Gruppe. Wahrscheinlich sind dann auch in den sechziger und siebziger Jahren seine eher konservativen, „rechten“ Äußerungen zu Tagesproblemen von der 1968er Jugend bis zur parlamentarischen Demokratie sozialliberaler Art als Gesten der Opposition zu verstehen. In Sprache, Umfang und Komplikationsgrad, in ihrer legendären „Schwierigkeit“ steckt auch eine demonstrative Antwort auf einen immer glatter, immer kurzatmiger und konsumorientierter werdenden Literaturbetrieb.
Er wollte es den Lesern schwieriger machen, nicht zuletzt deshalb, weil er meinte, daß nur umfangreiche und diffizil gearbeitete Romane ein zureichendes Bild von der Kompliziertheit der Welt und der Vielschichtigkeit unseres Bewußtseins geben könnten. Und den Autoren wollte er zeigen, daß große Literatur nicht von Messetermin zu Messetermin entstehen kann, sondern nur mit Geduld und Entsagung verwirklicht werden kann.
Eine Sprache, zärtlich und grob zugleich
Gewiß gefiel sich Schmidt wohl auch in der Pose dessen, der gegen alle allgemein akzeptierten Götter eifert und sich den gängigen Ritualen des Kulturbetriebs von der Lesereise bis zum Fernsehauftritt verweigert; er genoß die Legendenbildung um seine Einsiedlerexistenz in dem Dorf Bargfeld in der Lüneburger Heide bei Celle, wo er von 1958 bis 1979 in einem bescheidenen Holzhaus lebte und manisch arbeitete. Zugleich aber holte er objektiv etwas nach, oder genauer: er bewältigte für sich etwas, wovon in den allgemeinen Diskussionen jener Jahre nur vage die Rede war: Anschluß an eine Tradition, Bewältigung der Vergangenheit, Neuorientierung des geistigen Lebens. Er tat dies auf eine Weise, die nach außen verbissen und schnurrig, seltsam wütend und abseitig erscheinen mußte; seine Haltung war die des Autodidakten, sozialen Emporkömmlings und Außenseiters, der sich nach den durch die Soldatenzeit verlorenen Jahren spät im Leben erst geistig einrichten konnte und der sich nun ressentimentgeladen auf alles seinen eigenen und besonders schlauen Vers gemacht hat. Was die Kritiker in den fünfziger Jahren, auch die wohlwollenden unter ihnen etwa Friedrich Sieburg oder Karl Korn, mit einer Mischung aus Befremden, Abscheu und amüsiertem Respekt auf ihn reagieren ließ, das war das parvenühaft Trotzige an Schmidt: er war unfein, gerierte sich proletarisch und rotzig und schien doch ein verkappter Romantiker zu sein; zugleich erkannte die Kritik aber bei allem Unbehagen doch Schmidts literarische Qualitäten, vor allem das Unverwechselbare seiner Sprache, die hart, trocken, kurz angebunden und kühn in ihrer Bildkraft war. So zum Beispiel schilderte Schmidt in dem Kurzroman „Aus dem Leben eines Fauns“ die Wirklichkeit eines Bombenangriffs:
Es ruckte und pochte wieder, und die Häuser fern lachten hell und irrsinnig aus allen zerklirrenden Gläsern. Die Nachtze klatschte in die donnernden Fäuste, Explosine, und unzählige Knalle haschten um den Horizont. […]
Wir kletterten über die rotkarierte Erde, durch flammengefütterte Ruinen, kauten mit Kiefern das rauchige Luftgelee […] ein langer Pulversilo skalpierte sich selbst, und ließ sein Blumengehirn übertrüffeln: unten beging er Harakiri, und wiegte oft den denkmaligen Leib über dem blutenden Schlitz, ehe er den Oberrumpf abwarf. [BA I/1, S. 380 f.]
Ist in diesem Netz von Metaphern, die nur der ingrimmige und zugleich artistische Versuch sind, adequat zu schildern, was sich eigentlich nicht mehr ästhetisch-poetisch benennen läßt, nämlich das absolute Grauen, noch das Erbe des Expressionismus und vor allem der Einfluß Alfred Döblins und seines Romans „Berge, Meere und Giganten“ erkennbar, so zeigt eine ganz eigenständige Schmidtsche Art des Spielens mit einem Bildgedanken die folgende kleine Passage, die von einer Landschafts- und Wetterbeschreibung ihren Ausgang nimmt: »(Es schleierte sich auch schon etwas ein, ganz nach der Wettervorhersage. / ‹Nebelpulver›: nur an Erwachsene abzugeben. Diverse Sorten; Länder, wo er am besten gedeiht: Lappland, Lüneburger Haide, Maine. Nebelversandhaus. Nebelzüchter etwa gar?: sehr gut!). –« [BA I/2, S. 317]
Von solchen Gedankenspielen mit den fast surrealen Möglichkeiten des hundspoetischen Phänomens Nebel kann die Erzählung bei Schmidt dann wieder ganz fix zu höchst realitätsgerechten und weltgewandten Wahrnehmungen und Handlungen übergehen: teigige Breite oder Langeweile gibt es gerade im Frühwerk Schmidts kaum. Und mag Schmidt noch so ruppig und skeptisch seine Helden mit den Mitmenschen umgehen lassen – diese Romanfiguren brauchen sich nur der Natur in allen Wetterverhältnissen und Tagesbeleuchtungen zuwenden, dann zeigen sie eine liebevolle Aufmerksamkeit auf alle pflanzlichen und meteorologischen Phänomene, eine Zärtlichkeit, bei der man bisweilen den Eindruck hat, das Schmidt Zeit seines Lebens sich schämte, sie Menschen gegenüber zu äußern und die er deshalb auf die Natur und die Literatur verschob. Wo in der Literatur unserer Jahre ist ein Tagesanbruch an der Küste mit so kühler Schönheit beschrieben worden wie hier in Schmidts historischer Revue „Massenbach kämpft um Europa“?:
Ende April ritt ich […] an der windigen Emslandküste: alle Büsche sträubten weißgrüne Blätter vor uns. Zögerte Helle über die Wiesen; wich; verkroch sich auf grauen Knien hinter die Pappelreihen. Lag Nachts beim Bauern: Licht schlich hoch in Wolken, ging in Stunden vorbei, verwandte kein Gesicht von mir. Gegen Morgen erstarrte klar Milchluft und Pflanzengraun: man durfte nur mit gespreizten Gliedern und geweiteten Augen zwischendurch balancieren. Der Mond gerann ziegelrot überm Urstromtal; Tau wurde kalt. Das müßige Ohr wirrte sich selbst die Stille mit leisem Gebrause; – wie mögen Bakterien, die Tiere in unserm Innern, vorm Donner des Blutstroms zittern: wenn wir zürnen. – So blieb ich, bis mich fror, vom Kahlkopf bis in die Schuhe. – [BA II/1, S. 49]
Solche Passagen in Schmidts Prosa, manchmal mehr lyrisch, bisweilen mehr expressiv aufblitzend, immer voller Vergleiche, die aufmerken lassen, veranlaßten in den fünfziger Jahren so verschiedene Kritiker wie Heinrich Böll, Martin Walser und Alfred Andersch davon zu sprechen, daß solche sprachliche Avantgardeposition in der deutschen Literatur einmalig und erst in Jahren von der anderen Literatur einzuholen sein würde, und die Kritiker hielten an dieser Hochschätzung der Schmidtschen Sprachkunst auch bei Ablehnung von gewissen inhaltlichen und weitanschaulichen Aspekten seiner Bücher fest. Im Grunde nehmen bis heute viele Leser Schmidts – wie man aus Befragungen über ihr Verhältnis zu diesem Autor weiß – diesePosition ein: sie nehmen bisweilen höchst eigenartige politische und ideologische Statements Schmidts einfach hin als ein Stoff, von dem sie die ästhetische Schönheit der Sprache Schmidts einfach trennen; sie trennen die Inhalte zum Teil von der Form und sehen den Genius und das „weiche Herz“ (Heinrich Böll) des Autors authentischer in seiner Sprache als in seinen Anschauungen verwirklicht.
Ein breites Spektrum von Wirklichkeit
Zum Unbehagen der Kritiker trägt bis heute – neben der komplexen Phantastik seiner Alterswerke ab 1970 – nicht zuletzt auch bei, daß Schmidt einen sehr breiten Begriff von „Wirklichkeit“ in seinen Büchern realisierte. Paradigmatisch ist hierfür seine bündige (und in den braven fünfziger Jahren sehr provokativ wirkende) Feststellung, der Mensch sei eben „ein Gemisch aus Scheiße und Mondschein“: aus solchen Sätzen spricht die Spannung in Schmidt selbst zwischen Zärtlichkeit und Aggressivität – so spricht gewissermaßen ein Romantiker, den es ins zwanzigste Jahrhundert verschlagen hat und der die Leichenhaufen des Zweiten Weltkrieges als Soldat mitansehen mußte. Die Skala dessen, was der Ich-Erzähler in Schmidts Büchern wahrnimmt, reicht in der Tat vom Schopenhauerschen Philosophem bis zur Zote, vom Traum bis zur Diskussion mathematischer Gleichungen, von Naturstimmungen bis zum Kalauer, von verschämter Zuneigung zu einem Menschen bis zu herausfordernd direkter, sackgrober und unendlich variantenreichen Schilderung sämtlicher menschlicher Regungen und Aktivitäten aus der „bisher so verlogen-vernachlässigten Fäkal- und Urogenitalsfäre“. Am härtesten stoßen sich in dieser Beziehung die Dinge im Raum des späten Romans „Abend mit Goldrand“ von 1975, wo geradezu geisterhaft zartes Liebesgeflüster zwischen dem alternden Schriftsteller A.0. Gläser und der geheimnisvollen Göttin Arm Ev abrupt abgelöst wird von detailreichen Schilderungen der sexuellen Betätigungen einer Bande von Hippies, die hemmungslos ihrer Variante von Freikörperkultur frönen.
Das literarische Medium, die erzähltechnische Form, in der dies alles gebündelt und aufgereiht wird, ist meist eine für Schmidt bis zu „Zettels Traum“ spezifische Mischung aus unmittelbarem Bericht und Reflexion, aus Wiedergabe von in der Außenwelt Wahrgenommenem und von dem erzählenden Ich gleichzeitig Gedachtem. Schmidts Erzählungen verlaufen in einem Ineinander von Ich-Erzählung und „Innerem Monolog“ mit der Wiedergabe von tendenziell allem, was im Bewußtseinsstrom so mitschwimmt. Diese Erzählform vermag dauernd präsent zu halten, daß die ganze erzählte Welt in diesem Ich zentriert ist: Außenwelt erscheint nur in der Brechung durch das wahrnehmende, höchst eigenwillige und subjektive Ich: alle Erzählungen Schmidts (mit Ausnahme der beiden in Dialogform gehaltenen Romane „Abend mit Goldrand“ und „Die Schule der Atheisten“ von 1972 sind Ich-Erzählungen, und der Erzähler ist immer eine Figur, die dem wirklichen Arno Schmidt sehr ähnlich ist, nur eine Maske vor dem Antlitz des Autors selbst. Diese Ich-Form aber erleichtert die Identifikation des Lesers mit dem Erzähler und dem Erzählten: ein höchst suggestiver Trick des Autors, dessen Strategie in der Tat war, den Leser ganz in seinen Bann, in seine Weltsicht hineinzuziehen.
Schmidt hat erst 1957 James Joyces Roman „Ulysses“ von 1922 gelesen, worin die Methode der ungefilterten Wiedergabe des Inneren Monologs, des Bewußtseinsstroms einer fiktiven Person zum ersten Mal über größere Strecken praktiziert worden war; er hat also diese Form unabhängig für sich selbst allein gefunden und erst später, ab etwa 1960, von Joyce gelernt. Mit seinem Faible für naturwissenschaftlich-mathematisches Denken studierte Schmidt in den frühen dreißiger Jahren zwei Semester Mathematik und Astronomie in Breslau, beschäftigte sich auch später mit Landvermessung und dem Errechnen einer siebenstelligen Logarithmentafel – hat er um 1955 zur theoretischen Rechtfertigung seiner Erzählweisen und Prosastrukturen die Berechnung 1 und 11 verfaßt, die ein wichtiger, aber doch entbehrlicher Beitrag zum Verständnis und Genuß seiner frühen Texte sind. Die Erörterungen, mit gemometrischen Termini gespickt, sind eher Hilfskonstruktionen, denn die darin entwickelten, als objektive Naturgesetzlichkeiten hingestellten Erzählformen der „löchrigen Gegenwart“ und der „Erinnerung“ können sich zwar auf gewisse Beobachtungen zum Funktionieren unsers Bewußtseins stützen, sind aber durch andere Beobachtungen auch leicht wieder infragezustellen. Zumindest die Behauptung, daß diese Prosaformen „konforme“ Abbildungen von Gehirnvorgängen darstellten, mutet beim heutigen Stand der Sprach- und Wahrnehmungspsychologie einigermaßen verwegen an. Entscheidend ist eher, daß diese Erzählweisen funktionieren. Und das tun sie, nicht weil Schmidt neue objektive Gesetze des Erzählens gefunden hätte, sondern weil die Schmidtsche Sprachbegabung sie mit Leben erfüllt hat.
Ähnlich verhält es sich übrigens mit fast allen Texten, in denen Schmidt quasi-wissenschaftlich argumentiert oder darstellt: sowohl die Biographie des Romantikers Fouqué wie auch die Studie zu Karl May, die Prosa-„Berechnungen“ wie auch die ausgedehnte sprachtheoretische „Etym“-Theorie, die Schmidt vor allem in dem Essay-Roman „Zettels Traum“ ausbreitet, interessieren nicht „objektiv“, sondern gewissermaßen als eine Gattung von Schmidtschen Texten, wobei es egal ist, daß Fouqué ein zweitrangiger Dichter und Karl May wahrscheinlich nicht wie von Schmidt behauptet homosexuell war, daß die „Berechnungen“ Pseudo-Wissenschaft sind und die „Etym“-Theorie höchst fragwürdig. Die Lektüre ist immer spannend; Schmidt ist eben kein Wissenschaftler oder Denker, sondern Dichter, dem alles Material zum poetischen Material wird.
Studienrat und praeceptor Germaniae
Daß Schmidt mit passionierter Ausschließlichkeit immer über seine eigenen Interessen gebeugt bleibt, schließt allerdings ein, daß er für seine Lieblingsautoren und Neuentdeckungen fast drohend wirbt – und dies nicht ohne Erfolg, wie jeder deutsche Antiquar bestätigen kann, bei dem Kunden auftauchen, die Ausgaben verschollener Autoren kaufen wollen – unter ausdrücklicher Berufung auf Arno Schmidt. Vom „Leviathan“ an zieht sich durch seine Bücher eine Art wütende Rhetorik des Hinweisens auf seiner Meinung nach zu Unrecht vergessene oder verkannte Autoren, von Wieland über Lafontaine, Carl Spindler und Oppermann bis zu Wilkie Collins und James Joyce. In Erwähnungen, entschiedenen knappen Urteilen und essayistischen Exkursen preist er immer wieder unzeitgemäße literarische Götter, und dabei mischt sich ein Erschrecken über den zunehmenden Verlust historischer Bildung mit der eifernden Proklamation von neuen Größen. Ähnlich wie er selbst eine Sonderstellung innehat unter den zeitgenössischen Autoren, sucht er auch in der Vergangenheit nach Schriftstellern, die abseits oder in der zweiten Reihe standen. Die Präsentationen der Autoren, in denen er seine Ahnen erblickt oder deren Massenwirkung er nachgeht, verlagert er ab 1955 zunehmend in seine Radio-Essays, die zu schreiben ihn damals vor allem sein Freund Alfred Andersch und später Helmut Heissenbüttel aufforderten.
Schmidt hat zwar einmal abfällig gemeint, diese Radio-Dialoge zur Literaturgeschichte seien „ums liebe Geld geschrieben: wer ’ne Bude auf’m Markt hat, muß eben schreien!“. Doch auch wenn er die inzwischen in mehreren Bänden gesammelten, als Taschenbücher unter dem Titel „Nachrichten von Büchern und Menschen“ erhältlichen Funk-Features als Brotarbeiten betrachtete, so hatte er doch schnell die Anforderungen der Gattung des Features erkannt und kam ihnen nach, ohne seine Eigenart aufzugeben. Ein vielwissender Dozent A regiert den Dialog, dem die Stimmen B und C beipflichten oder widersprechen dürfen und dem sie meist einfach etwas dümmlich, aber ergriffen und dankbar lauschen: „Das Studienrätliche ist ja auch ein Teil von mir“, meinte Schmidt einmal über den Sprecher A, der in allen Radio-Essays ihn selbst vertritt. Schmidt gab sich bei diesen pädagogischen Bemühungen Hoffnungen hin, die die Universitätsgermanisten schon lange abgeschrieben haben: nämlich mehr Leute zu einer mehr als antiquarischen Beschäftigung mit alten Büchern zu bringen. Doch sein literarischer Furor und Eros blieben nicht ohne Echo: Mancher Leser oder Hörer Schmidts, den eine trockene Erwähnung eines Autors in einer Literaturgeschichte nicht rührte, setzt sich plötzlich in Bewegung, wenn Schmidt begeistert diesen verschollenen Autor pries; seine eigene Autorität verlieh seinen Empfehlungen Glaubwürdigkeit, und so hat vor einiger Zeit sogar der Verlag Zweitausendeins eine Buchreihe namens „Haidnische Alterthümer“ publiziert, deren Titel durchweg aus von Arno Schmidt für einen Neudruck empfohlener Bänden bestehen. Und siehe, die Bücher verkauften sich mit einer Auflage von ungefähr 3 000 Exemplaren pro Titel – wobei man schließen kann, daß mindestens 2000 der Käufer sozusagen aus der lesenden Jüngerschaft Arno Schmidts stammen, aus dem „harten Kern“ derer, die nicht nur Schmidt als Autor, sondern auch Schmidt als Vor-Leser und Literatur-Lehrer zu folgen bereit sind. Die „Pflicht des Namen-Rettens“ hat Schmidt also erfolgreich auf sich genommen.
„Sprecher des Vierten Standes“ und Esoteriker
Will man die Veränderungen kennzeichnen, die im Werk Schmidts von 1949 bis zu seinem Tode vor sich gingen, muß man noch einmal den Absichten der frühesten Veröffentlichungen nachgehen. Schmidts Erfahrungen als Kind einfacher Leute (der Vater war Polizeibeamter), als Aufsteiger, als – von den Nazis gezwungener – Studienabbrecher, als Angestellter in der Textilindustrie in Schlesien, im Krieg und in der Nachkriegszeit, der Kontakt, in den er zwangsläufig trotz seiner eigenbrötlerischen intensiven Freizeitstudien zu anderen beim Militär und auf der Flucht kam, die ein ebenso unterdrücktes und graues Dasein zu führen hatten, machte ihn nicht nur zum Menschenverächter und egoistischen Wunschträumer, sondern weckte in ihm auch Mitgefühl mit denen, die wie er Opfer der Zeit geworden waren. Zwar träumte er sich auch wie der Held der Erzählung „Enthymesis“ von 1949 an die Einsamkeit der äußersten Ränder der Welt oder wie der Angestellte Düring in ein einsames Blockhaus, doch es erstarkt auch der moralische Antrieb, gegen den bösen Weltgott „Leviathan“ sich aufzubäumen, der die Menschen von außen knechtet und von innen böse macht. Nicht umsonst finden sich viele Gebärden der prometheischen Auflehnungen gegen Gott, Sonne, Leviathan und den ganzen Kosmos in seinen frühen Romanen und Erzählungen. Auf der gleichen Ebene liegt die Solidarität, die zarte Sympathie mit den kleinen Leuten, die ausbaden müssen, was die Mächtigen angerichtet haben. Daher die politischen Sympathien mit der Linken in der restaurativen Bundesrepublik in den fünfziger Jahren: sie sind auch das Echo auf das, was Militärs, das Bürgertum und die Großindustrie im Dritten Reich angerichtet hatten.
Schmidts Erzählungen richten sich allerdings nie darauf, analytisch oder modellhaft differenziert darzustellen, nach welchen politischen und sozialen Mechanismen das Unheil funktionierte; es bleibt eher bei einem pauschalen, ressentimentgeladenen, sprachmächtigen Wüten gegen alle, die oben waren oder sind, gegen Gott, die Obrigkeit, Vorgesetzte: „Am Ende sind doch immer die Schlimmsten Meister, das heißt: Vorgesetzte, Chefs, Direktoren, Präsidenten, Generale, Minister, Kanzler. Ein anständiger Mensch schämt sich, Vorgesetzter zu sein!“ Doch andererseits gibt es auch die unabänderliche Dummheit und Dumpfheit des Volkes, das sich seine Metzger selber wählt, und nur wenige Menschen stehen wirklich dem Leviathan entgegen und beugen sich der Macht des Bösen nicht: Grete und Lore in dem Roman „Brand’s Haide“, die Flüchtlingsmädchen und Arbeiterinnen, die Witwe Katrin in der Erzählung „Die Umsiedler“, Selma in der Erzählung „Seelandschaft mit Pocahontas“, die verletzliche Line Hübner in dem „historischen Roman aus dem Jahr 1954“ mit dem Titel „Das steinerne Herz“, und als letzte dieser Reihe Herta Theunert, die überarbeitete, nervöse Textilzeichnerin in dem Roman „Kaff auch Mare Crisium“, die die Erlebnisse auf der Flucht aus Schlesien nicht vergessen kann. Zum Teil will Schmidt in jenen Jahren auch als „Sprecher des Vierten Standes“ verstanden sein, als einer, der die Leiden der stummen Proletarier artikuliert. Doch Ende der fünfziger Jahre resigniert Schmidt politisch, als Wiederbewaffnung und kapitalistischer Neuaufbau unwiderrufliche Fakten sind in der Bundesrepublik; 1958 zieht er sich nach Bargfeld in die Heide zurück und verlagert sein Interesse immer mehr auf die Erkundung der Innenräume von Sprache und Psyche; sein Aufklärertum verschiebt sich auf die Untersuchung und Darstellung der Zusammenhänge zwischen Bewußtsein und Sprache: Daedalus, der Erbauer von Wort-Labyrinthen, hat über den Aufklärer Voltaire gesiegt. Schon 1951 war es ihm einmal herausgerutscht: „Politik: stinkt mich an!“ ,und die späteren Bücher „Kühe in Halbtrauer“ von 1964, „Zettels Traum“ von 1970 (woran er ab 1964 gearbeitet hatte), und die beiden Dialogromane zeigen dann abnehmende Sozialkontakte und ein immer geringeres politisches Wissen; die Satiren auf die Nachrichten im Fernsehen in „Schule der Atheisten“ und „Zettels Traum“ zeigen die Welt nur noch als Possenspiel, als Jahrmarkt ost-westlicher Narretei, was zum Teil von Distanz und Altersweisheit, vor allem aber von politischer Ahnungslosigkeit zeugt.
Vom Turm in Bargfeld die Welt erkennen
Doch der literarische Gewinn der Abgeschiedenheit in Bargfeld ist groß. Gegenüber den vorangegangenen Werken Schmidts bedeutet „Kaff auch Mare Crisium“, in zwei parallelen Handlungen auf der Erde 1959 und auf dem Mond 1980 spielend, das erste in Bargfeld entstandene Buch, einen qualitativen Sprung. Verschwunden ist die noch in der „Gelehrtenrepublik“ von 1957 vorherrschende alerte Frechheit, der schnoddrige Pessimismus, die besserwisserische Pose, Pathos und Melancholie herrschen vor, die Personen, der Lagerbuchhalter Karl Richter und die Textilzeichnerin Herta Theunert sind die am meisten Sympatie erweckenden, menschlich tiefsinnigsten Figuren Schmidts; ihre mühsamen Versuche, sich zu verständigen, werden zögernd und nachdenklich erzählt, in einer düsteren Todesstimmung. Zugleich aber zeigen die weitergetriebene Aufsplitterung de Textes und die starken Eingriffe in die normale Orthographie, daß Schmidt seine Erzählsprache weiter revolutionierte, sie viel deutiger, differenzierter, mehrschichtiger zu machen versuchte. Mit dem Studium der Werke von Joyce und von Sigmund Freud verändern sich Schmidts Begriffe von Sprache und Wirklichkeit, deren Spektrum nun systematisch zum Unbewußten hin erweitert wird. Die von Freud erforschten sprachlichen Fehlleistungen sowie die bildlichen und sprachlichen Mechanismen des Traumes gaben Schmidt Hinweise auf Erzählmöglichkeiten, denen gegenüber seine früheren Versuche „konformer Abbildungen von Gehirnvorgängen“ ihm nun naiv erscheinen mußten. Das erste Resultat, „Kaff“ ist ein Text, aus dem einen Ausschnitt wiederzugeben fast unmöglich ist; der Leser sei auf das Fischer-Taschenbuch Nr. 1080 hingewiesen zusammen mit der Versicherung, daß wer die ersten Seiten langsam durchbuchstabiert hat, mit dem zunächst so komplizierten Buch sehr gut zurechtkommen wird. Die Zahl von Schmidts Lesern nahm damals allerdings zunächst ab; er erschien nun zu verstiegen und experimentell, und erst um 1970, mit der Publikation des alle Dimensionen sprengenden Romans „Zettels Traum“ stieg die Aufmerksamkeit auf Schmidt wieder und damit auch die seitdem immer zunehmende Zahl seiner Leser.
An Joyce, den Schmidt wohl als einzigen ihm kongenialen Autor des 20. Jahrhunderts schätzte und in Konkurrenz zu dem wohl auch seine eigenen Bücher „Kühe in Halbtrauer“ und „Zettels Traum“ sehen muß, reizte ihn der Detailrealismus der Schilderungen des Alltags in Dublin und der Psyche des Helden Leopold Bloom: Schmidt erkannte in Joyce einen Vertreter jenes Realismus, der die Beschreibung der „Oberfläche der Dinge“, der „reichen Alltäglichkeit“ für die zentrale Aufgabe des Erzählers hält. Schmidt machte sich nach Kenntnisnahme des „Ulysses“ gleich an die Analyse des Joyceschen Alterswerks „Finnegans Wake“ von 1939, und von hier ging der entscheidende Einfluß auf seine Sprachhandhabung in seinen eigenen späten Büchern aus. Denn hier fand er in Joyce’ Technik, mehrere Worte, als handle es sich um eine Verschreibung, einen Schreibfehler, in eines zu schieben, also in lauter doppeldeutigen Worten zu schreiben, ein Vorbild für die mögliche Darstellung von mehreren Geschehnis- und Sinn-Ebenen, für die Andeutung von verschiedensten Motiven und Zitaten, von unterschiedlichsten Bewußtseinsinhalten. „Finnegans Wake“ kann gleichzeitig auf mehreren Ebenen gelesen werden, und ähnlich steht es dann mit einem der vertracktesten und kunstvollsten Texte von Schmidt, „Caliban über Setebos“ von 1963, der verhältnismäßig einfach zu lesen ist als Story von einem Dichter, der in einem abgelegten Dorf in der Heide eine Jugendgeliebte wieder aufsuchen will, dieser jedoch entflieht und am Ende beim Rückweg aus dem düsteren Kaff von einer Gruppe militanter Lesbierinnen verfolgt wird – doch zugleich ist dies versteckt eine Orpheus-Erzählung, die moderne Variante vom Gang des Orpheus in die Unterwelt, um Eurydike zurückzuholen, die er aber verliert; stattdessen zerreißen ihn später die Bacchantinnen. An den dichtesten Stellen dieser Erzählung spricht Schmidt so doppelsinnig, so voll verflochtener Anspielungen von Joyce in „Finnegans Wake“, doch – Realist, der er ist – bleibt der Text auf einer Ebene so deutlich, daß man die Geschichte auch goutieren kann ohne dieses Mythos-Muster erkannt zu haben.
Umso weniger extensiv sein eigenes Leben wurde, das sich praktisch nur noch am Bargfelder Schreibtisch und auf Spaziergängen ums Dorf abspielte, desto umfangreicher aber wurden nun seine Bücher, allen voran „Zettels Traum“. Um davon einen Begriff zu geben, braucht man nur zwei Daten geben: Das Buch ist so umfangreich wie Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, und es ist – zumindest passagenweise – so kompliziert, daß allein die bisher existierenden Kommentare zur ersten Seite des Buches etwa 50 Seiten lang sind. Der Text ist in drei Spalten geschrieben, und damit die Platz haben, hat der Wälzer das Format DIN A 3; es ist Roman und Essay zugleich, gibt vielfältige Handlung und breitet zugleich die Zusammenhang von Schmidts psychoanalytisch-sprachtheoretischen Überlegungen aus. Eine Handvoll Personen verbringen eine Tag in einem Heidedorf, gehen spazieren, reden, baden, und analysieren unter Anleitung des Dichters Daniel Pagenstecher das Werk Edgar Allen Poes mit der psychologischen Sonde. Es ist das „opus maximum“ Arno Schmidts, eine Glanzleistung und zugleich ein Unding, das aus allen Fugen und Dimensionen geraten ist und daher auch so unübersehbar, daß es dem Gedächtnisvermögen des einzelnen Lesers fast entgleitet und zerfällt. Paradoxerweise machte gerade das Erscheinen dieses Unikums Schmidt mehr denn je bekannt und führte zudem zur Konstituierung einer Philologen-Gruppe, die sich die „Entschlüsselung“ dieses und anderer Werke Schmidts zum Ziel setzte, eine Aufgabe, für die sogar eine spezielle Zeitschrift mit dem Namen „Bargfelder Bote. Materialien zum Werk Arno Schmidts“ gegründet wurde, die nun seit 1972 erscheint. Das Erfinden von komplizierten Handlungen war noch nie Stärke und Absicht Arno Schmidts; seine erzählenden Bücher lebten immer von einfachen, fast banalen Handlungen, die aber sprachlich und durch unzählige Zitate angereichert wurden. Als „Zettels Traum“ vollendet war, ging Schmidt den eingeschlagenen Weg konsequent weiter: die beiden Romane „Die Schule der Atheisten“ und „Abend mit Goldrand“ sind Literatur aus Literatur, sind Produkte der Montage aus vorgefertigten Teilen, aus Zitaten, aus Redewendungen, aus vorgegebenen Handlungsschemata. Literatur wird zum überlegen inszenierten Spiel mit Literatur, die Romane zu Gefäßen von Zitaten aus Büchern, die überliefernswert sind in einer Welt, die, wie Schmidt befürchtete, immer weniger Interesse an Literatur haben wird oder die sich in gesellschaftlicher Barbarei oder in Kriegen zerstören wird. Doch macht Schmidt die Bücher nun auch zum Transporteur von biographisch-psychologischen Mitteilungen über ihn selbst: In „Abend mit Goldrand“ erzählt er kaum verhüllt große Teile seiner Familien- und Jugendgeschichte, und außerdem teilt er ein Manuskript von ihm selbst aus der Zeit um 1940 mit, den Text „Pharos oder von der Macht der Dichter“. „Abend mit Goldrand“ ist eines der geheimnisvollsten, der derbsten wie auch geisterhaftesten Bücher Schmidts, und es ist sein letztes vollendetes Buch: Der Bogen hatte sich geschlossen, der „Wortmetz“ und „Luftschlosser“ hatte sich ein letztes Mal dargestellt, analysiert, verklärt; seine Arbeit war getan.
Mag sein Nachlaß auch noch diese oder jene Überraschung offenbaren: das Werk des Autors, der sich anfangs eher als Rationalist gerierte, um später immer mystischer zu werden, der ein „guter linker Mann“ sein wollte und am Ende den Weltlauf für grundsätzlich unveränderbar hielt, ist heute gut zu überschauen. Und wer ihn für einen sehr bedeutenden Schriftsteller hält, sicher den bedeutendsten Prosa-Schreiber, den die deutsche Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg hatte, der kann dies natürlich nicht beweisen, aber er befindet sich mit solchem Urteil in guter Gesellschaft. Peter Rühmkorf und Max Bense, Ernst Jünger, Hermann Hesse und Gottfried Benn, Uwe Johnson und Alexander Kluge haben dem Dichter ihre Bewunderung gezollt, der wie kaum ein anderer mit größter Unbedingtheit an der Idee der Kunst, an der Überzeugung festhielt, daß es sich lohne, für künstlerische Werke zu arbeiten, zu entsagen, sich zu mühen. Arno Schmidt war sicher derjenige deutsche Autor unserer Zeit, dem das umfassendste poetische Vokabular, der größten sprachlichen Reichtum zur Verfügung hatte, der die Möglichkeiten der deutschen Sprache in unerhörter Fülle demonstrierte. Bleibt nur zu hoffen, daß die Legende von seiner „Schwierigkeit“, der Ruf, er sei doch nur Waldschrat, ein gelehrter und anachronistischer gewesen, niemand davon abhält, sich an seine Bücher zu machen, die großenteils sehr preiswert als Taschenbücher zu haben sind. Denn von den kleinen Erzählungen des Bandes „Trommler beim Zaren“ bis zu vielen Stellen in „Zettels Traum“ gibt es unzählige Beweise, daß er vor allem eines war: Ein präziser Beobachter der Welt und ein glänzender Erzähler.
Jörg Drews: Arno Schmidt. Für die einen Außenseiter für die anderen Mittelpunkt der deutschen Literatur nach 1945. In: harlekijn, Hamburg 1982, 3. Jg., Nr. 6 der Gesamtfolge, S. 25-30.