Jörg Drews: „Ach Galatea, Du Schöne, warum verwirfst Du mein Flehen?“. Seume in Sizilien, oder: Besudelung und Sturz zweier Götterbilder
Werner Kraft
in Jerusalem
in Verehrung
In Sizilien, nach einer 36-stündigen Überfahrt von Neapel nach Palermo am Ziel seines Gewaltmarsches durch Italien angelangt, möchte Johann Gottfried Seume gleich losmarschieren, „in die Insel hineinstechen“.1 Da er aber zunächst seine „Stiefeln besohlen“ (120) lassen muß, entsteht eine Zwangspause, die seine Rastlosigkeit ein bisschen bremst; den Tag nutzt er, ein Stück aus Theokrits 11. Idylle zu übersetzen. Locker und launig sich entschuldigend konstatiert er, der Leser habe diese Übersetzung nur seinen, Seumes, defekten Schuhen zu verdanken, sonst hätte er diese Theokrit-Stelle »wohl schwerlich« (121) auf Deutsch niedergeschrieben. Aber es ist doch immerhin ein Sizilier, dem er gleich nach seiner Ankunft die Ehre einer Übersetzung erweist, der Autor auch, den er nennt, als er in Wien nach dem Zweck seiner Sizilien-Reise gefragt wird: „Waß wüll Ähr da machchen“ – Antwort: „Ich will den Theokrit dort studieren.“ (25). Und daß die übersetzte Theokrit-Stelle einen Bezug auf ihn selbst hat, also wohl doch nicht ganz so zufällig und obenhin gewählt ist, gesteht er, kaum daß die Übersetzung geliefert ist, selbst ein. Sich selbst verspottend vergleicht er sich mit dem „heiß in Galateen entbrannten“ Cyclopen Polyphem, dessen Verliebtheit ihm »gewaltig possierlich« dünkt und ihm „Reminiszenzen meiner übergroßen Seligkeit“ (122/123) bringt, Erinnerungen also an jene Zeit, in der er in Wilhelmine Röder verliebt war und sich Hoffnungen auf eine Ehe machte, Leipzig, im Herbst und Winter 1795.
Seume beeilt sich hinzuzufügen, diese Erinnerungen seien ihm „nunmehr“ – wir schreiben das Frühjahr 1802 – „nicht unangenehm“; also, kann man schließen, war ihm zumindest einst die Erinnerung an diese unglückliche Liebesbeziehung eben doch unangenehm. Ist man einmal darauf aufmerksam geworden, wie – bisweilen geradezu skurriles – Understatement und Nonchalance bei Seume fast immer ein Indiz dafür sind, daß er über etwas Schmerzhaftes oder ihm Peinliches mit einem Scherzwort hinweggehen möchte, so steigt der Verdacht, daß seine Spiegelung im Schicksal des Polyphem nicht nur souverän selbstironisch ist.
Denn Seume hatte ja nicht einfach „mit meinem Cyclopen gleiches Schicksal und brauchte mit ziemlichem Erfolg das nämliche Mittel“ (123), nämlich den Kummer, von einer Frau verschmäht zu werden, und das Remedium, sich den Schmerz von der Seele zu ‚singen’. Seine Identifikation mit Polyphem zeigt einige Details, stützt sich auf einige Einzelheiten, die ziemlich traumatischer Art waren und etwas über Seumes psychische Disposition sagen – sozusagen über die dynamische Rückseite dessen, was gern als sein fester ‚Charakter’ gerühmt wurde – über sein Befinden bei der Ankunft in Sizilien hinaus, und nicht in Bezug auf das unglückliche Ende seiner Liebesbeziehung zu Wilhelmine Röder allein. Warum und wie vergleicht er sich mit dem verliebten Polyphem? Weil der „alte Cyklope“ sich lächerlicherweise in ein „Mädchen“ verliebt hat, also in jemand unangemessen viel jüngeren – wie Seume; weil Polyphem wußte, daß Galatea ihn wie „den Wolf den grauen“ ansah und als ängstliches „Schaf“ (122/123) natürlich floh; für ähnlich unvorteilhaft hielt Seume sein Aussehen, und nicht nur seines Alters wegen – denn schließlich war er zur Zeit seiner Verliebtheit in Wilhelmine Röder erst 32 Jahre alt! – sondern weil seine Augenbrauen, wie wir aus Schilderungen von Zeitgenossen wissen und wie Porträtstiche von ihm ahnen lassen, buschig und über der Nasenwurzel leicht zusammengewachsen waren. „Weil sich über die ganze Stirne mir zottig die Braue, / Von dem Ohre zum Ohre gespannt, die einzige hinzieht“ (121) – so beschreibt sich Polyphem in Seumes Übersetzung, und einige Zeilen später nimmt die Identifikation dann sogar eine ziemlich krasse, geradezu selbstverstümmlerische Wendung:
„Und bin ich ja für Dich, mein liebliches Mädchen, zu zottig,
Ei so haben wir eichenes Holz und glühende Kohlen;
Und von Dir vertrag ich, daß Du die Seele mir ausbrennst,
Und was am liebsten und wertsten mir ist, das einzige Auge (…)“ (122).
Sicher, Seume ist nur der Übersetzer dieser Stelle, aber er hat sie selbst sich ausgewählt (hat sie auch der Übersetzung zweier anderer Passagen aus Theokrits IdylIen vorgezogen; 123), hat übersetzend diese sich tief erniedrigende Phantasie Polyphems nachvollzogen, nachvollziehen müssen, und hat die ganze Übersetzung in seinen Text des „Spaziergangs nach Syrakus im Jahre 1802“ aufgenommen. Als hätte ihn aller Stolz, alles Selbstwertgefühl verlassen, bietet der Liebende der Geliebten an, sie könne ihm die häßliche Braue wegsengen, sie dürfe ihm das Auge ausbrennen, ja sogar die Seele. „von Dir vertrag ich ( … )“ (122) – das heißt ja wohl: Von dir laß ich mir alles gefallen; daß du meine Braue wegsengst, daß du mich blendest – was wohl zu lesen ist als: daß du mich blind machst vor Liebe, wie ich, Seume, es damals, 1795, war, und daß du mir meine ganze Seele verzehrst. Diese letzte hyperbolische Konzession scheint mir geradezu auf ein Übermaß von Schmerz zu deuten, denn die Formulierung „Und ich vertrag von Dir, daß Du die Seele mir ausbrennst“ ist doch nur sinnvoll zu lesen als der Wunsch, mit der Seele auch das Organ der Schmerzempfindung los zu sein. Mir erscheint dies eine masochistische Phantasie Seumes, die einerseits auf sein tief gestörtes Selbstwertgefühl deutet – gestört keineswegs erstmals und entscheidend durch jene unglückliche Neigung zu Wilhelmine Röder, die einen anderen heiratete – , und andererseits auf Selbstmordabsichten, die er nach eigener Bekundung immer wieder hegte. Wie der Cyclope nächtens in der Grotte sitzt und sich in Selbstgespräch und Phantasie seine Galatea herwünscht, so sitzt bzw. saß der schüchterne, „murrsinnige“ (sagt er; also: misanthropisch depressive), „bärenmäßige“ (also: ungeschlachte, bauern-mäßige, plumpe, „zottige“) Seume im „dunkelsten Winkel der Loge“ (123) des Schauspiels in Leipzig und starrte, wie er sich erinnert, zu seiner Göttin Wilhelmine hinüber – zu der Göttin in Gala-Kleidung, der Gala-Thea, um eine assoziative Etymologie als ironische Hommage, aber nicht nur als unernsten Schnörkel an Seumes häufig zu beobachtende Neigung zu skurrilen etymologischen Spekulationen herzusetzen. So „gewaltig possierlich“, wie er munter betont, ist Seumes Polyphem-Phantasie also nicht, oder nicht nur; aber ein starkes Element von gelingender Distanzierung und seelischer Bewältigung des alten Schmerzes ist doch in dieser Passage, diesem Arrangement von Übersetzung aus Identifikation, Erinnerung und Gegenwart des Reisenden Seume schon enthalten. Sein Polyphem weiß „gegen die Liebe keine anderes Pflaster und keine andere Salbe als Musengesänge“ (121); sein Heilmittel ist der Ausdruck:
„er setzte sich hoch auf den Felsen,
Schaute hinaus in das Meer und hob zum Gesang die Stimme ( … )“.
Daß Seume den Cyclopen zwar als Klagenden, aber doch zu einer gewissen Selbstironie Fähigen aus dem Theokrit hierher setzt, reflektiert auch objektiv seine eigene Situation. Davon sprechend, befreit er sich von seinem Schmerz, wobei „davon sprechend“ bei Seume, der der unverstellten Aussage über sich selbst und seine Gefühle hochgradig unfähig war, heißen muß, daß er a) eben Theokrit/Polyphem für sich sprechen läßt, und daß b) seine Wanderung nach Syrakus und seine Ankunft schließlich, „hoch auf den Felsen“ (121) über der Bucht von Palermo, und sein Bericht von dieser Wanderung der Musengesang sind, mit er sich seine Last von der Seele läuft und spricht bzw. ‚singt’.
Das erste nämlich, was er nach seiner Landung in Palermo tut, ist, den „alten Erkte“, also den Monte Pellegrino, zu besteigen, der eine so lockende Aussicht bietet, und ein Aufstieg zu diesem Berg. dessen Name nicht nur als „Pellegrino“ dem „Pilger“ Seume, sondern als „Er(e)kte“ auch dem Liebessehnsüchtigen Seume seltsam nahe ist, ist auch die letzte größere Aktivität, von der Seume aus Palermo bzw. überhaupt aus Sizilien erzählt; danach, bis zur Abfahrt des Paketboots nach Neapel, berichtet er nur noch eher wahllose Details von den Tagen, die er auf günstigen Wind wartend sich in Palermo vertreibt. „ … als ob ich auch ein heiliger Pilger wäre“ (188), will er hinauf auf den Monte Pellegrino, den Pilger-Berg, aber als ein Quasi-Pilger nur, wie er andeutet, denn ihn „lockt bloß die Aussicht“ – er ist ja nicht fromm. Er muß betonen, daß es „nur“ die Aussicht war, als stehe eben doch zu vermuten, daß noch etwas anderes im Spiel gewesen sei. Jedenfalls kann er es nicht lassen, einen Seitenhieb gegen andere, ‚richtige’ Pilger auszuteilen, die ja bei ihren Wallfahrten auch sozusagen „bloß irgendeine Aussicht locken mag“ (188) – die Aussicht auf Vergebung von Sünden, auf die Verkürzung von Höllenstrafen, die Aussicht aufs Paradies. Ganz nüchtern und launig krittelt er ein bißchen am Bild der heiligen Rosalie herum; es sollte „füglich etwas besser sein“, sagt er.
Die ganze Rosalien-Szene aber ist höchst erstaunlich. Sie ist schon deshalb merkwürdig, weil 15 Jahre vor Seume ein anderer Sizilienreisender ebenfalls von Palermo aus den Monte Pellegrino besteigt und – man lese die Eintragung unter dem 6. April 1787 in Goethes „Italienischer Reise“ – ein geradezu voyeurhaft entzücktes, langes Verweilen vor dem berühmten Rosalien-Bild eingestehen muß. Aber das von Goethe hingerissen angestarrte Bild war eine Skulptur, die hinter einem Eisengitter den Zudringlichkeiten der Pilger entzogen lag, während Seume von einem „Gemälde“ (189) spricht. Unterliegt Seume einer Erinnerungstäuschung? Sah er andernorts das Gemälde einer Heiligen (einer anderen Rosalie?) und kritzelte dort seinen Namenszug drauf, projizierte diese Erinnerung dann aber in die Kapelle der heiligen Rosalie auf dem Monte Pellegrino? Oder gab es in der dortigen Kapelle sehr wohl auch ein Rosalien-Gemälde, das Seume wahrnahm, Goethe aber, offenbar zu Recht und auch hier dem (wie dieser selbst ja oft und gern eingesteht) Kunst-Muffel Seume überlegen, nicht? Und dafür übersah Seume die viel berühmtere Skulptur im Schrein hinter Gittern, an der Goethe seine stark erotisch getönte Augenlust hatte? Im Moment kann ich nicht klären, wie es sich faktisch verhalten hat oder verhalten haben könnte – befand oder befindet sich auf dem Pellegrino in der Kapelle auch ein Rosalien-Gemälde? War die liegende Rosalie vielleicht zur Zeit von Seumes Besuch nicht von einem Gitter geschützt? –; auffällig ist die Stelle bei Seume aber auf jeden Fall.
Denn die heilige Rosalie nennt er halb spöttelnd profan, halb zärtlich das „heilige Rosenmädchen“ (188), und bei seinem ersten Palermo-Aufenthalt, nachdem er bereits ein erstes Mal den Monte Pellegrino bestiegen hat, kommt ihm gleich nach der Übersetzung der erwähnten Polyphem-Passage die Erinnerung daran, daß er damals, 1795, seiner (= „meiner“) „Galatee“ durch deren kleine Schwester eine „teuer gekaufte Spätrose“ (123) überbringen ließ. Zu seiner großen Enttäuschung tanzte ihm dann das Rosenmädchen Wilhelmine damals auf der Nase herum, und dafür rächt er sich nun an ihrer Stellvertreterin, indem er etwas Touristisch-Billiges tut, das so sehr unter seinem Niveau ist, daß es ihm auch selbst – gleich oder nachträglich? – auffällt, und indem er zugleich das tut, was ihm zum erstenmal großen Ruhm einbringt (denn erst mit dem „Spaziergang nach Syrakus“ wird er mit einem Schlag berühmt): Er beschreibt sie, er setzt ihr seinen „Namen auf die Nasenspitze“ (189) – eine Handlung, die wahrhaft mehrfach determiniert ist.
Ein Aspekt dieser für Seume höchst merkwürdigen Tat ist der einer vulgären Besudelung: ‚Seume was here’ lautet sogesehen sein Namenszug, und ist eigentlich nicht mehr als ein Graffiti auf einer Klowand. Daß er der Rosalie seinen Namenszug auf die Nase setzt, hat also den Aspekt der Besudelung und Beschädigung, aber auch den der Besitzergreifung. Seume, dessen Haltung zu Frauen grundsätzlich aus kaum eingestandener Sehnsucht nach Zärtlichkeit, aus Prüderie, aus selbstkritisch-offen eingestandener Unsicherheit und aus beträchtlicher Aggressivität gemischt ist, beschädigt und entstellt das Gemälde – und signiert es, entschuldigt sich aber doch halb wieder dafür, indem er hinzufügt, die Nasenspitze sei durch seinen Namenszug „nicht verdorben worden“ (189) – weil das Bild ohnehin „füglich etwas besser sein sollte“, also sowieso häßlich war? Ist dies eine indirekte nachträgliche Herabsetzung des Aussehens von Wilhelmine, oder macht er sie häßlich, um sie nicht mehr lieben zu müssen?
„dieses ist das einzige Mal, daß ich auf der ganzen Wanderung meinen Namen geschrieben habe, wenn mich nicht die Polizei dazu nötigte“ ( 189) –
da wird man denn doch fragen dürfen, welche Instanz dies eine Mal ihn nötigte, sich zu verewigen und damit sie, Rosalie/Wilhelmine, dergestalt verunstaltet zu verewigen. Unübersehbar erscheint mir die enge Verbindung von Name und Nase an dieser Stelle, und in der Tat trugen ja in Seumes Augen diejenigen, die bereits einen Namen hatten, die „Privilegierten“, und das heißt vor allem: der Adel, die Nase besonders hoch.
„Mich schlägt bei einem Blicke in die Welt nichts mehr nieder, als daß ich so viel Gesichter sehe. die ihre Anspruche auf irgendein Privilegium auf die Nase gepflanzt haben«3, notiert er einmal, und vielleicht kann man Seumes Akt des Sich-Einschreibens auch so lesen, daß Wilhelmine/Rosalie bereits berühmt, schön und ‚von Stand’ sind, also einen Namen haben, während er, Seume, sich durch Schreiben einen Namen machen muß, und wird. Wilhelmine war ihm gegenüber ‚hochnäsig’ gewesen, hatte ihm ‚eine lange Nase gedreht’, während er sich bei ihr ‚eine Nase holte’, ‚eine blutige Nase holte’, ‚eine lange Nase bekam’, also einen Verweis oder eine abschlägige Antwort, wie uns der zwei volle Spalten lange Eintrag in Adelungs Wörterbuch belehrt, der die große Fruchtbarkeit des Bildspenders ‚Nase’ belegt.
Zu den Erwartungen, die Seume bezüglich Siziliens-Trinacrias, von Alters her für seine Aphrodite-Heiligtümer berühmt – hegte, gehörte übrigens auch der Anblick der Venus von Medici, wie er gleich zu Anfang des „Spaziergangs nach Syrakus“ gesteht; in Palermo, so dachte er, stehe zur Zeit die „Mediceerin“ (6), wohin sie in der Tat während der napoleonischen Kriege für einige Zeit verbracht worden war; doch hatte man sie offenbar schon vor Seumes Ankunft 1802 wieder abtransportiert, nach Paris, wo er sie dann im Sommer 1802 auch nicht sah4; jedenfalls erwähnt er sie nicht unter den von ihm in Paris besichtigten Kunstwerken. Aber an die Venus, die „erycinische Göttin“ (124), denkt er schon auf dem Weg von Palermo ins Inselinnere; auf diesem Weg verfehlt er sie allerdings durch einen Trick bzw. eine Unverschämtheit seines Eseltreibers. Nun aber, zum zweiten Mal in Palermo, sieht er den Berg Eryx mit dem Heiligtum der Aphrodite wenigsten vom Monte Pellegrino ausblickend in der Feme, und einige Zeilen später erwähnt er auch die „Göttin“ des Heiligtums von „Amathunt“ (189), ebenfalls Aphrodite, und die zwei Aphroditen sieht er dann kurz darauf in einer (Assoziations-)Reihe mit einer dritten ‚Göttin’, deren „Profanation“ die beiden ersteren »rächen« (189). Die gemeinte Profanation kann keine andere sein als die, welche er selbst dem »heiligen Rosenmädchen«, einer anderen Venus/Aphrodite also, zugefügt hat, als er ihr den Namenszug »Seume« auf die Nase schrieb. Sein Unrechtsbewußtsein ist also offenbar wach. Venus/Aphrodite ist demnach in mehrfacher Gestalt anwesend in dieser Passage.
Eine weitere ihrer Inkarnationen ist die schöne Lais. Die muß Seume, dem Lektor und Korrektor von Christoph Martin Wielands Roman „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“ natürlich einfallen, hat er sich doch von der Arbeit an der Drucklegung von Wielands Buch erhoben, um nach Sizilien, der Heimat der Lais zu gehen. Nun sieht er vom Berg bei Palermo aus das Städtchen (oder doch die Gegend von dessen einstiger Lage) Hykkara, mit dem sich ihm durch drei Gewährsleute der Name der schönen Lais verknüpft: Durch den Artikel „Lais“ in Pierre Bayles „Dictionnaire“, das er schon in seiner ersten Leipziger Studentenzeit las, durch Plutarch, einen seiner Lieblingsautoren, auf den Bayle sich übrigens beruft und den Seume dann später philologisch-politisch kommentiert, und eben durch des verehrten Wieland hochgeschätzten Roman „Aristipp“, worin in Teil 1, Buch 1, Kapitel XIV von Lais gehandelt wird. „Lais, eine berufene Hure, war von Hyccara, einer Stadt in Sicilien (…) Dieses lehret uns Plutarch“, heißt es bei Bayle über die traditionell gefühlskalte und teure Lais, die Seume leicht in Verbindung bringen kann mit der (zumindest ihm gegenüber) gefühlskalten Wilhelmine Röder, die nun einen reichen Kaufmann geheiratet hat, die er aber doch einst gerne zu sich nach Hause geführt hätte wie Nicias die Lais nach Griechenland.
Seume merkt selbst, daß ihm – sei ’s auf dem Monte Pellegrino selbst, sei ’s beim Erinnern und Aus- und Nach-Phantasieren dieses Moments seiner Reise – hier die Assoziationen besonders dicht und sprunghaft durch den Kopf schießen; plötzlich kommt er auch noch auf Samuel Butlers „Hudibras“, merkt expressis verbis an, daß „die Ideenverbindung wohl etwas schnell und gesetzlos gewesen sein mag“ (189), wehrt aber eine Rekonstruktion ihres Gangs ab, weil er dies „nicht für wichtig genug“ halte (189). Aber wenn ihm schon selbst auffällt, daß hier die Assoziationen verdächtig dicht und intensiv knistern, so darf man als Leser erst recht die Gelegenheit nutzen, an dieser Stelle hinter die Fassade von Stoizismus, hinter den Charakterpanzer Seumes zu blicken. Deshalb ist zuerst anzumerken, daß der Held von Butlers religionskritischer Satire sich in eine Dame verliebt, derentwegen er dann verprügelt und eingesperrt wird – nicht unähnlich Seume. Sodann: Eine „beliebte Melodie“ aus Mozarts „Zauberflöte“ unterlegt er der Knittelrhythmik Butlers, so sagt er, und probiert man durch, welche Melodie dies sein könnte, bleibt in der Tat nur Papagenos „Der Vogelfänger bin ich ja, / Stets lustig, heissa, hopsassa“. Auf die Melodie dieses Liedchens setzt Seume nun ein Stück Text aus dem „Hudibras“, das von der Gesichtschirurgie durch den Dr. Taliacotius handelt:
„So learned Taliacotius from
The brawny part of porters bum
Cut supplemental noses, which
Would last as long as parent breech;
And as the date of Knock was out,
Off dropt the sympathetic snout.“5
Taliacotius also, so wird es im „Hudibras“ erzählt, implantiert Ersatznasen, repariert also etwas Defektes, kurzfristig jedenfalls. Sagen wir es deutlich: Das liest sich wie eine Wunschphantasie von der Beseitigung einer Beschädigung, der Rückgängigmachung einer Kastration oder ‚Kastration’, mag die nun eine physische oder psychische Realität gewesen sein, und daß die Nase schon im 18. Jahrhundert als Penis-Symbol auch literarisch gang und gäbe war, wissen wir nicht zuletzt durch „Slawkenbergius’s Tale“ aus Laurence Sternes „Tristram Shandy“, den Seume kannte und schätzte. Auf der einen Seite also hier wieder die Nase, diesmal eine beschädigte bzw. reparierte männliche; zugleich aber schlüpft Seume sängerisch in die Identifikation mit dem Vogelfänger, der am liebsten „alle“ Vögel finge und hätte, wie Papageno in seinen Haremsphantasien es mehrfach naiv ausplaudert:
„Ein Netz für Mädchen möchte ich,
Ich fing sie dutzendweis für mich!
Dann sperrte ich sie bei mir ein,
Und alle Mädchen wären mein.“6
Der keusche Seume natürlich – der, worauf Albert Meier aufmerksam gemacht hat, bei seiner Übersetzung von Polyphems Klagen um die ihn abweisende Galatea übrigens einige leichtsinnig die Freuden erotischer Vergnügungen mit „zahlreichen Mädchen“ (frivole Ersatzlösung für die sich versagende Nymphe Galatea) preisende Verse Theokrits nicht übersetzt hat7 –, der hochmoralische Seume also singt durch die Maske und in der Stimme seines Stellvertreters Papageno. Und er singt nicht nur vom Vogelfangen (via Melodie) und von der Restitution der Nasenpracht (via Text). Lassen wir einmal die Arien der „Zauberflöte“, deren Text oft und präzis mit Seumes Disposition in Verbindung zu bringen ist, Revue passieren: „Schnelle Füße, rascher Mut, / Schützt vor Feindes List und Wut … „ (die schnellen Füße Seumes bei seinem Gewaltmarsch nach Sizilien, seinem Davonlaufen …); „Du feines Täubchen, nur herein …“ (da wünscht sieh doch einer eine Gespielin …); „Ein Mädchen oder Weibchen / Wünscht Papageno sich …“ (da sagt er es ja selbst …); „Ach kann ich denn keiner von allen / Den reizenden Mädchen gefallen? / Helf‘ eine mir nur aus der Not. / Sonst gräm ich mich wahrlich zu Tod … Nun ade, du feile Welt …“ schließlich – da will doch einer Selbstmord begehen, und eben nicht nur Papageno durch den Strick, sondern auch der häufig schwer depressive Seume, der nicht nur am Tiefpunkt der Röder-Affäre an einen befreienden Pistolenschuß durch seinen Kopf dachte, weil er sich vergeblich „ein Mädchen oder Weibchen“ gewünscht hatte.
In zwei weiteren Punkten leiht sich überdies Papageno bequem der Identifikation durch Seume. Erstens ist Papageno so befiedert wie Seume behaart ist (Stichwort: „zottig“!), und zweitens ist er ein einfacher Mensch, sprich: niederen Standes wie Seume, der ja etwas gegen die Taminos, die Prinzen dieser Welt, die Adeligen hat und überzeugt ist, daß „wir Wilden“ (und dazu zählt er sich wohl in seinem Gedicht „Der Wilde“, mit den Huronen sympathisierend, auch selbst) „doch bess’re Menschen“ sind. Ein „Wilder“ ist obendrein ja auch der häßliche Mohr Monostatos, der ebenfalls seine Pamina nicht kriegt. Und ganz besonders schließlich mit den Priestern im 2. Aufzug der „Zauberflöte“ könnte Seume, der Stoiker, auch – gegen den „Geschlechtszauber“, wie er das häufig nennt – singen:
„Bewahret euch vor Weibertücken:
Dies ist des Bundes erste Pflicht!
Manch weiser Mann läßt sich berücken,
Er fehlte und versah sich’s nicht.
Verlassen sah er sich am Ende,
Vergolten seine Treu mit Hohn.
Vergebens rang er seine Hände,
Tod und Verzweiflung war sein Lohn.“8
Man sieht, Hermann Abert hat recht: „ … not only music was influenced by the ‚Magic Flute’; deep traces of it can also be found in German literature“.9
Kaum hat er durch das Butler, Mozart und Schikaneder aufeinanderschichtende Liedchen von (s)einer wenigstens für kurze Zeit restaurierten Nase phantasiert, da fällt er schon auf dieselbe. und zwar selbstverschuldet, durch Unachtsamkeit, durch „Enthusiasmus“ (189) – zu viel davon bzw. der sprichwörtliche ‚blinde Enthusiasmus’ (eben eine Polyphemsche Verblendung …) hatte ihn ja auch bei seiner Wilhelminen-Verehrung auf die Nase fallen lassen. Jetzt ist er also wieder ‚von den Socken’, wie die englischen Weggenossen, die Landsleute Butlers, beim Gang auf den Aetna zuerst auf den Strümpfen daherkamen und dann von denselben waren, nämlich auch auf die Nase fielen (175). Wer assoziativ ausloten will, wie das von Seume selbst gebrauchte Bild des ‚von den Strümpfen’ – bzw. ‚von den Socken’-Seins zusammenhängt mit bildlichen Redewendungen der Goethe-Zeit, die mit ‚Stolpern’ und ‚zu Fall kommen’, auch ‚unangenehme Überraschung’ usw. verknüpft sind, der wird am Artikel „Strumpf“ im GRIMM seine Freude haben. Seume jedenfalls holt sich erneut und diesmal wörtlich eine blutige Nase, blutet aber wohl auch figurativ: wie eine Frau, menstruierend? ‚kastriert’? Doch mit objektivem – weil unbewußtem – Geschick kombiniert und kompensiert er die „Rache“ der „Göttin“ Venus / Aphrodite durch seine eigene Beschädigung und durch den gleich folgenden Bildersturz der Madonna Rosalie / Rosenmädchen“-Wilhelmine. Denn ein kleines Porträt Wilhelmines, ein „Madonnenbildchen“ (189), hatte er seit 1795 „an einer seidenen Schnur am Halse hangen“ – kann man sich übrigens an einer seidenen Schnur nicht auch gut erhängen? Wie singt doch Papageno:
„Diesen Baum da will ich zieren,
Mir an ihm den Hals zuschnüren,
Weil das Leben mir mißfällt:
Gute Nacht, du falsche Welt“.10
Das Madonnenbildchen jedenfalls will Seume, um seine definitive Erleichterung zu besiegeln, nun endlich von seinem Herzen nehmen, denn dessen Bluten hat ja inzwischen die Nase übernommen, und: „Besser die Nase, als das Herz, dachte ich“ (189). „Unwillkürlich“ – und das darf man wohl lesen als: ‚ohne verstandesmäßige Kontrolle’, ‚ohne Besinnung’, ‚unbewußt’ – will er es von der linken Brustseite, also vom Herzen nehmen, und „unwillkürlich“ macht er den Glasdeckel auf, und dann kommt der Schreck. Denn er will ja das ganze Bild der Madonna Wilhelmine entfernen, aber das Bild ist in Scherben. Dreimal in vier Zeilen dies „unwillkürlich“ (190)! Die Stelle ist sehr nachdrücklich und zugleich ungenau formuliert: „ich … erschrak, als ich es heftig unwillkürlich in zehen Stücke zersplittert zwischen den Daumen hielt.“ Wie soll man sich das vorstellen: „ … zwischen den Daumen“? Und was ist das für eine seltsam schwebende Zuordnung bzw. Stellung des „heftig“ in dem Ausdruck „heftig unwillkürlich“? War er hier so erregt, daß sich ihm noch nachträglich die Sprache verheddert? Sagt er selbst hier indirekt, er habe das Bild in einer Fehlleistung zerstört, sei darüber aber dann doch erschrocken? Wann hat er eigentlich „unwillkürlich“ Gewalt angewendet: als er das Bild in den Fingern hielt oder schon vorher? Diente sein Fall der Zerstörung ihres Bildes? oder gar der Zerstörung der Abgebildeten selbst? Einen Moment erwägt er, daß die Zerstörung des „Idolchens“ (190) der zweite Teil der Rache von Rosalie und Aphrodite an ihm sein könnte, um diesen Gedanken dann aber leichthin mit einem Achselzucken zu quittieren, Wenn er aber dann „Freund Schnorr“, den Maler Veit Hans Schnorr von Carolsfeld, der das Amulett gemalt hat, um Verzeihung bittet, muß er jedenfalls sich selbst die Schuld an der Zerstörung zuschreiben.
„Phantasus“, der Gott des (Tag-)Traums führt ihm noch einmal das Original vor Augen, das dann in einem letzten Akt der Überwindung und Befreiung in effigie in den Orkus geschickt, sprich: Tod und Vergessen überantwortet wird. Wilhelmine, inzwischen „im goldenen Wagen“ durch Berlin rollend – wird nicht die mythische Galatea auch mit einem goldenen Wagen in Verbindung gebracht? – , fliegt „mit der goldenen Einfassung den Abgrund hinunter“ (190), begleitet von einem verhaltenen Stoßseufzer in der Form eines großartigen Epigramms: „Ehemals wäre ich dem Bildchen nachgesprungen; noch jetzt dem Original.“ Und einen Moment hat man hier das Gefühl, daß Seume sich kurzfristig doch eben auch mit dem Prinzen Tamino identifiziert hatte:
„Dies Bildnis ist bezaubernd schön,
Wie noch kein Auge je gesehn!
Ich fühl es, wie dies Götterbild
Mein Herz mit neuer Regung füllt ( … )“11
Füllte, denn Tamino bekommt ja die Pamina, ein armer Papageno aber kann von einer Pamina nur „königlich betrogen“ (190) werden, wie Seume es – nach seiner eigenen Meinung jedenfalls – von Wilhelmine Röder wurde. Deren Gatten schreibt er dann später einen Brief, den Walter Benjamin einer Aufnahme in seine Sammlung „Deutsche Menschen“ von 1936 für würdig befand. Der Brief ist jedoch vielleicht nicht der beste Beleg für Seumes von Benjamin im Kommentar zu dem Brief gerühmte „untadelige Haltung in allen Krisen“ , denn einmal ist er wenn auch verzeihlich so doch peinlich, weil klar darin zum Ausdruck kommt, daß Seume von Wilhelmine Röder innerlich noch nicht loskam, sie noch nicht lassen konnte und an ihren Mann seltsam gewundene Ratschläge richtet, die dieser sich eigentlich nur verbitten konnte; zum andern ist der so „gefaßte“ (Benjamin) Ton des Briefes von Seume durchzittert von einem Todeswunsch für den Mann Wilhelmines. Dem starren, wie mit zusammengekniffenen Lippen geschriebenen Brief ist die verzweifelt unterdrückte Aggressivität Seumes anzumerken. Damit aber sind wir übrigens noch einmal bei Polyphem. Denn der brachte ja den Acis, den Galatea ihm vorgezogen hatte, wirklich um, indem er mit einem Felsbrocken nach ihm warf, der den Acis unter sich begrub.
Seume jedenfalls steigt aber nun, nach diesen Phantasien und diesen mehrfach symbolischen Handlungen, „ruhiger“ (190) nach Palermo hinunter, nochmals nicht unähnlich dem von ihm nachgedichteten Theokritischen Polyphem, von dem er am Ende seiner Übersetzung beim ersten Palermo-Aufenthalt sagt:
„Also weidete Polyphemus und sang von der Liebe,
Und es ward ihm leichter, als hätt‘ er Schätze vergeudet“ (122).
So war Seume endlich seinen ehemaligen Schatz losgeworden. Daß er diese ganze Szene so ausführlich und einschließlich seiner einstigen Demütigungen und dem neuen Sturz auf die Nase erzählt, deutet darauf hin, daß die Lust bei dieser Erzählung die Unlust überwog, die Befreiung also wirklich eine war.
„Wie diese Überwindung“, schreibt Walter Benjamin in seinem Kommentar zu dem schon angeführten Brief Seumes an den Mann seiner ehemaligen Verlobten, „sich vollzog“ (die Überwindung der Nachwirkungen der unglücklichen Beziehung zu Wilhelmine nämlich), „erzählt Seume gelegentlich der Beschreibung seines Aufstiegs auf den Pellegrino in der Nähe Palermos“.13 Das stimmt nicht ganz, denn Seume erzählt das, wie zu sehen war, nicht einfach „gelegentlich“ dieses Gangs auf den Monte Pellegrino, und er erzählt eben nur von den Zeichen, die gewissermaßen die Siegel auf die Beendigung der Beziehung darstellen; er erzählt von den Indizien dafür, daß es nun mit der teils unbewußten, teils bewußten vollständigen Zerstörung des Götzenbildchens „im Innern“ wirklich „getan“ ist, um eine Goethesche Formulierung zu borgen. „Ach Galatea, Du Schöne, warum verwirfst Du mein Flehen?“ läßt Seume den Polyphem klagen (121); auf dem Pellegrino hat er dann endlich die Kraft, seinerseits Wilhelmine Röder zu verwerfen. Bemerkenswert an dieser Passage seines Spaziergangs ist die außerordentlich deutliche und sogar Seume selbst auffällige psychische Dynamik dieses endgültigen Abtuns der einstmals Geliebten, die sich im raschen und dichten Assoziieren auf mehreren Ebenen unter Einbezug von Handlungselementen, Situationen und Formulierungen aus Mozart/Schikaneder, Butler und Theokrit und in den Fehlleistungen des Sich-selbst-zu-Fall-Bringens und der Zertrümmerung des Amuletts greifen läßt. Wahrhaft eine äußerst ‚subjektive’ Stelle in der Geschichte der bei Seume so stark vorangetriebenen Subjektivierung der Gattung Reisebeschreibung; man lese nur zum Vergleich, wie etwa Friedrich Leopold Graf zu Stolberg sorgfältig und auf Vollständigkeit, jedenfalls auf umfassende Unterrichtung des Lesers bedacht, in seinem 87. Brief unter dem 9. Juni 1792 aus Palermo berichtet.
Die psychophysische Therapie, die Seume sich selbst verschrieben hatte, zeigte offenbar Wirkung, und zu dieser Therapie gehörte wohl auch, daß er zwar, wie er öfters versichert, gerne „in der Welt umher schlendern“ wollte (Hervorhebungen von mir – J.Dr.), daß er auch angeblich „von Leipzig nach Agrigent tornistern wollte, bloß um an dem südlichen Ufer Siziliens etwas herumzuschlendern und etwa junge Mandeln und ganz frische Apfelsinen dort zu essen“ (102), solche Entspanntheit aber eben nicht fertigbringt, sondern glattweg nach Syrakus rennt. Rennt er so überaus stramm, weil er eine Fußverletzung (durch eine Quetschung) hatte und sich daher seine Marsch-Potenz beweisen mußte, und vielleicht nicht nur diese: seine körperliche Unversehrtheit und auch seine psychische Wiederherstellung überhaupt? Hängen in Seumes Unbewußtem die Worte und Bilder Fuß / Potenz / pous / pen /penis / Nase eng zusammen, und ist Seume vielleicht deshalb gerade so peinlich berührt, so auffällig prüde indigniert über das „stante pede“ / „stante pene“-Wortspiel auf dem Dresdner Theater (6)? Gefiel ihm in eben diesem Sinn auch die von ihm übersetzte Theokrit-Stelle, deren drittletzte Zeile in seiner deutschen Fassung Polyphems Selbst-Zuspruch enthält:
„Denn ich bin auf der Welt doch wohl auch wahrlich ein Kerl noch“.
Es geht nicht um Entlarvungspsychologie; nicht um eine Psychotherapie Seumes – jedenfalls nicht als Selbstzweck. Mir scheint vielmehr, daß gerade vor dem Hintergrund des bekannten und hier bei den Ereignissen auf dem Pellegrino erneut deutlich werdenden, schon früh sehr tief gestörten und immer wieder wankenden Selbstwertgefühl Seumes seine Lebensleistung umso bewundernswerter hervortritt, und ein entscheidender Teil dieser Leistung ist die Transformierung seiner ihm auferlegten Selbstdisziplinierung im literarischen Stil „Der lacht der Narben, welcher Wunden nie gefühlt“: wenn man die Verwundungen rekonstruiert, die Seume von Kindheit an hinnehmen mußte – und zu den frühesten seiner schweren Kränkungen gehört wohl, daß er die Demütigung seines verarmten und kranken Vaters als Kind ohnmächtig mitansehen mußte: „Ich habe die Katastrophe nie loswerden können, ob ich gleich selten oder nie davon gesprochen habe …“ – , so wird man der Narben Seumes, die nicht zuletzt eben auch an Verwerfungen seiner Prosa sichtbar werden, nicht lachen. So gesehen stimmt das Bild vom „braven“, „tapferen“, „männlichen“ Seume, wie es vom frühen 19. Jahrhundert (Göschen/Clodius) bis zu Walter Benjamin und Werner Kraft14 gemalt wurde, eben doch.
„Ob mich, den Pilger, wilde Samojeden
In ihrem Reich,
Ob Räuber mich am Fuß des Ätna töten,
Mir ist es gleich ( … )“
Ganz so „gleich“, wie Seume es im Einleitungsgedicht zu „Mein Sommer 1805“ behauptet, war ihm sein Tod doch wohl nicht, aber die Wanderung durch den Tiefschnee der Alpen und durch das politisch aufgewühlte, für Fußreisen extrem unsichere Italien nach Sizilien hat ein Element des bewußt riskierten Todes, und das heißt: des knapp vermiedenen Selbstmords. Seume setzte sich aufs Spiel und fühlte dann offenbar, sich und sein Selbstwertgefühl wieder gewonnen zu haben: er war wieder „ein Kerl“. Unerschütterlichkeit besaß Gottfried Seume, dieser späte Stoiker, nicht, mußte sie sich vielmehr immer wieder erkämpfen. Davon erzählt, verdeckt oder offen, ein Großteil seiner Literatur; davon zeugt vor allem sein Stil, der sich zwischen fast launiger Selbst-Exposition und in die Sentenz sich rettender Selbst-Befestigung bewegt und in diesem Hin und Her seine bewundernswerte Dynamik hat.
Anmerkungen
1 Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Hg. und kommentiert von Albert Meier. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1985. S. 120. Zahlen, die im folgenden in Klammem im Text stehen, beziehen sich auf Seitenzahlen in dieser Ausgabe des „Spaziergangs“.
2 Vgl. zu Goethe und Rosalie auch den Katalog „Goethe in Italien“ zu den Ausstellungen in Frankfurt und Düsseldorf. 1986. S. 29/30.
3 1. Seumes Werke in zwei Bänden. Ausgewählt und eingeleitet von Anneliese und Karl-Heinz Klingenberg. Weimar. Aufbau 1962. 4. Auflage 1983. Band II. S. 256.
4 Vgl. Spaziergang. S. 321/322.
5 Zitiert nach Spaziergang. S. 189. Übersetzt: „So schnitt der gelehrte Taliacotius aus dem muskulösen Teil von Türhütershintern Ersatznasen. die so lange hielten wie das Fell des Spenders; und wenn dessen Stunde gekommen war, fiel der sympathetische Rüssel wieder ab“.
6 Die Zauberflöte. 2. Aufzug, I. Auftritt. Nr. 2.
7 Spaziergang. S. 346.
8 Die Zauberflöte. 2. Aufzug, 3. Auftritt, Nr. 11.
9 Die Zauberflöte, ediert und mit einem Vorwort von Hermann Abert. London/Mainz o.J. S.V. (Edition Eulenburg).
10 Die Zauberflöte, 2. Aufzug, 28. Aufritt.
11 Die Zauberflöte, J. Aufzug, 4. Auftritt, Nr. 3.
12 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Band VI/1. Hg. von Tillman Rexroth. Frankfurt 1972. S. 168.
13 Benjamin a. a. O.
14 Werner Kraft: Einleitung zu Johann Gottfried Seume: Prosaschriften. Köln 1962. Dieser Essay erschien später nochmals in: Werner Kraft: Rebellen des Geistes. Stuttgart 1968. S. 135-163.
Jörg Drews: „Ach Galatea, Du Schöne, warum verwirfst Du mein Flehen?“ Seume in Sizilien, oder: Besudelung und Sturz zweier Götterbilder. In: Europäisches Reisen im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Hans-Wolf Jäger, Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1992, S. 107-117.
Wortgleich in: Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Bd.11: Über sich selber reden. Zur Psychoanalyse autobiographischen Schreibens. Hg. von Johannes Cremerius, Wolfram Mauser, Carl Pietzcker, Frederick Wyatt. Besorgt von Wolfram Mauser. Würzburg, Königshausen und Neumann, 1992, S. 9-24.