Jörg Drews: „ ‚Echte Trauer‘ – Was ist das?". Die Namenlosen, die Namhaften und die Unnennbaren in Peter Weiss' „Die Ästhetik des Widerstands“
In heutiger Redeweise könnte man vielleicht sagen, der Roman hatte von Anfang an eine soziale Tendenz, er erlöste die Namenlosen von ihrer Namenlosigkeit.
– Helmut Heissenbüttel
Es genügt die magische Kraft des verhaßten Namens, um ihn [= Napoleon] zurückzurufen.
– Guido Ceronetti
Die Zufälle der Verlagsproduktion bringen bisweilen auch sinnvolle Konstellationen von Autoren und Büchern zustande. Die dreiunddreißig Bände, die der Suhrkamp Verlag im Jahr 1983 zu seinem sogenannten „Weißen Programm“ zusammenstellte, sind gewiß nicht nach geistigen oder politischen Affinitäten der Autoren oder Titel ausgesucht worden; vielmehr suchte man einfach nach Titeln im Rechte-Fundus des Verlags, die in neuer Verpackung und mit einem neuen Slogan nochmals oder wieder verkäuflich wären. Dennoch standen in diesem Programm dann zwei Bücher nebeneinander, die sich inhaltlich und historisch berühren und deren Verfasser auf eine in der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts nicht häufige, aber bezeichnende Weise miteinander verbunden waren. Ich meine Peter Weiss‘ Buch „Die Ästhetik des Widerstands“ und Ruth Andreas-Friedrichs „Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945“, ein Buch, das – in deutscher Sprache geschrieben – erstmals 1946 in New York in englischer Übersetzung erschien und dann 1947 in der Originalsprache in Berlin bei Suhrkamp publiziert wurde.1 In Weiss‘ Buch spielt, vor allem im Teil III, in einem fiktionalen Rahmen, aber weitgehend auf Tatsachen basierend, die Tätigkeit von Widerstandsgruppen in Berlin eine Rolle; in Ruth Andreas-Friedrichs Buch lesen wir Auszüge aus heimlichen Aufzeichnungen, die die Autorin während des Dritten Reiches und vor allem während des Krieges in Berlin machte, die Aufzeichnungen einer Frau, die zusammen mit Freunden – Antifaschisten, Nicht-Juden – politisch und rassisch Verfolgten half, ihnen die Ausreise oder später das Untertauchen ermöglichte und Gefangene betreute. Diese Hilfe der sogenannten „Gruppe Onkel Emil“ war nicht primär politisch, sondern humanitär motiviert, wenn es auch Berührungen mit politischen Widerstandskämpfern von den Kommunisten über die „Weiße Rose“ bis zur Gruppe des 20. Juli gab.
Literarische Ähnlichkeiten zwischen den beiden Büchern gibt es kaum, es sei denn, man nennte sie beide in einem gewissen Sinne ,kunstlos‘: das Tagebuch der Ruth Andreas-Friedrich in dem Sinn, daß es sich nur um im Sommer 1945 leicht überarbeitete und um allzu Privates gekürzte Tagesaufzeichnungen handelt; gerade dadurch aber reicht das Buch der für viele Jahre, bis 1983, ziemlich vergessenen Autorin in die Sphäre der Literatur hinein. Und Peter Weiss ist es ja von einem Teil der Kritik nacheinander, beim Erscheinen jedes einzelnen der drei Teile der „Ästhetik des Widerstands“, zum Vorwurf gemacht worden, er habe seine ,künstlerischen‘ Fähigkeiten in diesem Buch verleugnet oder unterdrückt und ein schwerfälliges, monotones, seltsam glanzloses Werk geschrieben. Eine solche Bewertung der „Ästhetik des Widerstands“ konnte nur dadurch zustandekommen, daß Literaturkritiker – vor allem Moritz Menzel alias Jürgen Kolbe, Fritz J. Raddatz und Gert Ueding2 – das Buch an Weiss‘ frühen Arbeiten, vor allem am „Schatten des Körpers des Kutschers“ oder am „Gespräch der drei Gehenden“ maßen (und das ist just der falsche Maßstab) und/oder sich nicht genügend Zeit nahmen, überhaupt auf die Intentionen von Peter Weiss‘ sich einzustellen bzw. auf dessen neue Intentionen sich umzustellen. Ruth Andreas-Friedrichs und Peter Weiss‘ Bücher berühren sich aber, positiv gesprochen, darin, daß sie beide an entscheidenden Stellen eine absolut uneitle Sprache gefunden haben für die Darstellung des äußersten Grauens; bei Ruth Andreas-Friedrich liegt dies daran, daß sie einfach von literarischem Ehrgeiz frei war und daher ihre Aufzeichnungen jede Eitelkeit fehlt, und Weiss hat als Ergebnis höchst reflektierter künstlerischer Strategien eine Sprache gefunden, die allen falschen Prunk des Literarischen abgestreift hat. Man lese bei Ruth Andreas-Friedrich nach, was sie in aller Simplizität und Erschütterung des unmittelbaren Schreckens über den Aufenthalt eines am 9. November 1938 verhafteten Juden im KZ Oranienburg schreibt3 und vergleiche damit den Bericht von den Hinrichtungen in Plötzensee im Dritten Band der „Ästhetik des Widerstands“. Das ist im Rang vergleichbar, im Rang, um das Adjektiv ,künstlerisch‘ eben zu vermeiden.
Die Schreibmotive der beiden Autoren – übrigens war Ruth Andreas-Friedrich mit Peter Weiss‘ Eltern schon vor 1933 befreundet und besuchte sie auch noch 1938 im schwedischen Exil; und Peter Weiss notiert in seinen „Notizbüchern 1971-1980“ zu Beginn der Arbeit an der „Ästhetik des Widerstands“ unter dem 26. Oktober 1972 in Berlin: „Hünensteig, Steglitz: die Wohnung von Ruth Friedrich, der Freundin unserer Familie während meiner Jugend“4 – die Schreibmotive von Ruth Andreas-Friedrich und Peter Weiss also waren sicher verschieden. Ruth Andreas-Friedrich hielt ihre Erlebnisse und Aktivitäten im Berlin Nazi-Deutschlands in den Kriegsjahren fest, weil sie nach dem Kriege wollte Zeugnis ablegen können dafür, daß es auch unter Hitlers Regime Deutsche gegeben hatte, die unter Einsatz ihres Lebens politisch Verfolgten und Juden geholfen hatten; sie wollte – und das ist wohl bei einem Menschen, der sein Leben riskiert hat und integer war, legitim – etwas retten am deutschen Namen, der von Schande bedeckt war, und sie hat übrigens bei der Publikation des Buches die Decknamen, die sie für die Personen in ihrem Tagebuch hatte benutzen müssen, falls es gefunden würde, beibehalten: Es sollte nicht um persönlich zuschreibbare Heldentaten gehen, und zugleich: die Decknamen hatten sich sozusagen ihre eigene Würde erworben. Über die Intentionen Peter Weiss‘ bei der Konzipierung und der Niederschrift der „Ästhetik des Widerstands“, die sicher viel politischer und viel komplexer sind, wird gleich mehr zu sagen sein. Mir scheint aber bezeichnend und mit den Intentionen von Weiss‘ sich überschneidend, daß Ruth Andreas-Friedrichs Buch mit einer emphatischen Nennung und Anrufung von Menschen endet. Unter dem 28. April 1945 – als die Russen schon Berlin fast vollständig erobert hatten, zehn Tage vor dem endgültigen Zusammenbruch des Dritten Reichs – notiert sie, erfüllt von Erleichterung und Hoffnung: „Der Krieg ist aus. In dieser Stunde beginnt für uns der Friede. Du bist frei, Frank Matthis. Du bist frei, Jo Thäler. Frei seid ihr alle, die ihr jahrelang im Verborgenen lebtet. Wald und Hartmann, Ralph, Rita, Konrad und ihr unzähligen Tausende, die ihr Nein sagtet zu Adolf Hitlers Elendspolitik. Das große Unrecht hat aufgehört. Wir großen dich, Helmuth von Moltke! Wir großen euch, ihr Geschwister Scholl, dich, Ursula Reuber, dich, Heinrich Mühsam, dich, Peter Tarnowsky und Wolfgang Kühn! Wir fangen an. In eurem Namen fangen wir an!“5 Die Namen von Opfern des Nationalsozialismus, von Verfolgten, die tot sind, und von solchen, die die Verfolgung überlebten, werden genannt, beschworen, um zu sagen, daß sie nicht vergessen sind und daß in ihrem Namen neu begonnen werden soll. In diesem Punkt überschneidet Ruth Andreas-Friedrichs Buch sich mit einer zentralen Intention Weiss‘: „Die Ästhetik des Widerstands“ ist nicht einfach nur ein Buch der Erinnerung und des Eingedenkens der Opfer, sondern diese Intention, ihre Voraussetzungen und ästhetischen Implikationen bestimmen bis in mythologische Bezüge hinein viele Passagen des Buches. Erinnerung und Eingedenken als politische und schriftstellerische Aufgabe sind vor allem an Namen geknüpft, und daher bilden Namen, Namenlisten, Namenlosigkeit und das Verschweigen von Namen, alle Aspekte des Namen-Nennens bis zur Namens-Magie ein Geflecht durch das ganze Buch hindurch, dessen Verzweigungen ich hier nachgehen möchte.
Aufzählungen von Namen und pointierte einzelne Namensnennungen gibt es bei Weiss schon in seinen Büchern vor der „Ästhetik des Widerstands“. Mit der rekapitulierenden Nennung von Namen, vor allem von Schriftstellern und bildenden Künstlern, wird immer stichwortartig etwas gesagt über den Stand der geistig-künstlerischen Entwicklung der Erzähler in den weitgehend autobiographischen Büchern „Abschied von den Eltern“ und „Fluchtpunkt“. Vor allem in „Fluchtpunkt“ finden sich mehrfach Aufzählungen von Malern und Autoren, von denen der Ich-Erzähler berichtet, daß er sie zu einem bestimmten Zeitpunkt kennenlernte bzw. zur Kenntnis nahm. Meist steckt in den Aufzählungen auch die Klage darüber, daß das Elternhaus und überhaupt die Schicht, aus der der Erzähler stammt, eine frühere Aneignung dieser Künstler verhindert und also auch die Entwicklung des Erzählers verzögert hätten; bürgerliche Herkunft und Exil, so diagnostiziert der Erzähler, sind schuld an solchen Verspätungen, die aber hier noch keinen politischen Aspekt haben. In einigen anderen Fällen aber – wenn es nicht um Dichter und bildende Künstler geht – werden Namen als Eingeständnis der Schuld des Vergessens aufgeführt. So erinnert sich der Erzähler in „Fluchtpunkt“ namentlich an die Prager Freunde Lucie Weisberger und Peter Kien, von denen er noch 1942 aus Theresienstadt Nachrichten bekommt; er macht auch vage Versuche, ihnen zu schreiben und sie freizubekommen, aber dann erfährt er nur noch, daß sie „nach unbekanntem Ort verzogen“6 sind, und dann senkt sich Schweigen und Vergessen über ihr Schicksal. Daß er selbst davongekommen ist, ohne Verdienst, durch Zufall, empfindet der Erzähler als schwere Schuld, wie aus einer Passage in „Fluchtpunkt“ und aus vielen späten Äußerungen von Peter Weiss deutlich wird. In „Fluchtpunkt“ heißt es: „Lange trug ich die Schuld, daß ich nicht zu denen gehörte, die die Nummer der Entwertung ins Fleisch eingebrannt bekommen hatten, daß ich entwichen und zum Zuschauer verurteilt worden war. Ich war aufgewachsen, um vernichtet zu werden, doch ich war der Vernichtung entgangen. Ich war geflohen und hatte mich verkrochen. Ich hätte umkommen müssen, ich hätte mich opfern müssen, und wenn ich nicht gefangen und ermordet, oder auf dem Schlachtfeld erschossen worden war, so mußte ich zumindest meine Schuld tragen, das war das letzte, was von mir verlangt wurde.“7
Dies ist die persönliche Seite des Aktes der Wiedergutmachung, oder: der Abtragung einer moralischen Schuld, welche „Die Ästhetik des Widerstands“ auch darstellt; die politische Seite ist die des damit verknüpften und von Peter Weiss ebenfalls als Schuld empfundenen notwendigen Eingeständnisses seiner a-politischen Haltung bis in die frühen sechziger Jahre. „Die Ästhetik des Widerstands“ verleugnet nicht so sehr – wie einige Kritiker meinten – Peter Weiss‘ Vergangenheit als daß sie diese vielmehr unter dem Aspekt einer moralischen und politischen Verfehlung bzw. Unterlassung darstellt und indirekt ergänzt, wunschhaft revidiert: rückwärts gewandt und utopisch zugleich.
Die Namensreihungen in der „Ästhetik des Widerstands“ erfolgen unter drei Aspekten, von denen nur der erste verwandt ist mit den Vorzeichen, unter denen in „Fluchtpunkt“ Namen genannt werden. Einmal gibt es das Problem der Erinnerung und des Eingedenkens der unzähligen Opfer des Dritten Reiches, die gar nicht mehr genannt werden können, entweder weil wir ihre Namen nicht kennen oder weil ihre vollständige Nennung jedes Werk der Literatur sprengen würde. Ihrer Zahl wurden eben nur – sarkastisch gesprochen – jene Listen gerecht, durch die sie die Nazis entindividualisiert, entmenschlicht, zu Unpersonen und Zahlen degradiert hatten. Um die Gesamtheit der Toten doch irgendwie zu benennen, um die riesige Zahl doch stellvertretend zu nennen, ihnen – sagen wir einmal behelfsweise: – gerecht zu werden, mußte Weiss also einen anderen Weg gehen.
Zum zweiten sind in der „Ästhetik des Widerstands“ an vielen Stellen Aufzählungen von Schriftstellern und bildenden Künstlern zu finden, deren Nennung nun aber nur zum Teil unter dem Aspekt der individuellen Aneignung ihrer Werke durch den Erzähler, den sich zum Schriftsteller entwickelnden jungen Arbeiter erfolgt, sondern vor allem mit der Absicht einer Korrektur der sozialistischen und kommunistischen Kunstdoktrinen und Kunstgeschichtsschreibung dieses Jahrhunderts. Auf einer überpersönlichen Ebene wiederholt sich, was der Erzähler – mehr oder weniger mit Peter Weiss zu identifizieren – schon in „Abschied von den Eltern“ und „Fluchtpunkt“ für sich beklagt hatte: daß er diese Künstler zu spät oder gar nicht kennen gelernt hatte. War in seinem individuellen Fall die Herkunft und das Exil schuld, so ist die Schuld der Partei, dogmatisch, kurzsichtig im Drang der Tagestaktik diese Künstler von vornherein als dekadent, formalistisch usw. verdammt oder exkommuniziert zu haben, eine politische Schuld. Wie verständlich und historisch erklärbar auch immer – und Weiss geht ja seinem Verständnis für die Fehler der Arbeiterbewegung und der Kommunistischen Parteien oft sehr weit – : der Fehler muß wiedergutgemacht werden, eben in und an der Entwicklung der ja eher nicht realistischen, sondern utopischen Figur des namenlosen Erzählers der „Ästhetik des Widerstands“.
Drittens ist nicht nur die Kulturgeschichtsschreibung der Partei zu redivieren, sondern die Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung und die diversen Parteigeschichten selbst. Das heißt, politische Geschichte selbst muß ergänzt, revidiert, komplettiert werden. In Stockholm bekommt der Erzähler während des Krieges, als er Kurierdienste versieht, das Manuskript zu einem Aufsatz Funk/Wehners zum Ehrentag der Roten Armee in die Hände, das er weiterzuleiten hat. Offenbar schaut er in dieses Manuskript hinein, denn er bemerkt: „Von Lenin, und von dem großen Jetzigen war die Armee aufgestellt und zum Ruhm gebracht worden. Kein Wort über ihren eigentlichen Gründer … Nicht nur die Dörfer und Städte in Sowjetland lagen zertrümmert, verwüstet worden war auch dessen Geschichte, doch am Gesichtsausdruck des gealterten Einsiedlers [gemeint ist der Redakteur Rosner] sah ich, daß er meine Einwände nicht verstehen würde, daß er nur noch einen Kampf zwischen Phantomen führte, nichts mehr wußte von dem, wofür wir eines Tags würden Rechenschaft ablegen müssen.“ (III, 157) Gemeint ist jener „Gründer“ der Roten Armee, dessen Namen Weiss schon einige Jahre vor dem Beginn der Niederschrift der „Ästhetik des Widerstands“ zu retten und wieder öffentlich zu nennen versucht hatte: Leo Trotzki – was ihm prompt die entsprechende Schelte und Demütigungen aus Moskau und Ostberlin eingebracht hatte. – Wenige Seiten vorher, ebenfalls im Krieg, schreibt Funk/Wehner, diesmal unter dem Pseudonym Wegner, einen Aufsatz zum Gedenken an Rosa Luxemburg: „Dies war auch wieder ein solches in sich zerstrittenes Werk, voller Mut, voller Feigheit, voll krampfhaftem Geschichtssinn und erzwungenen Fälschungen, ein Wagnis hätte es sein können, den Namen der Revolutionärin in Erinnerung zu rufen, es wäre dabei ihrer Unbestechlichkeit gerecht geworden, jetzt aber widerfuhr ihr, ganz in den Dienst dessen gestellt, was sie so glühend kritisiert hatte, eher eine erneute Schändung. Doch vielleicht genügte auch schon, von ihr zu sprechen, die seit vielen Jahren aus den Annalen der Partei gestrichen war, zusammen mit ihren nächsten Mitkämpfern, die sie überlebt hatten, denn über sie zu schreiben bedeutete, selbst wenn es sich nur um ein paar Tiraden handelte, daß insgeheim darauf hingewiesen wurde, wer bei der Gründung der Partei, im Dezember Neunzehnhundert Achtzehn, neben ihr gestanden hatte, Verrufene, Ausgestoßene oder Ermordete, alle die Spartakisten, Brandler, Thalheimer, Knief, Flieg, Eberlein, Remmele, Frölich, nur einer aus ihrem Kreis war noch heil, Pieck, und von diesem, der, als einziger der alten Garde, der Partei vorstand, mochte Funk den Anstoß zu der kleinen Schrift erhalten haben.“ (III, 150) Es geht – an dieser Stelle wie an vielen anderen – darum, Unpersonen wieder zu Personen zu machen, und vom ersten bis zum dritten Band werden um der Wahrheit willen und um der Wahrhaftigkeit und der Würde sowohl der Menschen wie der Parteigeschichte willen unzählige Namen beschworen. Im ersten Band sind es vor allem zahlreiche von der Partei als bürgerlich usw. verdammte Schriftsteller, von Kafka über Canetti bis Celine (I,183-186); im zweiten Band sind es – im Zusammenhang mit der Aufarbeitung und Aufbereitung der schwedischen Geschichte des Spätmittelalters und des 19. und 20. Jahrhunderts für Brechts geplantes Engelbrekt-Stück – vor allem die Namen von schwedischen Adeligen und Aufrührern, von konservativen, liberalen und linken politischen Führern und ihren Opfern, dann aber auch die Autoren und Titel der Bücher, die der Erzähler beim Verpacken von Brechts Habe vor der Abfahrt nach Finnland notiert (II,312-319); im dritten Band finden sich vor allem Namen der im Untergrund in Deutschland politisch Tätigen und derer, die mit ihnen vom Ausland her in Verbindung stehen, von Sozialdemokraten bis zu den Kommunisten, und die Namen der deutschen Konzerne und Konzernherren, die der Vater des Erzählers aufzählt.
Einige Beispiele sollen die Art des Umgangs mit Namen verdeutlichen, „einige Namen hervortretend aus einem Gewirr von Beziehungen, wieder ein Sturz hinein in das Netzwerk von Namen, Namen, die für Mordlust, für geheime Organisationen standen“, wie Weiss in den „Notizbüchern 71-80“ notiert8, aber nicht nur dafür. Als Brecht im Buch die Arbeit am Engelbrekt-Stück aufgegeben hat, macht sich der Erzähler, sein Eleve, an die Ausarbeitung der abschließenden Szenen des – wie er sagt – „Epos“. Der kranke Engelbrekt – so erzählt er seinen Stück-Entwurf nach – macht sich auf zur Reise nach Stockholm zum Reichsrat, wird unterwegs abgefangen und mit seinen Leuten auf Schloß Goeksholm gebracht: „Und nach diesem Sturz der Aufstieg zum Schlußbild, das vom Volk nichts, das die Obern nur zeigte, in ihrer Machtfülle, wieder ganz vorn. Auf breitem Podest, in der Mitte die drei Bischöfe, Thomas von Strängnäs, Sigge von Skara und Knut Bosson Nacht und Tag von Linköping, in glitzerndem Ornat, gehüllt in den Rauch geschwungner Weihgefäße. Sie hielten den Pergamentbrief hoch, mit der Liste aller Privilegien, die sie und die weltlichen Herrn sich zugesprochen hatten. Daran baumelte das dichte Gehänge der Siegel. Zu ihren Seiten standen rechts der Reichsmarschall Karl Knutsson Bonde, die Brüder Nils, Bo und Bengt Stensson Nacht und Tag, Mans Bengtsson Nacht und Tag, Nils Erengislessan und Eringisle Nilsson Hammarstad, Bo Knutsson Grip und Magnus Gren, und links Krister Nilsson Vasa, Knut Karlsson Örnfot, Gustaf Algotsson Sture, Knut Jonsson Tre Rosor, Karl Magnusson und Greger Magnusson Eka, Magnus Birgersson und Guse Nilsson Bat, und Nils Jönsson Oxenstierna. Und es kamen hinzu Engelbrekts Waffengefährten Herman Berman, Gotskalk Bengtsson und Bengt Gotskalksson Ulv, Johan Karlsson Färla, Claus Lange und Arvid Svan. Nur Plata und Puke fehlten. Was da oben stand, in Eisen und Silber, in purpurnen Mänteln, sich darbietend als höchste Einheit, war in sich zerrüttet von Eifersucht, Habgier und Mordlust, trug in sich die bittren Fehden um die größten Güter, die stärksten Burgen, die bedeutendsten Posten, den Thron, und hinter ihnen, in den Fenstern der Giebelhäuser, warteten die Großbürger, gekleidet in Samt und Pelzwerk, auf ihren Teil der Beute. Da wurde ihnen ein Gefangener zu Füßen geschleudert, ein Bauer wars, die Arme und Beine mit Seilen gebunden, ein zweiter folgte. Da sind sie, die letzten, rief Bengt Stensson Nacht und Tag, Goeksholm haben sie anzünden wollen, als wir zu Besuch weilten beim Ritter Nils Erengislesson. Rächen wollten sie einen gewissen Engelbrekt. Wer war denn das, Engelbrekt, rief Karl Knutsson, zu wüstem Gelächter. Nie gehört von einem Engelbrekt. Unbekannt, wie diese dort, sagte er, auf die Gefangnen zeigend. Der eine richtete sich auf. Hans Martensson heiß ich. Einer der Kriegsknechte unten versetzte ihm einen Hieb mit der Lanze. Namenlos bist du, rief Karl Knutsson. Ich heiße, sagte der Bauer noch einmal, und brach unter erneutem Schlag zusammen. Ich heiße, sagte auch der andre Gefangne, und, nichts heißt du, rief Karl Knutsson, und die Lanzen schmetterten auf den Landmann ein.“ (II, 308/9) Das Schlimmste, das man jemandem antun kann, ist, seinen Namen der Vergessenheit zu übergeben, ihn auszulöschen zu versuchen; der schlimmste Fluch ist „Nicht gedacht soll seiner werden!“ Das kann aber auch umgekehrt werden: die Namen der Verbrecher sollen aufbewahrt werden, ihre Taten sollen nicht vergessen sein. In der vom Erzähler nacherzählten Szene, die zugleich das erste von ihm verfaßte Stück Literatur darstellt, werden uns sowohl die Namen derer überliefert, die nach dem Willen der Mächtigen hätten ausgelöscht werden sollen, als auch die der Großen des schwedischen Reichs, der großen Übeltäter; später erlaben wir dann auch die Namen der Mächtigen des mit Nazi-Deutschland sympathisierenden Schweden, bis hin zu den Namen der schwedischen Polizeibeamten, die bei der Rückkehr der Kuriere Sager und Wagner diese verhaften und sie an Deutschland ausliefern wollen: „Paulsson, Söderström, Lundqvist, Lönn“ (III, 136), wie wir umgekehrt auch wieder die fünf Namen derer erfahren, die am 14. Mai 1931 bei Streiks von der schwedischen Polizei erschossen wurden: „Eira Söderberg, Erik Bergström, Viktor Eriksson, Evert Nygren und Sture Larsson“. (II, 300)
Eine besondere Art von Liste findet sich kurz danach: Der Erzähler ist Brecht beim Katalogisieren der Bücher behilflich, die Brecht nach Finnland mitnimmt bzw. die ihm nachgeschickt werden sollen, und nun, unterbrochen von den Verhandlungen mit der schwedischen Polizei, die nach politischer Literatur sucht, lesen wir ein Verzeichnis der Brechtschen Bibliothek, in einer Ausführlichkeit, die jedem einzelnen Titel, jedem einzelnen Autor sein Recht und seine Würde geben soll, gerade angesichts der Gefährdung. Denn das Einpacken wird einmal auch vom Erzähler als ein „ins Grab senken“ (III, 316) bezeichnet – nicht von ungefähr, da unsicher ist, ob nicht irgendeine Polizei, die schwedische oder die finnische, die Bücher beschlagnahmen wird, und da außerdem unter den Autoren die fast vollständige deutsche Exilliteratur vertreten ist. Jedes Buch ist ein Individuum, nun eben nicht zur Vernichtung, sondern zur Bewahrung aufgelistet: „jeder Name und Titel hier vollgedrängt von Lebensstoff im Gegensatz zu den schablonenhaften Namen von Politikern.“9 Das ist das genaue Gegenteil einer Proskriptionsliste: keiner soll vergessen werden, aber nicht bei der Verfolgung, sondern bei der Rettung. Ich vermute, daß die Liste auch gedacht ist als Gegenstück zu den diversen Listen, die im Dritten Reich die zu verbrennenden, nicht mehr zu führenden, zu sekludierenden, aus Bibliotheken zu entfernenden Bücher anführten, vom 10. Mai 1933 an und immer weiter, Gegenstück und Aufhebung auch sämtlicher (und nicht nur nationalsozialistischer) Zensurlisten, Ausbürgerungslisten und Häftlingsverzeichnisse. Die Liste als Instrument der totalen, totalitären Erfassung wird hier der Macht aus der Hand genommen und umfunktioniert; literarhistorisch gesehen wird hier auch, als Stilmittel bzw. als textorganisierendes Prinzip, wieder der antike epische Namenkatalog eingeführt, der Garant des umfassenden epischen Bescheidwissens des Autors.
Lotte Bischof wiederum, im dritten Band, die die Namen so vieler Toter in sich trägt – neunzehn Seiten lang läßt sie der Erzähler nach dem Bericht von der Hinrichtung in Plötzensee die Namen und Schicksale derer memorieren, von deren Tod sie bis zum Ende des Krieges erfahren haben würde (III, 220-239) – , nimmt sich vor, nach dem Krieg Lehrerin zu werden, damit sie den Schülern, in deren Schule vielleicht eine Marmortafel an einige Opfer des Faschismus erinnern wird, „etwas von dem deutlich“ machen kann, „was sich hinter den goldenen Namen verbarg“. (III, 236) Sie selbst, die auf der Fahrt nach Deutschland in der Kajüte und dann im leeren Tank eines Schiffes lebendig eingesargt war, hat das Glück erfahren, mit Namen gerufen zu werden. Bei der Ankunft des Schiffes in Bremen heißt es: „Als sie, bei einem Geräusch oben an den Schrauben des Lukendeckels, auf die Uhr blickte, hätte sie nicht zu sagen gewußt, ob es vier Uhr morgens oder bereits vier Uhr nachmittags war, sie drückte sich wieder in die Furche des Bugs, bis sie Svaerds Stimme hörte. Lotte, rief er. Es war sonderbar, ihren Vornamen zu hören. Es war ihr, als hätte sie diesen Namen vergessen gehabt und als sei er ihr jetzt zurückgegeben worden. Der Name kam auf sie zu, wie eine große, unerwartete Freundlichkeit. Die Knie versagten ihr, als sie die Leiter emporklettern sollte. Svaerd streckte ihr die Arme entgegen. Sie ergriff seine Hände, ließ sich hinaufziehen. Und als sie dann, in der Morgendämmerung, auf ihrer Pritsche lag, wirkte der Laut des Namens noch in ihr fort. Iß, Lotte, du hast ja nichts gegessen, nichts getrunken. Wir fahren jetzt auf die Elbe zu. Dann fahren wir am Leuchtturm von Neuwerk vorbei, fahren die Ostfriesischen Inseln entlang, bis Borkum, dann in die Ems, nach Delfzejl. Da mußt du wieder in den Tank, Lotte, da laden wir die Bretter ab. Dann geht es weiter, zur Weser, nach Bremen. Jetzt kannst du schlafen, Lotte.“ (III, 82)
Eine der eigenartigsten und in dem Moment, da sie geschieht, gleich auch vorausdeutend poetologisch reflektierten Namensnennungen findet sich im dritten Band der „Ästhetik des Widerstands“. Während die Mutter des Erzählers, schon verstummt, fast schon gar nicht mehr anwesend, in der Küche in Alingsas herumgeht und den Tisch deckt, beschwört der Vater durch Namensnennungen „die Gewalt herauf, die, wenn auch immer vor uns versteckt, unser Leben bestimmte. Im Gegensatz zu der für uns ungreifbaren inneren Welt meiner Mutter war dies das vollkommen Rationale. Es war ein riesiges metallisches System, vor dem die organische Substanz porös wurde, sich leicht zerreiben und wegblasen ließ.“ (III, 125) Der Vater sagt die Namen der großen Konzerne und Konzernherren auf, die Hitler in den Sattel geholfen hatten oder doch auf jeden Fall unter seinem Regime kräftig expandierten und Profite machten und die weiterbestehen und weiterprofitieren würden (was sie ja auch tun): „Krupp, Thyssen, Kirdorf, Stinnes, Vögler, Mannesmann …Duisberg …Haniel, Wolff, Borsig, Klöckner, Hoesch, Bosch, Blohm, Siemens …Flick …Henschel … Dresdner Bank …Deutsche Bank …IG Farben …“ (III, 126-128) Diese Namen werden zweifach bezogen; einmal stehen sie als das „Rationale“, „Metallische“ für das, was in absolutem Gegensatz steht zum Organischen, „Natürlichen“, man kann sogar sagen (wenn man an die mythische Dimension denkt, für die die Mutter des Erzählers und die Gäa auf dem Pergamon-Fries steht, wird man das Wort trotz seiner Obertöne nicht mißverstehen): zum Mütterlichen und Erdhaften; gemeint ist jene Art Rationalität, die Horkheimer „instrumentell“ nannte. Und zugleich benennen diese Namen das Wider-Poetische par excellence; durch ihre Nennung wird auch das ästhetische Problem, die Schreib-Aufgabe des Erzählers, des jungen werdenden Schriftstellers angedeutet, der sich episch in mit traditionellen Mitteln kaum ,erzählbare‘ Bereiche hineinbegeben bzw. diese in sein Buch hineinnehmen muß. Der Erzähler sagt – und dies deutet wieder darauf hin, daß Namensaufzählungen ein bewußt eingesetztes Element des Buches sind – : „Waren Sie, deren Namen er nannte, auch nur Repräsentanten des Systems, das lange vor ihnen begonnen hatte, und nach ihnen weitergeführt werden würde, so war es für ihn, der hin und her schritt auf den knarrenden Bohlen, jetzt doch an der Zeit, sie direkt anzusprechen. Da ich ihm über meine literarische Arbeit berichtet hatte, war mir einen Augenblick lang, als sei nichts wichtiger für die Inganghaltung des Schreibens als das Durchsetzen der Sprache mit Materialien aus Regionen, die mit dem, was wir der künstlerischen Tätigkeit vorbehielten, nichts zu tun zu haben schienen. Ich hatte mich auch wieder gefragt, wie sich dies alles einmal zum Ausdruck würde bringen lassen. Wenn ich Hodann sagen wollte, was stattgefunden hatte in dem niedrigen, schiefen Zimmer meiner Eltern, draußen auf dem Schulhof die Bäume naß und schwarz, mußte ich das Abweichende mit einbeziehn. So konnte das, was sich als fremdartig ausgab, dargestellt werden. Sein Aufzählen von Namen schien zunächst ein Bruch zu sein mit allem, was wir gewöhnt waren. Daß die Namen uns bekannt und verflochten waren mit unserer Existenz, machte ihre Nennung nicht selbstverständlicher. Vielleicht drängte sich ein stilistisches Prinzip auf. Ich wußte nicht, wie ich das, was mit den Namen verbunden war, wiedergeben sollte. Erst später, im Januar, empfand ich die Notwendigkeit dieser erbitterten Auseinandersetzung, und trotz des Mißverhältnisses zwischen der dürr~ Nachzeichnung und dem ungeheuerlichen Modell stimmte ich dem hilflosen und zugleich wissenden Angriff meines Vaters zu.“ (III, 125/6)
Die Pointe ist, daß sich das, was der Erzähler unter „dies alles“ zusammenfaßt, eben im herkömmlichen Sinn nicht „zum Ausdruck bringen“ läßt, in der Art also, wie Dinge, die im weitesten Sinn dem „Organischen“ zugehören, also auch der natürliche Tod, sich künstlerisch „zum Ausdruck bringen“ lassen: Namenlisten haben im Sinn der traditionellen Expressivität eben keinen Ausdruck – bekommen ihn aber in Peter Weiss‘ Buch paradoxerweise doch. Die Kritiker, die individuellen, ,künstlerischen‘ Ausdruck in der Sprache Weiss‘ in der „Ästhetik des Widerstands“ vermißt haben – vor allem Ueding und Raddatz – hielten nach etwas Ausschau, was Weiss in seinem Buch eben mit Gründen gar nicht mehr geben konnte und wollte. Zugleich ist aber die Aufzählung des Vaters in der Tat „hilflos“, so wissend sie auch sein mag, denn sie reicht nicht im entferntesten an das Leiden der Mutter heran, die bei der Namensnennung anwesend-abwesend ist, reicht nicht an die Leiden derer heran, die da geschunden und ausgebeutet wurden, wenn nicht im direkten Auftrag, so doch im Interesse des Profits derer, die der Vater aufzählt. Die Aufzählung des Vaters ist dem unermeßlichen Leiden aber nur abstrakt und beschwörend entgegengestellt: „In seinem Anspruch auf Eindeutigkeit, auf Unwiderlegbarkeit trieb er die Erfahrungen, die meine Mutter gemacht hatte, in ein noch größeres Dunkel.“ (III, 125) Mit anderen Worten: Die Vermittlung zwischen den beiden Sphären ist gar nicht mehr herzustellen und muß doch – erzählerisch, ,künstlerisch‘ – hergestellt werden; altmodisch gesprochen: die Sinnfrage ist durch die Nennung der Namen nicht zu beantworten, auch nicht die Frage danach, warum solche Leiden eigentlich Menschen von Menschen angetan werden – die Frage führt nur, entgegen der aufklärerischen Absicht des Vaters, in ein „noch größeres Dunkel“. Das Dunkel aber ist nicht nur das der ungelösten Fragen der philosophischen Anthropologie oder der Metaphysik, sondern auch das von Brecht her bekannte: „Denn man sieht nur die im Lichte,/ Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Im Licht sind die Genannten für einen Augenblick, die Mutter versinkt im Dunkel; aber auch: Erzählt wird von der Mutter, sie wird beleuchtet, während die andern im Dunkel bleiben – von ihnen kann im herkömmlichen Sinne nicht erzählt werden, denn – nach Adorno – auf den Kommandohöhen der Gesellschaft herrscht kein erzählbares Leben mehr. Der Vater nennt Namen, gehört aber selbst zu den im Buch an vielen Stellen apostrophierten Namenlosen.
Auffälligerweise bleibt eine Anzahl von Personen übrigens in dem Buch ganz buchstäblich namenlos. Sie bekommen auf den ganzen fast 1000 Seiten keinen Eigennamen, obwohl von ihnen erzählt wird. Das sind vor allem der Vater und die Mutter des Erzählers und der Erzähler selbst. Die wichtigste Gestalt in diesem Komplex „Erinnerung“ und „Namensnennung“ ist die Mutter. Es gibt bei Weiss eine Tradition des Sich-gleich-Machens eines Teils seiner Personen mit ihrem Schicksal, eine Tradition der begriffslosen Mimesis der Figuren mit ihrer Umwelt bzw. mit bestimmten Zügen dieser Umwelt. In „Fluchtpunkt“ zum Beispiel zieht sich der Künstler Hieronymus bis zur fast kriminellen Asozialität aus der Gesellschaft zurück und errichtet eine künstlerische Welt der Montage bzw. Collage: Aus Buch- und Zeitungsfetzen macht dieser Hieronymus eine Art Über-Buch, das die ganze Welt in Bruchstücken enthält; er baut sich, kontaktlos zur Welt, ein chimärisches Buch zusammen, das in Fragmenten die Totalität der Welt enthält, einer fragmentierten Wirklichkeit entspricht, und verreckt am Ende orientierungslos und einsam. Was hier wie ein individuell-pathologischer Fall von Künstler-Neurose, von weltflüchtigem Avantgarde-Künstlertum erscheint, ist in der „Ästhetik des Widerstands“ sozusagen als ,Motiv‘ wiederaufgenommen, aber unter politische Perspektiven gerückt. Der Komintern-Redakteur Rosner stellt Namenlisten, Schemata des Untergrundnetzes der Kommunistischen Partei zusammen, auf denen er die Kanäle und Kurierwege der Widerstandgruppen der KP abbilden will, und er liefert und redigiert Kommentare zur heillos komplizierten bzw. heillos verfahrenen, kaum noch zu rechtfertigenden Politik der Sowjetunion zunächst unterm Hitler-Stalin-Pakt, dann während des Krieges, als der Widerstand eigentlich nur noch auf dem Papier bestand, jedenfalls seine Wirkung praktisch gleich null war. Rosner denkt wie der Hieronymus des „Fluchtpunkt“ völlig wirklichkeitsentleert, ist eingesponnen in ein System der analogen, quasi-mimetischen ,Abbildung‘ der Welt, der aber in der Welt nur noch kleine Reste entsprechen. Axel Dunker hat darauf hingewiesen, daß Rosner sogar in II, 206 als der „Hieronymus der Komintern“ bezeichnet wird: ein Heiliger zwar, aber fast ohne Kontakt zur Welt.10
Ein zweites, nun in der „Ästhetik des Widerstands“ erörtertes Beispiel solcher Mimesis an den Gegenstand des Interesses und der künstlerischen Tätigkeit ist der Maler Gericault, der die Leichenschauhäuser von Paris besucht, um sich den Gegenständen seiner Bilder gleichzumachen. Seine Affinität zu den dem Tode Geweihten oder ihm schon Verfallenen ist aber nicht einfach ,dekadent‘, sondern befähigt ihn zu Einsichten, die er nicht hätte, entspräche nicht etwas in ihm den Gegenständen seines morbiden Interesses, und dies ist nach Peter Weiss‘ (natürlich auch gegen sozialistisch-realistische Dekadenz-Vorstellungen sich richtende) Kunstphilosophie bzw. -pschologie geradezu die Voraussetzung dafür, daß er das „Floß der Medusa“ so malen konnte. Im Band II der „Ästhetik des Widerstands“ weiß man ja manchmal nicht, ob Gericault selbst, die Schiffbrüchigen der „Medusa“ oder der Erzähler sprechen, da ihre Perspektiven sozusagen empathisch ineinandergeblendet werden: „Wieder folgte ich Gericault, in das Hospital Beaujon in der Vorstadt Roule, in die Salpetrière, in die Morgue, wohin es ihn zum Studium des Definitiven getrieben hatte. Die Faszination, die der Tod auf ihn ausgeübt hatte, entsprach seinem Trieb, sich mit dem Augenblick zu konfrontieren, an dem alles zu Ende ist. Ich begann zu verstehen, warum er nach diesem Gegenpol zu seiner Aktivität verlangte. Er stellte dabei sein Verlangen nach Wahrheit auf die Probe. Vor dem Schlußpunkt, dem Unabänderlichen, hatte sein Werk standzuhalten. Beim Anblick der Toten verwitterte in ihm jeder Rest von Eitelkeit und Selbsttäuschung.“ (II, 120)
In der „Ästhetik des Widerstands“ ist es die Mutter des Erzählers, die sich bis zur völligen Selbstaufgabe dem Leid, dessen Zeuge sie geworden war, gleichmacht. Wie sehr sie sich mit den Opfern der Politik Hitlers und Stalins identifiziert, wird schon im ersten Band des Buches angedeutet. Als ihr Sohn, der Erzähler, seine Eltern 1939 in Warnsdorf in der Tschechoslowakei zum ersten Mal seit der Flucht aus Berlin wieder sieht, heißt es: „Während sie mich ins Haus zog, sagte sie mir, daß sie, nachdem man sie ihres dunklen Haars wegen einige Male als Jüdin bezeichnet hatte, sich nun selbst zur Jüdin erklärt hatte, was es ihr und dem Vater jedoch schwer machte, in Warnsdorf eine Bleibe zu finden.“ (I, 189) Nachdem sie dann Augenzeugin der Vertreibungen bei der Teilung Polens zwischen Hitler und Stalin geworden war und dann auch Leidensgenossin derer, die die ersten Opfer des berühmten Paktes von 1939 wurden – mit dem Vater gerät sie 1939/40 auf dem Weg von der Tschechei über Polen nach Schweden zwischen die Fronten; deutscher und russischer Einmarsch überrollen sie, verstummt sie vor Entsetzen und ist damit – obwohl noch am Leben und nach Schweden entkommen – den namen- und sprachlosen Opfern gleich. Die Erinnerung an die Grausamkeiten hat von der Mutter „Besitz ergriffen“ (III, 124) – sie ist eine von der Vergangenheit ,Besessene‘, die stellvertretend für viele stirbt; genauer müßte man sagen: sie macht sich tot (vgl. III, 129).
Auf diese Verletzung und Verstümmelung ihrer Menschlichkeit deutet, wie man rückblickend bemerken kann, schon die Figur der Gäa in dem vor allem im ersten Band diskutierten Pergamon-Fries hin; deren Schmerz über die Niedermetzelung der „Kinder der Erde“ wird herausgelesen aus der Verstümmelung der Figur im klassischen Bildwerk. Die Beschädigung des Bildwerks präfiguriert auf der mythischen Ebene den späteren zum Wahnsinn sich steigernden Schmerz der Mutter.11 Daß die Mutter dem Stupor verfällt, aktivischer interpretiert: daß sie sich ins Schweigen zurückzieht, ist ihre Form des Protestes dagegen, daß alles so weitergeht. Sie zerbricht mimetisch am Übermaß des Leidens: „Ließe sich ein Schrei in ihr wecken, kein Lebender könnte ihn ertragen …Doch die Frage beunruhigte uns, ob sie nicht mehr wisse als wir, die wir Vernunft bewahrt hatten, und ob nicht alles, was nach unseren Normen erklärbar war, hinfällig werden müsse angesichts einer sich anbahnenden Umwälzung des Denkens.“ (III, 16)
„Erklärbar“ ist das Phänomen des Krieges und der Judenvernichtung etwa für den politischen Kommentator Rosner, der noch jeden Winkelzug der Politik mit dem Gang des Weltgeistes in Moskauer stalinistischer Gestalt in Einklang zu bringen versteht, wie auch zum Beispiel für den Vater, der die Namen der kapitalistischen Drahtzieher oder Gewinnler nennt und damit doch wenigstens andeuten kann, wie das System und in wessen Interesse es funktioniert. Wie die schwedische Schriftstellerin Karin Boye, die Selbstmord begeht, unter anderem weil auch sie für einen Moment, im Herbst 1932 im Sportpalast in Berlin, dem mythischen Begeisterungsrasen der Hitler-Anhänger anheimgefallen war und noch Jahre später darüber vor Scham vergehen will – wie Karin Boye also will die Mutter „dieses zur heillosen Vernunft verfälschte Leben“ (III, 39) nicht mehr mitmachen. Sie wird nicht geopfert, sondern opfert sich selbst, gleich als ob sie einen Teil der Gewalt gegen jene auf sich selbst ablenken wolle, als könne sie durch ihr Leiden etwas an deren Geschick ändern, mildern. Sie erträgt den Gedanken nicht, daß sie ohne eigenes Verdienst dem Schicksal, das andere in ihrer Nähe traf, um Haaresbreite entging. (Hier steckt, nebenbei gesagt, ein Stück christlicher Theologie bzw. christlicher Opfer-Philosophie in Weiss‘ Buch; hätte man der namenlosen Mutter einen Namen zu geben, er wäre: Christa.)
Die schrankenlose Identifikation der Mutter mit den Opfern macht ihre Würde aus, ihre (religiös gesprochen) Heiligkeit. Sie verhält sich den Leiden der Opfer entsprechend im Sinn des Worts, daß der keinen Verstand hat, der ihn angesichts mancher Tatsachen nicht verliert. Die Mutter ist das lebendige, also: sterbende Beispiel gegen einen verkürzten linken Begriff von der Vernunft in der Geschichte.
Daß die Mutter verstummt, macht allerdings auch ihre Wirkungslosigkeit aus. Beachtet man ihre Genese als Gestalt in den Werken von Peter Weiss, so bemerkt man, daß die Mutter in der „Ästhetik des Widerstands“ Kennzeichen eines Dichters aus einem anderen Text von Weiss übernimmt. In Weiss‘ „Hölderlin“ von 1971 nämlich fragt der Tübinger Mediziner Autenrieth im 7. Bild den fast sprachlosen Dichter: „Kann Er uns erklären was Ihm / in Frankreich wider fahren“. Hölderlin antwortet stammelnd: „O wie die Sonne nieder sengte / und mich das pralle Licht verzehrte / als ich entflohen aus Bourdeaux / die schreckliche Vendée durchkreutzte / wo es von Leichen aus der Erde schrie / und ich bei jedem Schritt auf Schädel/und Gebeine stieß im Acker.“ Die Opfer der Kämpfe in Polen 1939 und der ersten Massentötungen 1940 werden parallel gesetzt den Toten der Aufstände in der Vendee; überdies nimmt Weiss wie ein Teil der Hölderlin-Forschung an, daß Hölderlin im Mai 1802 in Paris war und den Sieg der Konterrevolution miterlebte und daß dies den Ausbruch des Wahnsinns bei ihm beförderte. In einem Gespräch mit Volker Canaris bemerkte Peter Weiss 1971 über sein Hölderlin-Stück: „ … so scheint mir auch in diesem Stück Hölderlin der am wenigsten Gebrochene: nicht er ist umnachtet, die Welt, in der er lebt, ist umnachtet.“12 In einem klinischen Sinn mag also nach Weiss Hölderlin umnachtet gewesen sein, mag auch die Mutter des Erzählers in der „Ästhetik des Widerstands“ umnachtet sein; als Kunstfiguren aber, innerhalb des Bedeutungsgeflechts von Stück und Roman sind sie zwar Verkörperungen der Ohnmacht, doch ihre Umnachtung hat gewissermaßen ,heilige‘ Größe. Indem sie sprachlos werden, bewahren sie begriffslos, aber konkret die Leiden auf, deren Zeugen sie waren; doch die Erinnerung daran können sie nicht mehr kommunizieren. Die Mutter ist in dem Zustand, den der Mediziner Autenrieth im Stück Hölderlin betreffend so beschreibt: „Patient traf Mitte Juni Achzehnhundert Zwei / aus Frankreich kommend / im Zustand geistiger Zerrüttung / in Stutgard ein woselbst ihn behandelte / OberAmtsPhysicus Doktor Planck / Anfänglich besänfftigt brach die Kranckheit / ein Jahr später aufs neue aus …Derselbe ist seit nunmehr fünf Jahren f mit Ausnahme einiger lucider Intervallen / vernünftiger Communication nicht mehr / erreichbar.“13
Die Mutter ist eine Künstlerin, die sich nicht mehr ausdrücken kann; der Erzähler der „Ästhetik des Widerstands“ aber, ihr Sohn, erbt vom Hölderlin des Weiss’schen Stückes die Aufgabe, „innre und äußre Krafft zum Einklang zu bringen“; doch während Hölderlin am Ende des Stückes sein Scheitern eingestehen und bekennen muß: „Ich war der Revoluzion idealisch so gewis / dass es mich grauenhaft aus den Zusammenhängen riss / als das Versprochene sich nicht mehr erkennen liess / und ich Gefangenschafft nur fand anstatt ein Paradis / Am Ende zwischen all den übermächtigen Gewalthen / vermocht ich nur mir mein Verstummen zu erhalten“14, schafft der Erzähler der „Ästhetik des Widerstands“ gerade diese Aufgabe, diese Entwicklung. Er erreicht, was im Epilog des Stückes Hölderlin – neben sich selbst tretend und sich kommentierend als der noch sprachmächtige Teil seiner selbst – so formuliert: „Sein Wunsch ist, dass man ihn nicht mehr verkenne / dass er sich nicht mehr opfre und verbrenne / will dass man ihn als einen zwischen vielen zählt / der Sprache sich zum Ausdruck und zur Kunst gewählt / nicht trennen will er aus dem Wirklichen den Traum / es müssen Fantaisie und Handlung seyn im gleichen Raum / nur so wird das Poetische uni ver s a I/bekämpfend alles was verbraucht und schaal / erloschen und versteinert uns bedrängt / und was mit Zwang und Drohung unsern Athemzug beengt / Nie mehr will er in stiller Abgeschiedenheit vergehn / sondern als Lebender im Krais lebendger Stimmen stehn.“15
Die Mutter in der „Ästhetik des Widerstands“ ist in ihrer Bedeutung mehrfach-determiniert. Einmal ist sie das moderne mythische, doch zugleich entmythologisierte Pendant zur Erdmutter Gäa aus dem Pergamon-Fries: „Ge, die Dämonin der Erde“ (III, 20); zum zweiten ist sie der sprachlose und der Sprache der Dichtung nicht mehr mächtige Teil Hölderlins, und schließlich wird sie noch mit einer weiteren Gestalt und mit einer Figur auf einem Bild verglichen. Dem gilt es nachzugehen.
In einer Unterhaltung zwischen Heilmann, Coppi und dem Erzähler im ersten Band sagt Heilmann auf die Frage von Coppis Mutter, „wie konnte es früheren Künstlern möglich sein, unter Tyrannen Beständiges hervorzubringen“: „Die Gesamtkunst … die Gesamtliteratur ist in uns vorhanden, unter der Obhut einer Göttin, die wir noch gelten lassen können, Mnemosyne. Sie, die Mutter der Künste, heißt Erinnerung.“ (I, 77) Die Mutter des Erzählers erinnert mit einer Intensität und Unverbrüchlichkeit wie keiner um sie herum sich der Opfer; mit dem mythischen Namen, der mit ihr in Verbindung gebracht wird, hängt der ganze Kontext der Künste und in der „Ästhetik des Widerstands“ speziell die spezifische Poetologie dieses Buches zusammen, das sich nicht unter die Obhut der Göttin Phantasie, sondern unter die der Göttin Eingedenken/Erinnerung stellt. Die Hilfe der Mnemosyne brauchte der Aoide, der Sänger, der lange Zusammenhänge aus dem Göttermythos und der Heldensage auswendig, stets neu modifizierend sang. Die Mutter steht im Schnittpunkt dreier mythisch-mythologischer Figuren: Uranos und Gäa sind die Eltern der Mnemosyne, und sie selbst wiederum zeugte mit dem Zeus die neun Musen.
Nun gibt es bei dem von Weiss nicht nur in seiner Biographie, sondern auch in seinen Dichtungen genau studierten Hölderlin das in drei Fassungen überlieferte Gedicht „Mnemosyne“. Ähnlich wie bei bestimmten Annahmen zur Biographie Hölderlins geht es hier nicht darum, ob Weiss den ,richtigen‘ Annahmen zur Biographie Hölderlins gefolgt ist – die Behauptungen Pierre Bertauxs, auf die Weiss sich stark stützt, sowohl zu Grad und Weiterentwicklung der revolutionären Sympathien Hölderlins wie auch zu seinem angeblichen Aufenthalt in Paris 1802, sind inzwischen auch heftig bestritten worden – und ob sein Verständnis des Gedichts „Mnemosyne“ akzeptabel ist, sondern darum, was an dem Gedicht Weiss angezogen haben könnte im Zusammenhang seines Denkens. Vier Stellen des Gedichts scheinen mir genau in den Zusammenhang der Bedeutung der Mutter in der „Ästhetik des Widerstands“ zu passen. 1. Der Anfang der zweiten Fassung des Gedichts „Mnemosyne“ lautet: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos, / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren.“16 „Deutungslos“ ist die Masse dessen, von dem der Erzähler sagt, daß „dies alles“ einmal erzählt und ausgedrückt – also gedeutet werden müsse, und „schmerzlos“ muß sich paradoxerweise auch der Erzähler machen, um „dies alles“ erzählen zu können, ohne davon bis zur Sprachlosigkeit überwältigt zu werden (zu diesem Paradoxon, dieser Aufgabe gleich mehr); schließlich ist der, der in der Fremde die Sprache verloren hat, wie wir aus vielen Äußerungen wissen; Peter Weiss. 2. „Denn nicht vermögen / Die Himmlischen alles. Nämlich es reichen / Die Sterblichen eh an den Abgrund. Also wendet es sich, das Echo, / Mit diesen.“17 In Verbindung mit dem gegen Ende des Buchs programmatisch aufgelösten Herakles-Mythos werden den Menschen Aufgaben zugeschrieben, die weder Götter noch Halbgötter zu lösen vermögen und die eine „Wende“ der Geschichte herbeizuführen vermöchten; man vergleiche hiermit die Konjunktiv-Futur-Passage am Ende des ganzen Romans, wo die vom Halbgott Herakles gewünschte befreiende Tat den Menschen selbst aufgebürdet bzw. als Aufgabe überantwortet wird. 3. In allen drei Fassungen des Gedichts ist von den gefallenen Freunden Achilles, Ajax und Patroklos die Rede, die „wie noch andere viel“ „göttlich gezwungen“ sterben mußten – wie die Helden des Widerstands. Entscheidend aber scheint mir, daß in der dritten Fassung von „Mnemosyne“ sogar vom Tod der Mnemosyne die Rede ist; sie kann nämlich in dem Sinne ,sterben‘, daß vom Leid überwältigte Trauer sich ganz nach innen wendet und nicht mehr aktiv Eingedenken stiftet: „Himmlische nämlich sind / Unwillig, wenn einer nicht die Seele schonend sich / Zusammengenommen, aber er muß doch; dem / Gleich fehlet die Trauer.“18 Völlig in sich gekehrte Trauer „fehlt“, d. h. lädt Schuld auf sich; die Himmlischen sind „unwillig“, wenn die Mnemosyne (= Trauer) „nicht die Seele schonend sich / Zusammengenommen“, denn sie „muß doch“. Das heißt: Trauer hat die Aufgabe, sich nicht vom Schmerz überwältigen zu lassen, sondern sie muß bei sich bleiben, ihrer selbst mächtig bleiben; sie darf nicht resignieren, weil sie sonst nicht mehr ihre Töchter, die Musen, zu erinnerndem Gesang inspirieren kann: Trauer muß zur Trauerarbeit werden. In diesem Sinn ist die Mutter die Verkörperung der zum äußersten gesteigerten Trauer, die aber alle Erinnerung und alle Äußerung dessen, was sie erinnert, mit sich nach innen nimmt und deshalb auch ihrer göttlichen Pflicht, Andenken zu stiften, nicht gerecht werden kann; sie ist die bis zur Selbstaufgabe gesteigerte, in den Stupor der Verzweiflung übergegangene Trauer. Daher auch – und dies ist vielleicht die vierte Bedeutung, für die die Mutter steht bzw. die mit ihr in Verbindung gebracht werden kann – wird Hodann, nach den Berichten des Erzählers, die Mutter mit der Melencholia auf Dürers Holzschnitt vergleichen. Sie ist in Schwermut verstummt. Das ist aber zugleich eine Mahnung an den Erzähler, sich nicht übermannen zu lassen von der Schwermut, politisch gesprochen: von der Resignation. Er soll den Toten wahren, was Hölderlin in dem Gedicht „Mnemosyne“ nennt: „[Und not tut] die Treue.“ Er soll, entgegen dem, was Hölderlin mahnend als Schwäche bezeichnet, vorwärts und rückwärts sehen und nicht „sich wiegen lassen wie / Auf schwankem Kahne der See.“19
Daß der Dichter „schmerzlos“ bleiben muß, um auch von den entsetzlichsten Erfahrungen um der Aufgabe der Stiftung von Erinnerung willen sprechen zu können, formuliert wieder Heilmann, im ersten Band der in Sachen Philosophie und Psychologie der Kreativität Avancierteste der drei jungen Genossen: „Würden die Bestien Dante tatsächlich die Wunden schlagen, würden die Todeswütigen ringsum die Hiebe ausführen, die sie schon androhten, er hätte nichts mehr darüber zu berichten. Die Marter des Traums und der Dichtung, hatte Heilmann gesagt, sei die Auslieferung an eine Situation, aus der es kein Entrinnen gab, alles würde uns dort widerfahren, als ob es wirklich wäre, nur führe im Traum das nicht mehr Erträgliche zum Erwachen, so wie es sich in der Dichtung durch die Übertragung ins Wort befreie. Die Anästhesie gehöre auch zur äußerst beteiligten, Stellung beziehenden Kunst, denn ohne deren Hilfe würden wir entweder vom Mitgefühl für die Qualen anderer oder vom Leiden am selbsterfahrenen Unheil überwältigt werden und könnten unser Verstummen, unsre Schreckenslähmung nicht umwandeln in jene Aggressivität, die notwendig ist, um die Ursache des Alpdrucks zu beseitigen.“ (I, 83; vgl. auch I, 80) Die schwedische Schriftstellerin Karin Boye deutet gegen Ende des Romans das Verstummen der Mutter durch die Frage: „ … müsse ihr nicht jeder Versuch, sie aus ihrer Versenkung zu locken, wie eine Verführung zum Betrug erscheinen an jenen, mit denen sie in ihren Träumen zusammenlebt.“ (III,26) Die Mutter betrügt all die Toten nicht, sie bleibt weiter bei ihnen, geht nicht über ihren Tod zur Tagesordnung über, doch ihrem Sohn wird die Aufgabe übertragen, auf andere Weise den Toten die Treue zu halten: indem er nämlich ihr Schicksal kommuniziert. Er muß die Namen nennen, sich für das unmittelbare Leid ein Stück ,anästhesieren‘, und diese Namensnennung im wörtlichen wie im erweiterten Sinn ist ein Kompromiß zwischen der absoluten Treue zu den Toten und der Zuwendung zu den Lebenden – um der Zukunft willen.20
Namenlos aber bleibt im Buch auch der Sohn, der Erzähler, und dies aus mehreren Gründen, wie ich meine. Einmal ist dies ein Indiz seiner eigenen Unerheblichkeit: Er soll nur das Medium sein, durch das Vergangenheit hindurchgeht – das ist die quasi-erzähltechnische Definition dieses Ich-Erzählers. Er ist noch ein ,Nobody‘, ein zukünftiger Künstler, der sich noch ,keinen Namen gemacht hat‘; er ist der Held eines politisch-literarischen Bildungsromans, der aber mit einer konkreten Künstler-Perspektive erst endet. Drittens schließlich ist der Ich-Erzähler natürlich (‚in einem gewissen Sinn‘ – siehe die diversen Interviews, in denen Weiss hierzu befragt wurde21) Peter Weiss, und er ist es auch nicht, Peter Weiss wie er unter anderen Umständen hätte sein können und vielleicht auch hätte sein mögen. Also kann dieser Ich-Erzähler keinen Namen haben, der Name muß in der Schwebe bleiben. Und auch die Scham des Überlebenden gebietet, sich nicht mit einem individuellen Stil und einem eitlen Namen zu spreizen; die Scham darüber, überlebt zu haben, ohne sich irgendeines Verdienstes rühmen zu können, verhindert, sich als farbiges und lebenspralles Individuum aufzuführen, wenn es darum geht, von denen zu erzählen, die gar keine Chance hatten, sich zu einer Persönlichkeit zu entfalten. Der Sohn hat die Aufgabe, sich schreibend an den Toten, in Relation zu den Toten zu definieren. An ihnen wird er seine Identität als Schriftsteller finden; er hat noch keine, es geht alles durch ihn hindurch, er ist – wie der Fremde in Weiss‘ frühem Prosatext „Der Fremde“ – „Ein Nichts. Namenlos. Eine Art Seismograph.“22 Daher auch der so vieles nur registrierend-referierende Charakter des Buches: der junge Erzähler ist fast nur Registrator, Medium, Gefäß. Seine Identität ist eine utopische; noch ist er ein ,unbeschriebenes Blatt‘, und erst wenn er das Buch verfaßt haben wird, von dem er am Ende der „Ästhetik des Widerstands“ futurisch-konjunktivisch spricht, wird er ,sich beschrieben‘ haben. Indem die einzigen drei fiktiven Gestalten des Buches keine Eigennamen haben, vermeidet Weiss überdies eine alberne Kollision von erfundenen Namen mit historischen. Fiktive Namen und Figuren behalten ja immer etwas Beliebiges; sie wären in Weiss: Buch nicht zu halten gegen die mit realer Geschichte befrachteten historischen Namen.
Eine Spekulation in diesem Zusammenhang. Hat man erst einmal den engen Konnex der „Ästhetik des Widerstands“ mit Weiss‘ Hölderlin-Stück aufgespürt, also bemerkt, daß das Buch verdeckt die weitere Bearbeitung von Fragen darstellt, die der „Hölderlin“ am Ende stellt, dann liegt die Überlegung nahe, ob sich nicht noch weitere untergründige Verbindungen zum Werk und zur politischen Biographie Hölderlins in der „Ästhetik des Widerstands“ finden. Mir scheint zum Beispiel, daß Heilmann und Coppi, die beiden (auch in der außerfiktionalen, historischen Realität) Mitglieder der „Roten Kapelle“, und ein Dritter, nämlich der Erzähler, der Künstler, eine Dreier-Gruppierung bilden, die angelehnt sein könnte (ich will es zunächst einmal so vorsichtig ausdrücken) an die Gruppierung Hölderlin-Schelling-Hegel im Tübinger Stift im Jahr 1792/93. Die drei waren Mitglieder des berühmten „Clubs“; alle drei sollen beteiligt gewesen sein an der Errichtung eines Freiheitsbaums in oder bei Tübingen am 14. Juli 1793; die Losung, unter die sie ihre weitere Arbeit gestellt hatten, war „Reich Gottes!“, und Hölderlin und Hegel speziell hatten sich bei ihrem Abschied im November 1793 als eine Art Schwur gegeben: „Bei den zu Marathon Gefallenen!“ Man könnte wohl die drei in Berlin 1937, Heilmann, Coppi und den Erzähler, als Pendants auffassen zu den drei in Tübingen, die „Rote Kapelle“ als eine Art historisches Gegenstück zu den verschworenen drei in Tübingen in dem gegen den württembergischen Feudalabsolutismus sich richtenden Club, und die Losung „Reich Gottes!“ könnte Weiss auch gelesen haben als einen zu säkularisierenden Hinweis auf die erstrebte Verwirklichung einer klassenlosen Gesellschaft. Auch die am Ende ihrer gemeinsamen Zeit in Tübingen zwischen Hegel und Hölderlin gewechselten, einer geheimen Devise ähnlichen Worte „Bei den zu Marathon Gefallenen!“, historisch gemeint als Eingedenken derer, die für die Erhaltung des Griechentums gegen die Barbaren gefallen waren, könnten in der „Ästhetik des Widerstands“ von Weiss verwandelt worden sein in die Intention des Gedenkens derer, die als Opfer des Kampfes gegen den Nationalsozialismus ,gefallen‘ waren. Daß Weiss sich mit Details der Biographie Hölderlins und speziell auch mit Einzelheiten der politischen Umtriebe der Tübinger Clubisten vertraut gemacht hat, zeigt nicht zuletzt die erste Szene des Hölderlin-Stücks!23
Die Losung aber, die sich die drei jungen Proletarier geben, als sie sich in Berlin im Herbst 1937 trennen, heißt: Herakles. Ein richtiges Verständnis dieser mythischen Figur bedenken sie bis zum Schluß in ihren Briefen, und sogar Heilmanns letzter Brief aus dem Tegeler Gefängnis handelt zum Teil davon; zu diesem Herakles, erstmals genannt bei der Erörterung des Pergamon-Fries im ersten Band des Buchs, kehrt zum Schluß auch der Erzähler zurück, als er vom Tod Heilmanns erfährt.
Übrigens kommt Peter Weiss in der „Ästhetik des Widerstands“, die man ja auch als eine nichts beschönigende Sammlung von Erzählungen über Märtyrer lesen kann, nicht nur nicht ohne die Dimension des Mythischen aus, sondern auch nicht ohne die Dimension bzw. die Deutungskategorie des Heiligen oder der Heiligen. Der Redakteur Rosner wird einmal, wie schon bemerkt, halb spöttisch der „Hieronymus der Komintern“ genannt – modernes Gegenstück also zum hl. Hieronymus im Gehäuse, der die Heilige Schrift studiert und auslegt; Hodann kann gesehen werden als ein zweiter Sebastian, der von Zweifeln durchbohrt ist und todgeweiht, und bei Lotte Bischoff spricht der Erzähler selbst ausdrücklich davon, er sei „in Versuchung, sie eine Heilige zu nennen“. (III, 267) Es gibt sogar eine Sequenz von Bildern quer durch den ganzen Roman, die als Halluzinationen bzw. – wenn man es entpsychologisiert – als Visionen von der Auferstehung der Toten und als Himmelfahrten zu lesen sind. In einem seltsamen Trancezustand des Erzählers taucht zum Beispiel sein Vater einmal aus dem Fußboden der Berliner Wohnung auf (I, 92) – der Vater ist realiter schon abwesend, in der Tschechoslowakei, erhebt sich aber wie ein schon Verscharrter aus dem Grab: er ,aufersteht‘. Später sieht die Mutter – gewiß schon im Zustand geistiger Verwirrung, wenn man’s an der Psychologie der Normalität mißt – die tote Karin Boye auftauchen aus der Erde und buchstäblich zum Himmel auffahren (III, 35-36), und ganz am Ende des Buchs tauchen die Eltern des Erzählers für einen Moment aus dem Geröll auf, das zugleich der Schutt der europäischen Geschichte und der Trümmerschutt am Fuß des Pergamon-Frieses ist, wo die „Kinder der Erde“ angesiedelt sind. (III, 267)
Und noch zwei Namenlose läßt Weiss – sozusagen in einer Seitenkapelle seiner Kathedrale – auferstehen; er kann sie allerdings nicht beim Namen nennen, weil ihre Namen wirklich nicht mehr auszumachen sind. Nur die Kunst, nämlich eine Zeichnung Gericaults, hat sie festgehalten, und wie psychopathisch Gericaults Interesse an den Toten auch immer gewesen sein mag, das Bild wird aktualisiert und in eine Sphäre von Bedeutung überführt: Die darauf Abgebildeten werden zu Stellvertretern aller namenlosen Opfer, und ihr Bild ist im Roman auch die Antizipation des Aussehens derer, die in Plötzensee hingerichtet werden und von denen wir zwar die Namen, aber kein Bild als Tote haben: „Die beiden abgehackten Köpfe lagen auf zerknülltem, grauweißem, blutfleckigem Tuch. Kissen, unter das Laken geschoben, gaben den Häuptern Halt. Wären nicht die rohen Schnittflächen an den Hälsen, das wäßrig ausgeronnene Blut zu sehn gewesen, so hätte der Eindruck eines im Bett nebeneinanderliegenden, vom Tod überraschten Paars entstehen können. Mit Schwarz und Weiß und einem geringen Zusatz von bräunlichen und rötlichen Tönen war das Bild gemalt. Das Antlitz der Frau war dem Mann zugewandt. Ihr Mund war leicht geöffnet, zwischen den umschatteten Lidern glänzte ein Punkt vom Augenweiß. Eigentümlich nackt ragte das Ohr aus dem zur Guillotinierung kurzgeschnittnen Haar hervor. Das Gesicht des Mannes, mit dem Anflug eines Barts um die eingefallnen Wangen, war noch vom Entsetzen geprägt. Die tief in den Höhlen liegenden gebrochenen Augen standen offen, auch der Mund war aufgesperrt, die klaffenden Lippen, die Zähne, die Zunge schienen noch den letzten Schrei zu tragen. Ihn mußten sie zum Fallbeil geschleppt haben, die Frau hatte vorher aufgegeben. Es wäre vermessen gewesen, die Erloschenheit auf ihrem Gesicht mit einem Frieden zu vergleichen, denn wie hätte, auch nach dem Eintreten der endgültigen Ruhe, der Gedanke des Friedens mit ihrer Existenz verbunden werden können. Und doch enthielten ihre Züge, fahl beleuchtet auf Schläfe, Jochbein, Nase und Kinn, etwas Weiches, ihr Kopf lag da wie eine überreife, abgefallne Frucht. Der Mann war herausgerissen worden aus seinem Dasein. Die Kinnmuskeln, die scharf vorgewölbte Nase und die zerbuchtete Kontur des kahlen Schädels drückten noch eine Anspannung von Energie aus. War die Frau völlig entmachtet, so hatte er sich, so lange ein Atemzug in ihm war, gewaltsam zur Wehr… gesetzt. Das Bild hing an der Seitenwand eines kleinen Nebenraums im Nationalmuseum.“ (II, 119-120)
Zwei Namenlose aus dem Leichenhaus in Paris, das im selben Abschnitt der „Ästhetik des Widerstands“ der Vorhölle in Dantes „Divina Commedia“ gleichgesetzt wird. „Wie hieß es, rief ich, wie hieß es doch, als der Sprecher eingetreten war in die Stadt, von der aus der Weg sich hinabschraubte in die Unterwelt.“ (II, 123) Man kann leicht ergänzen, wie es da bei Dante hieß: „Ihr die ihr hier eintretet, laßt alle Hoffnung fahren.“24 Es handelt sich um den Ort, das Reich, in dem die Entmenschlichung der Eintretenden dadurch besiegelt wird, daß sie nur noch Nummern sind: die Vorhölle und das KZ.
Peter Weiss ist, nebenbei bemerkt, nicht der einzige Schriftsteller, der mit den Namen, insbesondere von prominenten historischen Personen, im Umkreis der Geschichte des Dritten Reichs seine Schwierigkeiten hatte. Alexander Kluge hat in der „Schlachtbeschreibung“, jedenfalls in manchen Passagen der frühen Fassungen des Buches, zum Teil Abkürzungen benützt wie „Hi.“ für Hitler; Brecht nennt in den „Flüchtlingsgesprächen“ Hitler den „Anstreicher“ und läßt Ziffel und Kalle den Namen Hitlers nie aussprechen; Ruth Andreas-Friedrich behält bei der Veröffentlichung ihres Tagebuchs die Decknamen von bestimmten Personen bei, beläßt also absichtlich die Helfer und Wohltäter der Widerstandskämpfer in der Anonymität bzw. der Pseudonymität; von Klaus Stiller gibt es einen Erzählungsband mit dem Titel „H.“ – gemeint ist natürlich Hitler, aber die volle Nennung des Namens scheint Stiller den Mann zu häßlich-massiv präsent zu machen,26 und Karl Valentin schließlich gab in manchen Szenen sogar vor, es falle ihm der Name Hitlers nicht ein: „Der Dings, der …wie heißt er denn gleich wieder?“ – was ja auch eine Verkleinerung, Verhöhnung, Unwichtigerklärung des Gemeinten ist oder sein soll. Bei Weiss taucht zum Beispiel auch ein Ortsname, den wir alle kennen, als Bahnknotenpunkt „Oswiecim“ ganz diskret und beiläufig auf, als sei die Nennung des deutschen Namens nicht zu bewältigen gewesen, als müsse eine Art apotropäischer Zauber angewandt werden. „Wenn man einen Geist zwingt, indem man sich seines Namens bemächtigt, so hat man Magie gegen ihn gebraucht“, heißt es bei Freud27; so nennt der Vater die Namen der Konzerne und Konzernherrn: damit hält er sie fest. Doch in Namensnennung steckt auch Ambivalenz; bei manchen Primitiven dürfen die Namen von Toten nicht genannt werden, damit sie niemand mehr sind, oder Tote werden unbenannt oder umschrieben. Im allgemeinen hat bei Weiss die Namensnennung einen positiv magischen Aspekt: die Toten sollen anwesend sein, ihre Gegenwart als gute Geister soll beschworen werden.
Umgangen, umschrieben, nicht genannt werden in der „Ästhetik des Widerstands“ zwei Namen, die doch für die Jahre zwischen 1937 und 1944 wichtig waren. Was Nazi-Deutschland angeht: Göring wird einmal bei Namen genannt („Göring forderte die Befreiung der Deutschen in Böhmen und Mähren“; I,286), ansonsten eher höhnisch umschrieben etwa als der „Germane“ (III, 83); Himmler taucht einmal mit Namen auf, nur wie mit spitzen Fingern angerührt, als sei der Erzähler von Grauen geschüttelt und versuche auf Distanz zu gehen „ … jener namens Himmler“ (I, 300). Hitler aber und Stalin, werden im ganzen Buch nicht mit Namen genannt. Weiss vermied dies wohl deshalb, weil es erstens eine falsche Personalisierung der ganzen Untaten darstellen würde, die doch eben nicht ursächlich allein aus diesen Gestalten zu erklären oder damit gar zu entschuldigen sind; weder sollen die Deutschen alles auf Hitler noch die Kommunisten alles auf den angeblich einmaligen ,Personenkult‘, sprich: Stalin, schieben können. Zweitens wäre mit ihrer Nennung zugleich ihre so überwältigende negative Aura gegenwärtig, was in einem Buch mißlich wäre, in dessen Zentrum der Kampf gegen das Böse in Gestalt des Faschismus und die Kritik am „Prinzip der Diktatur von oben“ stehen. Aus politischen wie aus moralischen Gründen soll ihnen nicht die Ehre einer Namensnennung zuteil werden.
Von Hodann werden übrigens in einer seiner Umschreibungen Hitler und Stalin ausdrücklich gleichgesetzt: „ … haben wir in den letzten Jahren unterm Schatten der Menschenvertilgungen durch den einen Autokraten gestanden, so zählen wir nun, sagte er vor seiner Haustür, ehe er hinter der die Birken spiegelnden Glasscheibe verschwand, was der andere an Mordtaten leistet, und was alles Vorherige zu übertreffen scheint.“ (III,48) Gemeint sind die Opfer des Stalinismus in den dreißiger Jahren und die Opfer in den KZs der vierziger Jahre. Und noch einmal werden Hitler und Stalin gleichgesetzt. Für einen winzigen Moment wird im dritten Band aus der Perspektive des Bewußtseins der aus Entsetzen schwermütigen Mutter erzählt und von ihrer Wahrnehmung bzw. ihren Gesichten gesagt: „In ihrem Wohnzimmer in dem alten Haus stand meine Mutter am Fenster und blickte hinüber zum Schulhof, wo sie ein Kind sah, das weder sprechen noch schreien konnte und an dem zwei Ratten festgebissen hingen.“ (II, 26) Das Kind heißt Polen, die Ratten Hitler und Stalin.
Um den Namen Stalin gibt es übrigens doch noch ein subtiles Gewebe von Anspielungen und Gleichsetzungen, die auf seine Glorifizierung durch die Kommunisten der dreißiger und vierziger Jahre (und bisweilen nicht der schlechtesten) hinweisen. Die Figur des Revolutionärs Stahlmann hat Bezüge sowohl zu Stalin, nach dem sich der deutsche Kommunist Arthur Iller genannt hat, dessen wahrer Name erst nach dem Krieg genannt werden bzw. den er wieder annehmen würde (wie Weiss am Ende des letzten Bandes andeutet), und zugleich hat Stahlmann als konsequenter Revolutionär Züge des Halbgottes Herakles; einmal ist es dem Erzähler, als schwinge Stahlmann einen Umhang, „ein Löwenfell“ um sich (III, 95), eine Anspielung auf die fragmentarische Löwenpranke auf dem Pergamon-Fries, die auf Herakles deutet bzw. ein Teil von ihm ist oder war. Was heißt: Es wird mit der Frage gespielt, ob Stalin wenigstens versuchsweise auch als moderner Herakles gesehen werden dürfe oder solle, als der Halbgott, der sich in der mythologischen Überlieferung von den Göttern abwandte und für die Sterblichen Arbeiten verrichtete. Aber es gibt im Fortgang des Buches so etwas wie einen kontinuierlichen Abbau der mythisch-mythologischen Identifizierung insbesondere mit Herakles als dem halb göttlichen Arbeiterführer. Zunächst wird er mit Lenin gleichgesetzt; seine Verletzung durch das Nessus-Hemd wird mit Lenins Gürtelrose identifiziert. (III,23/24) Doch dann wird die Figur des Herakles immer skeptischer interpretiert; er erscheint – in den Überlegungen der drei jungen Revolutionäre – als einer, der seine Aufgabe vergessen hat und nur ein Lügner und Großsprecher war. Wie es bei Hölderlin die Botschaft des Empedokles ist, daß die Menschen keine Führer mehr haben sollten, sondern sich selbst zu befreien hätten, so läuft bei Weiss die Argumentation darauf hinaus, daß Emanzipation auch Emanzipation von Personen ist, von denen Befreiungstaten erhofft werden, Emanzipation von Halbgöttern = Übervätern. „Dies ist die Zeit der Könige nicht mehr (…) Euch ist / Nicht zu helfen, wenn ihr selbst euch nicht helft“, sagt Empedokles in der ersten Fassung des Fragments bei Hölderlin, der am 24. 12. 1798 an Sinclair schreibt: „Es ist auch gut, und sogar die erste Bedingung alles Lebens und aller Organisation, daß keine monarchische Kraft ist im Himmel und auf Erden.“
Der Name des Herakles, als mythische Identifikationsfigur sozusagen versuchsweise eingeführt28 – „Weil eine mythische Figur / erscheinen muß / jetzt / da das Feuer der Grossen Revoluzion erloschen“ lautet die Antwort auf die Frage, warum Empedokles als Exempelfigur eingeführt worden sei, im 6. Bild von Weiss‘ „Hölderlin“ – , wird schließlich auf III, 210 zum letzten Mal genannt, über fünfzig Seiten vor Ende des Buches, im Abschiedsbrief Heilmanns, in einer Apostrophe, die auch ein skeptischer Seufzer sein könnte: „O Herakles.“ (III, 210) Das ist Weiss‘ Abrechnung mit dem Personenkult: Die mythischen Bezüge müssen hinfällig werden und ersetzt durch ein handelndes Kollektiv; gerade auch im Kommunismus dürfe nicht Hoffnung auf einzelne Führer gesetzt werden, auf ,Erlöser‘, auf ,Retter‘. Auf der letzten Seite des gesamten Buches imaginiert sich der Erzähler, wie er eines Tages wieder – wie mit Heilmann und Coppi 1937, zu Beginn des Buchs – vor den Pergamon-Fries treten würde, aber der Name Herakles wird nicht mehr genannt, wird programmatisch ausgespart: „ … und ein Platz im Gemenge würde frei sein, die Löwenpranke würde dort hängen, greifbar für jeden, und solange sie unten nicht abliessen voneinander, würden sie die Pranke des Löwenfells nicht sehen, und es würde kein Kenntlicher kommen, den leeren Platz zu füllen, sie müßten selber mächtig werden dieses einzigen Griffs, dieser weit ausholenden und schwingenden Bewegung, mit der sie den furchtbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen könnten.“ (III, 267/8) Geschichte, die nach Weiss durchaus noch mythisch verlief im 20. Jahrhundert – im Marxschen Sinn einer „Vorgeschichte“, in der wir uns als unserer selbst noch nicht mächtige historische Subjekte befinden – , muß sich in jeder Hinsicht vom Mythischen emanzipieren. Zumindest muß den ewigen mythischen Mächten, einer Geschichte, die mit Recht mit Begriffen wie „Seuche“, „nationale Panik“, „Wahn“, „Verblendung“, „verdorbenes Volk“, „Pest“, „Epidemie“, „Fieber“, „Krankheit“ bezeichnet werden kann, ebenso hartnäckig der „Drang zum Widerspruch“, zur „Gegenwehr“ (III,265) entgegengesetzt werden. Solange Geschichte mythisches Unheil enthält, gilt nur ein Gegen-Mythos: Widerstand.
Der Melancholie, die in diesem Sinne naturhaft-mythische Reaktion auf das Unheil ist, politisch gesprochen: der Resignation, ist Peter Weiss‘ Buch selbst abgewonnen. Wenn sein Erzähler fast wahnsinnig wird (III, 119 ff.), weil er den Chor der Verdammten aus dem Inferno/KZ zu hören vermeint, „schwinden ihm nicht die Sinne“ (III, 124), sondern er „springt“ zu Hodann, der sein Lehrer in Nicht-Resignation ist. Eben mit einem Epitaph auf diesen Hodann aber hätte die „Ästhetik des Widerstands“ zunächst enden sollen, mit einer 25 Seiten langen Schilderung von Hodanns einsamem, elendem Tod in der Schweiz 1946. Weiss hat diese Passage aber dann ausgegliedert und nur in seinen „Notizbüchern 1971-1980“ überliefert!29 Die Versuchung muß für Weiss groß gewesen sein, das Buch auf einem so düsteren Ton enden zu lassen. Zwei Prosatexte, die in der ZEIT kurz nach seinem Tod (21. Mai 1982) veröffentlicht wurden, tragen die Überschrift „Es leben die Toten“, und das ist sehr doppelsinnig zwischen trotzigem Hochruf und verzweifeltem Hochruf angesiedelt; die Überschrift scheint mir voller Versuchung zum Einverständnis mit allen Resignierten, Gescheiterten, Toten, mit der schließlichen Zwecklosigkeit all unserer Anstrengungen im Wachzustand, wenn wir uns unverdrossen zuversichtlich zu benehmen versuchen. Am Ende von „Es leben die Toten“ rettet Weiss sich gerade noch in das Wach-Wirkliche, gegen die einzige wirkliche Gewißheit, die da heißt: „gleich ist es zu Ende.“ Dieser Ton wäre jedoch zu hoffnungslos gewesen; eine breite Schilderung von Hodanns Sterben hätte wie ein Dementi des ganzen Buches geklungen. Der Tod hätte die Oberhand behalten, und dies durfte nicht sein. „Denn die Melancholie ist die dunkle Zwillingsschwester der Utopie“30, doch das Buch sollte eben nicht nur trauern, sondern Trauerarbeit leisten. Utopie ist in Weiss‘ Buch herabgestimmt von den hohen Vorstellungen vom „Reich Gottes“ oder auch einer „versöhnten Gesellschaft“ zu der simplen Hoffnung, daß der Widerstand gegen das Böse nie aufhören werde. Literaturästhetisch und literaturpolitisch schließt die „Ästhetik des Widerstands“ mit einem kleinen Akt des Widerstands. Jochen Vogt hat schon bemerkt, daß am Ende der Erzähler einer ähnlichen Aufgabe gewärtig wird wie der Erzähler in Marcel Prousts „A la recherche du temps perdu“.31 Da scheint mir nicht nur eine hübsche historische Reminiszenz vorzuliegen, sondern der Bezug auf Prousts „Recherche“ und sehr präzis auch auf ganz bestimmte Vokabeln am Ende der „Recherche“ (III,260 ff.) ist ein sinnvoller kunstpolitischer Akt, eine Absage an jene linken Kulturauffassungen, die in Prousts Werk nur eine individuelle ästhetisch-religiöse Anstrengung sehen oder sahen und den Roman nur als Darstellung der ohnehin nur schmarotzerischen und dem verdienten Untergang geweihten Pariser Großbourgoisie und des Faubourg-Adels. Sicher hat Weiss‘ Roman eine politische Dimension, die als unmittelbare der „Recherche“ sicher abgeht, doch sind beide Bücher Bücher des Eingedenkens, bei Weiss nicht nur als Widerstand gegen das Verrinnen der Zeit und die Vergänglichkeit überhaupt, sondern gegen das Vergessen der Namenlosen und der Namhaften. Wenn man so will, ist das ein uneitleres, überpersönlicheres Ziel als das Prousts. Am Ende eines der – ich sage es trotz aller Vorsicht gegen Superlative – schrecklichsten Prosatexte, die die deutsche Literatur kennt, am Ende der Schilderung der Hinrichtung der Mitglieder der „Roten Kapelle“ in Plötzensee heißt es: „Da hingen sie alle, unter der Schiene, der Hals lang gezerrt, der Kopf abgeknickt, zu erkennen waren sie nicht mehr, nur ihrer Reihenfolge nach hätte Schwarz ihre Namen noch nennen können, doch die verloren sich auch schon in einer Leere.“ (III. 220) Gänzlich sinnlos wären die Opfer erst, wenn noch nicht einmal die Namen der Geopferten erinnert würden. Dem folget nicht deutscher Gesang, sondern eine Prosa, die sich vom Gesang bis ins Tonlose und Unscheinbare entfernt hat.
Die Arbeit an der „Ästhetik des Widerstands“ muß auch etwas an Peter Weiss‘ Verhältnis zu Deutschland verändert haben. Immer wieder läßt er zwar seinen Erzähler im Buch betonen, daß er sich der deutschen Sprache nur als einer Art Handwerkszeug bedienen wolle, also ohne das, was emotional das Verhältnis zur Muttersprache ausmacht. Als er sich anschickt, die Schlußszenen des Engelbrekt-Stückes zu entwerfen, heißt es: „Indem ich beim Übersetzen des Materials, das in der Sprache dieses Landes [= Schweden] verwurzelt war, in meine eigne Sprache das Allgemeingültige fand, verschwand die Kluft zwischen den Sprachen, die Sprache, die ich benutzte, war nur noch ein Instrument, zugehörig einer Weltwissenschaft.“ (II,306) Mit diesem forcierten Internationalismus, der die Beschränktheiten und Probleme regionaler Sprachen übersteigen möchte, scheint aber etwas nicht zu stimmen. Immerhin notiert Weiss im Winter 1977/78 innerhalb weniger Tage, im Zusammenhang mit Überlegungen zu seiner Rede bei der Entgegennahme des Thomas-Dehler-Preises; „nachdem mir das Schreiben in diesem Deutschland nicht verboten sondern belohnt wird …“: „ich gehöre zu denen, die kein Vaterland haben“; „Ich war Tschechoslowake“; „Weil ich nie Nationalist war, kann mich die Existenz zweier deutscher Staaten nicht stören“; „Im Exil habe ich zwei Jahrzehnte lang für die Schreibtischschublade geschrieben, Das nicht mehr!“; „Der Verlust der Sprache ist eine Zerstörung der zentralen Persönlichkeit,“32 Nachdem paradoxerweise er, der skandinavische Emigrant, der nie einen deutschen Paß hatte, ein Buch über Deutschland geschrieben hatte – und das im emphatischsten Sinne, obwohl die „Ästhetik des Widerstands“ eben nicht ein Buch aus Deutschland und nur über Deutschland ist – , konnte Weiss sich offenbar wieder ein Leben in Deutschland vorstellen, allerdings bezeichnenderweise weder in West- noch in Ost-Deutschland, sondern in Berlin, der Stadt, in der er geboren worden war und in der er um 1930 herum mit seiner Familie gelebt hatte, der Stadt, die ja, wenn auch nicht gerade eine ganz „selbständige politische Einheit“, so doch ein Drittes ist zwischen den beiden deutschen Staaten.
1947 war er zum ersten Mal nach 13 Jahren wieder in Berlin gewesen, mit höchst zwiespältigen Gefühlen, an die er sich rückblickend, während der Arbeit an der „Ästhetik des Widerstands“, mit folgender Notiz erinnert: „ …die Hemmung, mich dieser Sprache zu bedienen, die Namen der Ungeister auszusprechen, magisches Ausweichen, um nicht alles Unglück der Welt heraufzubeschwören …“33 Doch die Versenkung in den finstersten Abschnitt der deutschen Geschichte, in dem es aber auch Widerstand gegeben hatte, wofür stellvertretend die Namen Heilmann, Coppi, Bischoff, der Mitglieder der „Roten Kapelle“ und anderer im Buch stehen, scheint ihm eine größere Nähe zu Deutschland wieder möglich gemacht zu haben, und schließlich erfuhr er in Berlin ja auch, wie wichtig sein Buch einer Anzahl deutscher Studenten und Intellektueller war, daß also die Verdrängung der Vergangenheit in Deutschland nicht vollständig war. Weiss fühlte sich in Schweden auch nach über vierzig Jahren immer noch nicht ganz heimisch und klagte über seine Isoliertheit dort, sowohl was die Haltung der Schweden und der schwedischen Presse zu ihm betraf, die ihn als Kommunisten und Ausländer bezeichneten und behandelten, wie auch was seinen Freundeskreis in Stockholm betraf. Es geht natürlich nicht an, ihn am Ende doch für Deutschland zu reklamieren – das steht niemandem an, der Deutscher ist – , sondern darum zu zeigen, daß das Exil etwas so Einschneidendes war, daß es auch nach fast 50 Jahren – seine Familie verließ Deutschland 1934 – als Konflikt für Peter Weiss noch nicht beendet war: wenn er sich nicht als Deutscher fühlen konnte, dann aber auch nicht als Schwede. Nach eigenem Bekunden hat er schon in den sechziger Jahren daran gedacht, nach Berlin zu ziehen.34Anfang 1982 machte er Anstalten, seinen Wohnsitz nach Berlin zu verlegen; jedenfalls für einen Teil des Jahres wollte er fortan in Berlin leben. Er besichtigte Wohnungen, fand eine große Berliner Wohnung in der Potsdamer Straße – sogar (was er sich immer gewünscht hatte) mit einem versteckten Raum, der nur durch eine gut getarnte Tapetentür erreichbar war! Er war begeistert von der Wohnung und von der Adresse Potsdamer Straße 55, da hier in der Nähe auch Karin Boye gewohnt hatte, und er fand schon eine Schule für seine Tochter Nadja. Als seine Frau schließlich doch gegen diese Pläne Einspruch erhob, mußten seine Berliner Freunde dem Vermieter, der mit dem unterschriftsreifen Vertrag auf Weiss wartete, mitteilen, daß der Vertrag nicht zustandekomme. Es ist Weiss also nicht gelungen, den Schritt der Rückkehr aus Skandinavien zu vollziehen, den 36 Jahre früher, 1946, ein anderer Exilant aus Skandinavien vollzogen hatte, der nach Berlin ging und dort blieb: Willy Brandt. Mir scheint, daß der Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ das künstlerische Pendant ist zu jenem Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos!(35) Keiner, der nur Deutscher ist, konnte das offenbar fertigbringen. Um noch einmal auf Namen zu kommen: Willy Brandt hat den Namen behalten, unter dem er im Exil seine Identität erwarb. Er war nicht mehr Herbert Frahm, er war Willy Brandt.
Der Text ist die erweiterte Fassung meiner Antrittsvorlesung an der University of California at Irvine im Mai 1984. Der Titel ist ein Zitat aus den Faul de Man Memorial Lectures, die Jacques Derrida im April 1984 in Irvine hielt. – Der Satz Heissenbüttels stammt aus seinem Buch „Über Literatur“, Freiburg/Olten 1965, S. 167. Die Bemerkung über die magische Kraft des Namens Napoleon findet sich in Guido Ceronettis „Das Schweigen des Körpers“, Frankfurt 1983, S.171.
Anmerkungen
1 Weiss‘ ebenso wie Ruth Andreas-Friedrichs Buch gehörten zu den erfolgreichsten Titeln des Suhrkampschen „Weißen Programms“; die „Ästhetik des Widerstands“ wurde in über 50 000 Exemplaren verkauft, „Der Schattenmann“ in über 10 000. Zur Publikationsgeschichte des „Schattenmann“ und der Fortsetzung „Schauplatz Berlin“ vgl. das Nachwort zu der Taschenbuch-Neuausgabe von „Der Schattenmann“, Frankfurt 1986 (= suhrkamp taschenbuch 1267).
2 Fritz J. Raddatz: Abschied von den Söhnen? Peter Weiss: „Die Ästhetik des Widerstands“. In: DIE ZEIT. 8. Mai 1981. – Moritz Menzel (Pseudonym für Jürgen Kolbe): Kopfstand mit Kunst. Peter Weiss: „Die Ästhetik des Widerstands“. (Rez. von Band I). In: DER SPIEGEL, 24. November 1975. – Gert Ueding: Der verschollene Peter Weiss. „Die Ästhetik des Widerstands“, Teil zwei. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Dezember 1978. Zwei der Genannten haben sich allerdings noch öfter (wenn auch in ähnlichem Tenor) zu Weiss‘ Buch geäußert; vgl. die Bibliographie in Alexander Stephan (Hrsg): Die Ästhetik des Widerstands. Frankfurt 1983, S. 371 ff. (= suhrkamp taschenbuch materialien 2032). Kennzeichnend für die Rezeption von Weiss‘ Buch ist, daß es inzwischen aus der allgemeinen literarischen Diskussion völlig verschwunden ist, daß sich zugleich aber die literaturwissenschaftlichen Aufsätze häufen; das begann schon 1981 mit dem von Götze/Scherpe herausgegebenen Band „‚Die Ästhetik des Widerstands‘ lesen“, Berlin 1981 (= Argument-Sonderband AS 75) und ist wohl nicht zu Ende mit den vier Beiträgen zur „Ästhetik des Widerstands“ in dem von Christa Bürger herausgegebenen Band „Zerstörung, Rettung des Mythos durch Licht“, Frankfurt 1986 (= edition suhrkamp 1329). – Zur Rezeption von Weiss‘ Buch bei der Literaturkritik vgl. den Aufsatz von Volker Lilienthal: „Literaturkritik als politische Kommunikation. Zur Kritik der massenmedialen Rezeption der ,Ästhetik des Widerstands‘ von Peter Weiss“. In: Publizistik. Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, Heft 1/30. Jahrgang 1985, S. 72-88.
3 Ruth Andreas-Friedrich, „Der Schattenmann“, Frankfurt 1983, S. 45-47.
4 Peter Weiss, „Notizbücher 1971-1980“, Frankfurt 1981, Teil I, S. 176. (edition suhrkamp 1067).
5 Ruth Andreas-Friedrich, a.a.O., S. 289.
6 Peter Weiss, „Fluchtpunkt“. Frankfurt 1983, S. 59. (= Bibliothek Suhrkamp 797).
7 Peter Weiss, a.a.O., S. 137.
8 Peter Weiss, „Notizbücher 1971-1980“, Teil II, S. 559/60.
9 Peter Weiss, a.a.O., Teil II, S. 559.
10 Axel Dunker, „Auf der Suche nach einer Sprache für die Erinnerung. Selbstauflösung und Namensrettung in der ,Ästhetik des Widerstands’“, 1983, S. 2. (Ungedruckt).
11 Zu den Frauengestalten in der „Ästhetik des Widerstands“ vgl. auch Carol Poore: „Mother Earth, Melancholia, and Mnemosyne: Women in Peter Weiss‘ ,Die Ästhetik des Widerstands’“, In: THE GERMAN QUARTERLY; Volume 58/Winter 1985, Number 1, S 68-86. – Weitere mythologische Bezüge der Frauengestalten diskutieren auch Magnus Bergh/ Birgit Munkhammar: „Über die Mythen in der ,Ästhetik des Widerstands’“, in: Christa Bürger (Hrsg.): „Zerstörung, Rettung des Mythos durch Licht“, Frankfurt 1986, S. 199-216.
12 DIE ZEIT, 17. Dezember 1971.
13 Peter Weiss, „Hölderlin“, Bild 7.
14 Peter Weiss, „Hölderlin“, Epilog.
15 Peter Weiss, „Hölderlin“, Epilog.
16 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Zweiter Band. Stuttgart 1961, S. 204.
17 Friedrich Hölderlin, a.a.O., S. 204.
18 Friedrich Hölderlin, a.a.O., S. 207.
19 Friedrich Hölderlin, a.a.O., S. 206.
20 Diese notwendige „ostensible coldness and indifference“ um des Werkes willen sieht der junge Erzähler erstmals in der Zeit, die er mit Brecht verbringt, an diesem. VgI. hierzu auch Jost Hermands Aufsatz „The Super-Father. Brecht in ,Die Ästhetik des Widerstands’“. In: Communications, VoI13/No. 2, April 1984, S. 3 ff.
21 Rainer Gerlach (Hrsg.): „Peter Weiss im Gespräch“. Frankfurt 1986. (= edition suhrkamp 1303).
22 Sinclair (Pseudonym für Peter Weiss): „Der Fremde“. Frankfurt 1980, S. 81. (= edition suhrkamp 1007).
23 In Hölderlins „Mnemosyne“ wird am Ende in klagendem Ton eine weitere Gruppe von drei Helden genannt: Achilles, Ajax und Patroklos – vielleicht ist dies die älteste mythisch-historische Folie für die drei proletarischen Widerstandskämpfer Heilmann, Coppi und Erzähler.
24 Inferno, 3. Gesang, Zeile 9.
25 Alexander Kluge: „Schlachtbeschreibung. Der organisatorische Aufbau eines Unglücks“. München 1978, S. 234-239.
26 Klaus Stiller, „H. Protokoll“. Neuwied/Berlin 1970.
27 Sigmund Freud, Gesammelte Werke IX, S. 97.
28 Es lohnte sich, auch bei der mythischen Bezugsfigur Herakles deren Provenienz nachzugehen. Verfolgt man deren Rolle im mythisch-religiösen und geschichtsphilosophischen Denken Hölderlins genauer, so erscheint es sehr wahrscheinlich, daß auch die Wahl dieser Figur sich aus den Hölderlin-Studien von Weiss herschreibt. Vgl. hierzu etwa Jochen Schmidts Kommentar zu Hölderlins Gedicht „Chiron“ in „Warum Klassiker? Ein Almanach zur Eröffnung der Bibliothek deutscher Klassiker“. Frankfurt 1985, S. 107 ff. und Manfred Franks Ausführungen in der 6. und 11. Vorlesung von „Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie“. Frankfurt 1982, insbes. S. 308 ff. und 352 ff.
29 Peter Weiss, „Notizbücher 1971 – 1980“, Teil II, S. 898 – 927.
30 Dolf Oehler, „Aus der Tiefe des Wunsches“. In: MERKUR, Heft 424 der Gesamtfolge/März 1984, S. 123 – 138, hier 134.
31 Jochen Vogt: „’Wie könnte dies alles geschildert werden?’ Versuch, die ‚Ästhetik des Widerstands’ mit Hilfe einiger Vorurteile ihrer Kritiker zu verstehen“. In: TEXT + KRITIK, Heft 37, 2. Aufl. 1982, S. 68 – 94, hier 91.
32 Peter Weiss, „Notizbücher 1971 – 1980“, Teil II, S. 685, 652, 659 und 653.
33 Peter Weiss, „Notizbücher 1971 – 1980“, Teil II, S.645.
34 Peter Weiss im Gespräch mit Burkhart Lindner, in: „‚Die Ästhetik des Widerstands’ lesen“, S. 151 ff., hier 169.
35 Und ich vermute, daß der heimliche Gegner von Weiss die weißgott undogmatische und gewitzte Intelligenz des bis zum Zynismus wendigen Hans Magnus Enzensberger war und dessen immer up-to-date Produktion. Verglichen mit Enzensbergers „Kurzem Sommer der Anarchie“ und vor allem mit seinem schick-resignativen Groß-Poem (das sich selbst „Eine Komödie“ nennt – aber natürlich kichert ein so illusionsloser Zeitgenosse wie Enzensberger über die Schwerfälligkeit und Trauerfähigkeit eines Peter Weiss!) „Der Untergang der Titanic“, veröffentlicht im selben Jahr wie der letzte Band der „Ästhetik des Widerstands“ (1981), ist „Ästhetik des Widerstands“ in der Tat ein nur mühsam zu bearbeitender Brocken, von ganz anachronistischer Sperrigkeit. Es wird ein fortdauernd instruktives Beispiel sein, wie – ein Jahr auch vor dem Ende der sozialliberalen Koalition in der Bundesrepublik – Peter Weiss und Herr Enzensberger die Bilanz unserer Hoffnungen zogen.
Jörg Drews: „‚Echte Trauer’ – Was ist das?“. Die Namenlosen, die Namhaften und die Unnennbaren in Peter Weiss‘ „Die Ästhetik des Widerstands“. In: protokolle, 1987/1, S. 105-132.