Jörg Drews: Ich gebe nicht nach. Über Werner Kraft und Wilhelm Lehmann
In den dreißiger Jahren trug der ehemals hannöversche Bibliotheksrat Dr. Werner Kraft in Jerusalem hebräische Vokabeln in ein kleines Heft ein, um sich einen Grundwortschatz des Neuhebräischen anzueignen und dem Land, das ihn 1934 aufgenommen hatte, loyal seinen Tribut zu zollen. Aber es wurde nichts draus: „Die Sprache werde ich nie lernen und immer ein fünftes Rad am Wagen sein.” Nicht nur, dass Kraft kein Zionist war und dennoch den Zionisten gewissermaßen dankbar sein musste (oder eher der englischen Mandatsregierung von Palästina), dass da ein Land gewesen war, das seine Familie und ihn einwandern ließ – er lernte nie richtig Ivrith; er konnte gerade mal die Nachrichten verstehen und lebte weitere sechzig Jahre, bis 1996, in der deutschen Sprache, in schwerer Einsamkeit, ein deutscher Bibliotheksrat, ein Essayist, ein Dichter in der Sprache des Landes, das ihn mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des deutschen Berufsbeamtentums” im April 1933 zum Juden erklärte und am 8. September 1933 aus dem Dienst jagte. 75 Jahre nach seiner Entlassung hat seine ehemalige Bibliothek in Hannover ihn vor einiger Zeit mit einer Ausstellung samt Katalog und der Benennung eines Lesesaals mit seinem Namen geehrt.
Kraft musste Deutschland just zu dem Zeitpunkt verlassen, als seine Karriere als Essayist und Dichter hätte beginnen sollen. Es gibt einige wenige Aufsätze von ihm noch in Deutschland, es gibt dann einen Gedichtband, der 1937 in Jerusalem erschien, – und dann nur noch jenes Arbeiten für die Schublade, deren Resultate dann junge Deutsche erst in den fünfziger und sechziger Jahren, als Krafts Schriften in deutschen und Schweizer Verlagen endlich erscheinen konnten, staunen machten: die Bücher über Karl Kraus und Rudolf Borchardt, die wunderbare Gedicht- und Kurzprosa-Sammlung „Wiederfinden”, Essaybände über deutsche Autoren von Goethe über Seume bis George, und schließlich die große Monographie über den deutschen politischen Denker und Sprachdenker der nachklassischen Zeit, Carl Gustav Jochmann (1789 – 1830).
In Krafts letzte Jahre in Deutschland fiel die Bekanntschaft mit Wilhelm Lehmann; es gibt Begegnungen, es beginnt ein Briefwechsel, es gibt ein intensives Gespräch über Literatur zwischen den beiden – und das muss dann ab Sommer 1933 per Luftpost weitergeführt werden, reißt 1939 ganz ab und kann im Dezember 1945 melancholisch und zugleich wie mit einem Jubelschrei nach dem großen Morden fortgesetzt werden bis zum Tod des Eckernförder Studienrats und Dichters Wilhelm Lehmann im November 1968. 415 Briefen von Werner Kraft stehen 176 Briefe von Wilhelm Lehmann gegenüber; das heißt wohl auch, dass Kraft in seiner Isolation auf Lehmann mehr angewiesen war als dieser auf ihn; Lehmann und seine Familie aber waren auch mehr von gesundheitlichen Problemen gequält – seien wir fair.
Nun liegt dieser bewegende Briefwechsel in der Schriftenreihe der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung in zwei umfangreichen Bänden vor, kommentiert von Ricarda Dick, und wer sich für die Geschichte der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts und für Zeugnisse des Denkens feiner literarischer Geister (eher konservativen Schlags) auch über die Literatur des späten 18. und des 19. Jahrhunderts interessiert, der wird so vielfältig wie auch schmerzhaft belohnt.
Die unmögliche Rückkehr
Denn der eine Strang, das eine große Thema in diesem Briefwechsel sind die rührend hartnäckigen, demütigenden und zugleich zähen und selbstbewussten Versuche Werner Krafts, sich aus der Ferne heraus in der Literatur Westdeutschlands wieder vernehmen zu lassen. Dazu gehören Lehmanns Versuche, bei Verlagen und bei Akademien, vor allem auch der Darmstädter (deren korrespondierendes Mitglied Kraft erst 1972 wurde) für seinen Briefpartner zu intervenieren, was auch deshalb schwierig war, weil bei Kraft wie bei Lehmann ein ästhetischer Konservativismus vorlag, der sogar in der eher restaurativen literarischen Atmosphäre der frühen Jahre der Bundesrepublik zum Teil befremdete.
Kraft hatte nach dem Zweiten Weltkrieg die Chance, die Stelle in Hannover wieder anzutreten, von der er 1933 vertrieben worden war. Aber hätte er dabei nicht womöglich mit Leuten zusammenarbeiten müssen, die inzwischen ganz anderes getan und gedacht hatten – was genau, war ja gar nicht herauszukriegen? Vor allem aber: Krafts nunmehr ganz in Israel verwurzelte Familie hätte eine Rückkehr wohl nicht verstanden.
Und dann ist da der zweite Strang dieses Briefwechsels: Ausführliche Diskussionen um die Literatur aus Vergangenheit und neuester Gegenwart, Überlegungen zu einzelnen Gedichten, Lektüreempfehlungen, emphatische Hinweise auf zu Lesendes, feinste poetologische Überlegungen zu Gedichten. Draußen lässt Hitler morden, die Welt steht am Abgrund, der Nahe Osten taumelt in den Erschütterungen, die Lebensverhältnisse sind kärglichst, die Krafts in Jerusalem hungern während der Belagerung im Unabhängigkeitskriege, 18 Jahre später zieht der Sechs-Tage-Krieg über einen Autor, der, mittlerweise 71 Jahre alt, an Büchern über Heine, George, Goethe arbeitet, über Christian Wagner, Robert Walser und Kafka schreibt und Kurzprosa verfasst, Meisterstücke der „Kleinen Form” – und das alles ist nicht Eskapismus, sondern der großartige Versuch, der Welt standzuhalten, sich nicht beirren zu lassen, nicht aufzugeben: „Ich bin schwach. / Ich gebe nicht nach.”
Wie man Worte aushorcht
Das war Krafts Art von Stärke. In dem Briefwechsel ist Kraft dabei in Sprache, Denken und Äußerungskraft der Radikalere, Entschiedenere; er steckt eher den Kopf in die Schlinge, riskiert etwas, während Lehmann – dessen Werk ja übrigens insgesamt auch einer respektvollen Überprüfung harrte – leiser tritt. Aber doch: es ist ein beschämend vorbildliches Gespräch zwischen Nahost und Deutschland, in seiner Intensität und (vor allem bei Kraft) mit feinstem, bewunderndem Gespür für das Deutsche in allen seinen Möglichkeiten, auch den nur selten realisierten, etwa bei Seume, Jochmann oder Wagner, ein Gespür samt einer schrankenlosen Berührbarkeit und Begeisterungsfähigkeit.
Das macht dann auch vergessen, dass die beiden alten Herren sich bisweilen mit einer kühnen Häme über die Produktion anderer hermachen. Gottfried Benn gilt Krafts konzentriertes Unverständnis, die bedeutende Joyce-inspirierte Dichtung „fa:m ahniesgwow” von Hans G. Helms kann er 1960 nur verächtlich „verwerfen”, Expressionismus und Dada sind ihm ein närrischer Dreck, Karl Krolow wird verspottet, Enzensberger als Dichter nicht ernst genommen …
Aber das ist halt der Preis dafür, dass der Karl-Kraus-Bewunderer an anderen Stellen mit höchster Empathie die exaktesten Beobachtungen über Bismarck und Grabbe, Turgenjew und Jünger, Felix Hartlaub und – vor allem: – Goethe zu Blatt bringt. Und dass er viele einzelne Wörter auf so eindrückliche und verwunderte Weise anstarrt, ab- und aushorcht: Was für ein wunderbares Wort ist doch „Habseligkeiten”! Oder: Wie sollte man das französische „faire l’amour” übersetzen? Warum ist der Ausdruck im Englischen salopp, geht aber im Deutschen gar nicht? Und während von seinen Gedichten nur sehr wenige Bestand haben dürften, schreibt er in Prosa doch die gestauchtesten gnomischen Sätze: „Das Leben ist ungeheuer schwer. Wir wissen gar nichts und selbst das ungenau.” 1936 schreibt Kraft, dessen Briefe oft komplizierte Wege über Dänemark nach Deutschland finden – Lehmann seinerseits kann nur offen schreiben, wenn er ebenfalls die Post aus England oder Dänemark abschickt – tief resigniert: „Auch die Fähigkeit, Briefe zu schreiben, wird den Deutschen systematisch weggerottet.”
Doch dies ist ein großartiger Briefwechsel von oft steinerner Trauer und zugleich unverwüstlicher Lebendigkeit in litteris. Als Leser wird man zum Dritten in diesem Gespräch, möchte mit zu debattieren anfangen bei den beiden, die sich, obwohl Krieg und Zeitläufte sie fast in Resignation und Erstarrung treiben, wundern, dass sie überleben und weitermachen können, oder dürfen, oder müssen. Wenn etwas an dieser Ausgabe auszusetzen ist, so höchstens, dass die Erläuterungen nicht noch ausführlicher sind, und dass man die Tagebücher Werner Krafts bei der Kommentierung hätte heranziehen sollen. Aber diese Tagebücher sind ein Kapitel ganz eigener Art; freuen wir uns also zunächst aufs intensivste, dass wir wenigstens diesen beiden Bände haben.
WERNER KRAFT / WILHELM LEHMANN: Briefwechsel 1931 – 1968. Herausgegeben von Ricarda Dick. Zwei Bände. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. Zus. 1469 Seiten, 68 Euro.
ULRICH BREDEN: „Meine Anstellung war lebenslänglich und hörte 1933 auf.” Werner Kraft – Bibliothekar, Dichter, Literaturkritiker in Hannover. CW Niemeyer Buchverlage, Hameln 2008. 72 Seiten, 8,90 Euro.
Jörg Drews: Ich gebe nicht nach. Über Werner Kraft und Wilhelm Lehmann: in SZ, 5.3.2009 (Letzte erschienene Kritik von Jörg Drews)