Jörg Drews: „Ich komm‘ vielleicht ein bißchen langsamer zum Kern ...“. Zu den Hörspielen von Paul Wühr
1. An der Saale
Sicher ist es ungerecht gegenüber den frühen Hörspielen Paul Wührs, aber es hat doch seine guten historischen Gründe, wenn man beim Blick auf Wührs Leistung als Hörspielautor gar nicht anders kann als mit dem Preislied (BR/NDR 1971) einzusetzen, mit dem Jahr 1971 also. Denn seine wahrhaft unheimlichen Denk-Spiele Wer kann mir sagen, wer Sheila ist? (WDR 1964) oder Fensterstürze (WDR 1968) aus den sechziger Jahren zogen dem Hörer schon den Boden unter den Füßen weg, lösten logische und existentielle Gewißheiten mit einer Radikalität auf, die für das damalige Hörspiel ganz einmalig war, doch der Eintritt Wührs in die Geschichte des innovativen deutschen Hörspiels erfolgte erst mit seinen Originalton-Hörspielen der frühen siebziger Jahre, und man kann ohne Übertreibung sagen, daß nach der Erstsendung von Preislied am 4. Mai 1971 das deutsche Hörspiel nicht mehr dasselbe war, ähnlich wie drei Jahre früher Friederike Mayröcker und Ernst Jandl die Möglichkeiten des Hörspiels mit Fünf Mann Menschen (SWF 1968) grundlegend verändert hatten. Wühr benützte nicht nur Originalton-Material, also Aufnahmen der Äußerungen von nicht-künstlerisch tätigen Personen aus der Bevölkerung – das hatten sowohl andere Hörspielmacher wie auch die Dokumentarautoren der späten sechziger Jahre schon getan sondern zersplitterte die in Interviews gemachten Äußerungen der 25 Menschen, mit denen er sich über die Verhältnisse in der Bundesrepublik und über ihre persönliche Lebenssituation und ihre Lebenseinschätzung unterhalten hatte, in Satzgruppen, Sätze und Satzfragmente, ja isolierte bisweilen sogar einzelne Wörter bzw. Worte: er zerschnitt die Kontinuität der ursprünglichen Äußerungen und arrangierte große Teile des Sprachmaterials neu. Das heißt, er lauschte den 25 Interviews Aussagen-Muster und Satz-Muster ab, identifizierte wiederkehrende Auffälligkeiten ideologischer und sprachlicher Art und montierte die Cut-ups neu, um Denkmuster und Denk-Widersprüche herauszuarbeiten.
Ein Stück weit hob er damit Individualität auf, ließ eher so etwas wie ein Kollektiv-Subjekt entstehen, eine Art synthetisiertes Bewußtsein des bundesrepublikanischen Menschen in der bayerischen Variante. Die Stimmen und Aussagen reimen und streiten sich in Wührs Hörspiel, sie kommentieren einander und spielen Echo zu einander. Entscheidend ist dabei, daß Wühr nicht von vornherein wußte, was er eigentlich ideologiekritisch oder sozialkritisch belegen wollte, sondern sogar mit einer gewissen halbnaiven Ziellosigkeit sich ans Interviewen machte und erst beim Belauschen des Materials einen gemeinsamen oder doch sehr starken Tenor des Geäußerten, den (sozusagen) Nenner des Gesagten merkte: daß die Befragten nämlich insgesamt ein Loblieb auf das Gemeinwesen sangen, allgemein eine ziemliche Zuversicht und Zufriedenheit ausdrückten mit ihren Lebensumständen und ihrem Staat. Das war einigermaßen erstaunlich zu diesem Zeitpunkt des Nachbebens der Ereignisse von 1967 und 1968, als die Wellen der Kritik an der Bundesrepublik hochschlugen; es zeigte aber eben auch, daß erstens vielleicht Bayern in der Bundesrepublik eine Sonderrolle spielte und daß zweitens – rückblickend können wir das viel deutlicher sehen – die Loyalität der Bevölkerung gegenüber diesem Staat und diesem Wirtschaftssystem grundsätzlich gar nicht erschüttert, vielmehr eher sehr stabil gegründet war. Wühr – das kommt an der Art der Pointierung des Originalton-Materials indirekt schon zum Vorschein – ist nicht ohne Kritik am Geäußerten, und jedem Hörer ist ja das Vage und Ungeschlachte in der halb achselzuckenden, halb echt einverstandenen Haltung der Interviewten überdeutlich. Doch das Hörspiel ist bis heute mit Vergnügen anzuhören, weil Wühr zwar die Sprache bzw. das Sprechen seiner Leute vorführt, aber nicht sie vorführt: Es bleibt bei einer Art milden Spotts, auch beim Vergnügen über viele Formulierungen, die die Interviewten ungeschickterweise oder erheiternderweise finden; die Montage der Partikel erfolgt nicht mit besserwisserischem Duktus: Wühr macht sich weder über seine Gewährsleute lustig noch bevormundet er sie – er nimmt sich vielmehr gewissermaßen die Freiheit heraus, ihr Gesprochenes zu etwas anderem zusammenzufügen, ihre Rede anders zu fokussieren, ihr das Kasuistische und Erzählende zu nehmen und das Gesagte zu neuen Sequenzen zusammenzubauen, das Material zu – wie Wühr bis heute gern sagt – „figurieren“. Das heißt, Wühr drehte ihnen nicht das Wort im Mund rum, aber er manipulierte sein Material bewußt, er enteignete es, um es über die Pseudo-Konkretheit des Einzelfalls, der Einzeläußerung hinaus zum Sprechen zu bringen; er riß Äußerungen aus ihrem vereinzelnden Zusammenhang, zerstörte die erste Authentizität des Materials und erreichte so etwas wie eine zweite, höhere Authentizität – es gelang ihm, das Material „zur Kenntlichkeit zu verändern“, wie Ernst Bloch ein Prinzip der Verfremdungs- und Entfremdungsästhetik einst formuliert hatte. In seiner Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden, den Wühr 1972 bekam, betont er übrigens selbst mit Dankbarkeit, daß die Interviewten ihm großes Vertrauen bewiesen hätten, indem sie ihm das Gesprochene gewissermaßen blind zur Verfügung stellten: sie konnten ja nicht wissen, ob er ihr zu Tonband-Protokoll Gegebenes nicht im schlechten Sinne manipulieren würde.
Das bedeutet aber auch, daß der Autor, der bei purer Dokumentarliteratur, die wirklich über längere Strecken nur bietet, was Interviewte erzählt haben, wobei der Interviewer sich fast völlig zurücknehmen muß, bei Wührs Verfahren als erkennendes und formendes Subjekt, fast als eine Art Treuhänder des Materials, kurz: als Künstler eben nicht abgedankt hat – ganz im Gegensatz, wie gesagt, etwa zur fast alleinigen Sammler- und Herausgeberrolle beispielsweise der Autorin Erika Runge bei deren Bottroper Protokollen.
Beim Wiederhören tritt übrigens deutlich hervor, daß dies Hörspiel eine Zeitmarke trägt, daß auf eine paradoxe Weise der weit zurückliegende Zeitpunkt hervortritt, zu dem die Interviewten befragt wurden. Die Zufriedenheit, die ziemlich unangefochtene Herzigkeit, die Biederkeit, mit der man sich in die Verhältnisse schickt, selbst wenn bei einer Rentnerin nur ein Stückchen Leber für 95 Pfennige ab und zu abfällt, was ja mit der Redensart quittiert wird, man müsse sich eben „nach der Decke strecken“ – dies alles spricht von unvordenklichen Zeiten, von einer weit entfernten Phase in der Geschichte unseres Staates und unserer Gesellschaft. Ich bin mir ziemlich sicher: Befragte man heute 25 Leute ähnlich offen nach ihrem Befinden und Empfinden samt Einschätzung ihrer Obrigkeit, fiele das Resultat viel grantiger und mißlauniger, vielleicht sogar bitterer aus. Man könnte argumentieren, daß Volkes Stimme nicht unmittelbar Gottes Stimme sei und die Stimmung der Menschen oft griesgrämig-unzufriedener sei als ihre reale Lage, doch im Moment dürfte die allgemeine Stimmung wesentlich gedrückter und angefressener sein als damals; die allgemeine Verunsicherung über die ökonomisch-politische Zukunft und die hohe Arbeitslosigkeit liefern schließlich handfeste Gründe dafür. Aber das Preislied erhebt ja nicht den Anspruch, in seinen Stimmen einen repräsentativen Querschnitt durch die Bevölkerung zu bieten: das wäre eine Ernsthaftigkeit, die das Hörspiel dann zu einem Beleg machte und zur Beweisführung nötigte, und dann hätte die liberale Bonhommie, mit dem Wühr seinen Leuten einerseits zuhört und der Humor, mit dem er andererseits ihre Einlassungen auf Distanz bringt, nichts mehr zu suchen. Dieses Hörspiel klagt nicht einfach an, agiert nicht im geringsten, sondern läßt die Leute reden – allerdings nicht an einem Faden, sondern indem es ihnen immer wieder ihre eigene Melodie vorspielt, ihren Kummer und ihr Geschwätz, ihre Fähigkeit zur Komik und die Formulierungen, die ihnen unterlaufen und die mehr über sie sagen als sie wissen, wenn sie sich eifrig oder rührend oder prätentiös ihren Reim auf die Welt zu machen versuchen.
Überstrahlt und interpungiert aber ist dies alles von einer Musik, die das Selbstbewußte, das Trotzig-Fidele und das ins Lob der Verhältnisse mit fast religiöser Inbrunst Einstimmende der Interviewten geradezu knallig hervortreibt. Vom Dankchoral, intoniert von Orgel und Trompete, bis zum Kirmesgedudel aus dem Orchestrion: das Leben als Fun-Fair, als Kirmes, bei allem leicht Fratzenhaften nirgends wirklich böse pointierend oder endgültig verurteilend präsentiert.
Mit Material ganz anderer Art hatte Wühr es zu tun, als ihm die Interviewbänder bzw. die Transkriptionen dieser Bänder mit 17 jugendlichen Drogenkonsumenten Vorlagen, die von Jürgen Geers und ihm nach ihren Drogenerfahrungen befragt worden waren. Nehmen wir das Hörspiel Trip Null (BR/NDR 1973) zunächst einmal von der – gewissermaßen – inhaltlichen Seite. Die Natur des Materials bringt es mit sich, daß hier gar kein Spielraum für Spielerisches bleibt: Drogenkonsum hängt per se mit dem Verlust von Freiheit zusammen – Sucht ist das Gegenteil von Freiheit, von Distanzierungsmöglichkeit und Ironie, und daher kann es in diesem Hörspiel als Zusatz zum puren aufgenommenen, dann zerlegten und neu arrangierten Aussagematerial nur dumpf-depressive oder „irre“ Hall-Effekte geben, nicht Musik im eigentlichen Sinn, höchstens Fetzen von jener Musik, die zur Drogen-Glorifizierung, wie sie in der betreffenden Szene gang und gäbe wäre, dazugehört:
vielleicht beginnt
so ohne Anfang
am Ende
ohne Schluß
der Mittelpunkt läuft einfach aus
hier bin ich
in einer Ampulle
ganz voll mit lauter Leutchen
ausgezehrt vor Glück oder was
Menschlein ach Menschlein
ich seh‘
ich seh‘ Menschen die die
ihre Mutter fragen
ob sie schon geboren sind
die Leute da drinnen
unwirklich
verzinkt
rauchig ist es
irrsinnig rauchig
so ganz voll mit lauter Leutchen
die die alle
eben ihre Droge
verherrlicht haben
die Leute da drinnen die eingefallenen Gesichter
von Angst durchbohrt
stieren mich an
geliebte Droge
hier bin ich
in einer Ampulle
ganz voll mit lauter Leutchen
die alle daran gestorben sind
daß sie eben verherrlicht haben
die die ihre Mutter fragen
ob sie schon geboren sind
was der Anfang war
wo ich herkomme
in welche Richtung
wie das hingelaufen ist
der Trip
am Ende nicht den Anfang zu finden
daß ein Ende abzusehen ist1
Mit Drogen zu liebäugeln galt ja damals auch am Rande von linker Polit-Szene, Musik-Szene und vage sich als anarchisch verstehender intellektueller Szene als in Maßen salonfähig. Doch Paul Wühr braucht hier nur sein Material vorzuweisen, um den Schwachsinn der die Drogen verharmlosenden oder vergötternden Redereien evident zu machen. „Lyrisch auf chemischer Basis“ heißt ein spöttischer, ebenfalls den Interviews entnommener Slogan; was am Preis der Droge und der durch sie erreichten Zustände „lyrisch“ sein will, ist eigentlich nur schwachsinnig, abgeschmackt und monoton; es entstammt einem Zustand, in dem die Kategorien von Raum und Zeit und die Realitätskontrolle überhaupt suspendiert sind, und das Ergebnis ist, wörtlich genommen, läppisch. Es ist ein wenig wie wenn man Berichte von spiritistischen Sitzungen liest; angeblich hat man es dabei mit Manifestationen höherer Welten zu tun, doch was die Teilnehmer berichten oder vorweisen können, sind fliegende Tische, wehende Schleier und weißliche Massen, die irgendjemandem aus dem Mund quellen, wozu man nur sagen kann: Wenn die höheren Welten, zu denen man via Spiritismus Zugang erhalten soll, sich derart albern manifestieren – klopfend, als Napoleon sich kostümierend und als unappetitlicher weißer Schaum – , dann lohnt es sich nicht, sich damit zu beschäftigen. Anders formuliert: Es scheint eben großer Geister und konzentrierter Arbeit zu bedürfen, um bildliche oder sonstige Erfahrungen, die man unter Drogeneinfluß macht, in etwas Tradierenswertes zu überführen; doch es ist eben nicht jeder ein Charles Baudelaire oder Georg Trakl, und so verlaufen die meisten Aussagen von Drogenkonsumenten unter Drogen als eine Art begeistertes Lallen in Zeitlupe und mit endlosen Wiederholungen.
Paul Wühr ist es allerdings gelungen, sein Material zu einem Typus von Prosagedichten zu figurieren, wie sie sowohl in der gesprochenen wie in der gedruckten Form in der deutschen Literatur vorher nicht zu hören waren, und dabei kann er, weil das Material so sprechend ist, jegliche Bekundung des Abscheus vor dem Vorgeführten sich sparen:
ein Schlag wirft dich um
traurig
tot
kalt
Mordsgeist
Totenkopfgesicht
furchtbare Augen
riesengroße Augen
als ob die Haut weg wäre
nur das Fleischige zu sehen wäre
die Ohren so abstehend riesengroß
größer als der Kopf viel größer
und rote Ohren sehr rote Ohren
die spreizen sie weg
das totale Horrorface2
Es wäre ja eine Frage, deren Erörterung des Scharfsinns der Edlen wert wäre, ob nicht allen – also auch gesunden, intellektuell fruchtbaren – Geisteszuständen eine bestimmte, chemische Basis im Stoffwechsel entsprechen muß, die alle Bewußtseinszustände und Weltsichten bedingt, und mit welcher Begründung man für Erkenntnisse eine bestimmte chemische Disposition als besonders erkenntnisträchtig favorisieren sollte – diese Frage wurde von den Drogenapologeten etwa auch der Schule Timothy Learys ja mit einem pseudo-philosophischen bzw. pseudo-mystischen Schwall zugedeckt, in dem besonders prominent solche Begriffe wie das „Überbewußtsein« figurieren, von dem auch einer der Wührschen Interviewten schwadroniert. Verglichen damit stellt sogar Dr. Rudolf Steiners Buch Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten? ein heilignüchternes und solides Buch dar.
die salbungsvollen Gesänge
Gesang trug auch schon bei den Indern
tausend Jahre dazu bei
diese Störung zu verursachen
weil durch langanhaltendes Singen
dringt mehr Kohlendioxyd ins Blut ein
dieses Mehr an Kohlendioxyd
verursacht wieder diese Störung
das läßt sich alles zurückführen
auf rein chemische Basis
durch die Erfindung des LSD
ist auch so eine Möglichkeit gegeben
ins Überbewußtsein vorzustoßen
durch LSD wird eine Störung im Gehirn verursacht
im Bewußtsein verursacht
die eben den Weg zum Überbewußtsein öffnet3
Im Zustand des „Überbewußtseins“ ist dann leicht die Probe aufs Exempel zu machen: der Drogenkonsument, der im Rauschzustand über seinen Zustand berichtet, spricht eigentlich nur von einer grandiosen Regression. Das heißt: Wühr baut hier wieder aus dem von mehreren Interviewten zu Protokoll Gegebenen einen auf Typizität angelegten Text zusammen, der vermuten läßt, daß die gepriesene Befriedigung von bemerkenswerter, rührender Anspruchslosigkeit ist:
und dann nichts mehr hören
und dann bloß noch das feeling
ganz dufte
ganz ruhig
so richtig weich und leicht
und trotzdem lebendig
so wie jetzt
ganz ausgeglichen
keine Sorgen mehr
ganz vollkommen ruhig
kein Lärm
das ist so wahnsinnig
ich weiß nicht
das ist so unwahrscheinlich
warm
es ist so unheimlich
die Ruhe die dann einkehrt
die kann man so richtig trinken
und es wird richtig leichter
läuft so richtig weich und leicht durch
es ist unwahrscheinlich gut
warm
freundlich
man geht durch den Himmel ja
den selbstgebauten Himmel
den selbstgemachten Himmel
eine irre Sache
ich wetz‘ über eine Wiese
und träum‘
ich bin ein Cowboy
träumen
man geht durch den selbstgemachten Himmel
daß der Trip umgelenkt wird auf die richtige
auf die gerade Bahn
wo ein Trip hingehört
also angenehm
der Trip
wie so eine Sonnenbrille
eine rosarote
man geht durch den Himmel
befriedigt4
Da scheint die Droge nicht viel anders als ein Psychopharmakon, Typ Sedativum, gewirkt zu haben.
Ich habe den Eindruck, daß Paul Wührs Wahl der Gruppen, von denen er in den frühen siebziger Jahren Einlassungen über ihren Zustand, ihre Meinungen, Specifica ihrer sozialen Rolle erbat, auch geleitet war von dem Wunsch und der Neugierde, gerade von jenen Menschen etwas zu erfahren, deren Situation zu diesem Zeitpunkt aus modischen, politischen oder gesellschaftlichen Gründen eine Neu-Definition erfuhr oder die sich selbst neu definieren wollten. Das waren nicht nur Drogenbenutzer, das waren dann vor allem auch die Insassen psychiatrischer Anstalten, deren „Krankeit“ gewissermaßen als Definitionssache angesehen wurde, wobei natürlich die Willkür der Definition dessen, was als »geisteskrank« und also durch Einweisung in psychiatrische Krankenhäuser zu beschützen gelten sollte, angeprangert wurde.
In dem Hörspiel Verirrhaus (BR/WDR 1972), collagiert aus O-Ton-Protokollen der Gespräche mit 12 jungen Patienten einer psychiatrischen Anstalt, kommt zunächst einmal sicher zum Vorschein, daß das Eingesperrtsein in der Psychiatrie samt gedankenlos-sturer Niederhaltung durch hohe Dosen von Psychopharmaka den Anstalten und den Behandlungsweisen zumindest zu diesem Zeitpunkt vorzuhalten war oder auch vielleicht noch ist. Doch dann sprechen die Aussagen, die Selbstdarstellungen, die Lebensläufe der Insassen eine deutliche Sprache: die Verharmlosung oder gar fast Glorifizierung von Wahnzuständen als gewissermaßen kreativen und nur willkürlich von der gesellschaftlichen Definitionsmacht als krank eingestuften Zuständen hat ihre Grenzen in dem enormen Leiden, das die Patienten offenbar erfahren und das keineswegs als Randerscheinung abzutun noch auch durch Entlassung aus der Psychiatrie zu heilen ist. Gewiß gibt es gleitende Übergänge zwischen nichtklinischen Zuständen der Schwärmerei und der gestörten Selbsteinschätzung und klinischen Allmachtsphantasien oder das Selbst verkleinernden, selbstzerstörerisch-depressiven Zuständen:
da waren viele Phantasien da
wundervolles Mädchen
und da war so ein Falke
und der hatte so glasgrüne Augen
und der stand da
und der glitzerte aus dem Halbdunkel
da kamen so glitzrige Augen raus
was ist denn
was soll das denn
was soll das denn
das wollte ich nicht mehr
ich wollte auch nicht mehr
ich wollte auch nicht mehr ganz gesehen werden
was ist denn
was soll das denn
was soll das denn
wundervolles Mädchen
so viele Phantasien da
und da dachte ich der wäre
das wäre
das wäre er so
und so würde er auch tun
wundervolles Mädchen
ja und da fielen mir meine Haare
ins Gesicht
die waren nun auch
wie dieser Spalt
wenn man diese Phantasien
die man aus Büchern irgendwie hat
und dann war das bei dem so
der hat da so so richtig was Eis ist
so Schollen so spitze
ja
und dann war das bei dem so
der hat da so
rasierklingen da reingesteckt
durch diesen Spalt
überhaupt ja
das war also für mich verbunden ja
mit ziemlich großen Phantasien
ja mit Träumen irgendwie ja
ich möchte‘ also sagen
ich bin aufgewachsen so
ich hab‘ viele Bücher gelesen
diese ganzen Schriftsteller
die also praktisch die Frauen
in den Himmel heben
die ganzen Romane
diese Verherrlichung von den Frauen
da liegt man am nächsten Tag tot da
was ist denn dann
da lebst du nicht mehr da bist du weg5
Aber Wühr gelingt es dann auch, die Belege für die Unfreiheit aufzuspüren und zu bündeln, die aus den Aussagen der seelisch Kranken spricht; es kann keine Glorifizierung verrückter seelischer Zustände geben, wenn die Kranken selbst ihren Zustand als Leid erfahren und alle davon träumen, aus diesem Zustand des Wahns eines Tages befreit zu werden. In verzweifelten Formulierungen versuchen sie das Gefühl zu fassen, daß ihre Krankheit sie in Fesseln schlägt, zugleich in ihnen ist und aus ihnen spricht:
vielleicht komm‘ ich da mal raus aus
dem ganzen Denken
das in mir drin ist
dann muß ich erst mal reinkommen
und dann
vielleicht komm‘ ich da mal raus
aus dem ganzen Denken
ohne da reinzufallen
vielleicht komm‘ ich da mal raus
nicht in sich hinein
vielleicht
sondern über sich hinwegkommen
vielleicht komm‘ ich da mal raus
aus dem ganzen Denken
weil ich doch gewußt hab‘ daß das falsch ist
und das nicht ich bin
vielleicht komm‘ ich da mal raus aus
dem ganzen Denken
das in mir drin ist
aha
so bin ich
vielleicht komm‘ ich da mal raus
aus dem ganzen Denken
daß das ich bin
vielleicht komm‘ ich da mal raus
dann muß ich erst mal reinkommen
und dann
vielleicht
irgendwie rausgehen
vielleicht komm‘ ich da mal raus
ich kann nicht so bleiben6
Das Stottern, das Zögern, das Besessen-Sein vom immergleichen Gedanken ist hier in der Sequenzierung der Sätze Gestalt geworden, und Wühr treibt diese Möglichkeit, ganz neue Arten von Textabläufen sich auszudenken, die das Narrative ganz verlassen, einerseits ins Extrem, indem er Sätze mechanisch sich wiederholen läßt, als sei ein Satz-Automat eingeschaltet und es laufe eine kurze Tonbandschleife ab; die Satz-Wiederholung wird selber irre, läuft entleert.
Wühr geht übrigens mit solchem insistierenden Wiederholen einzelner Wörter oder Phrasen, das sich ja mit einer vergleichsweise großen Anzahl von auffälligen Sätzen veranstalten ließe, eher sparsam um; er ist gegen Effekthascherei gefeit und hat wohl auch gemerkt, daß hier so etwas eintreten könnte wie die Ästhetisierung von Schrecklichem, das experimentell-sprachspielerische Sich-delektieren an Kadenzen von Worten. Von Ökonomie der Mittel versteht er etwas, und auch davon, daß das Zerlegen von Erzählungen – hier von Erzählungen der Patienten – in Partikel, die er neu, nicht-narrativ bündelt, balanciert sein muß von Resten von Geschichten, die ein Stück weit aus sich selbst müssen laufen dürfen:
in meinem Zimmer
erdbeeren
ich pflücke
pflücke da
pflücke
und plötzlich wird mir das peinlich
ich denke die gehören uns gar nicht
und da hatte ich auch immer Angst
daß in den Erdbeersträuchern
daß da Spinnen sitzen
ach ja
ich aß dann so ein paar Erdbeeren
die schmeckten mir sehr gut
ich nehm‘ mir da was
und bin‘s also ganz zufrieden
plötzlich fällt mir mit Entsetzen auf
daß da alle Erdbeeren fast weg sind
und jetzt hab‘ ich sofort ein Schuldgefühl
mein Gott
jetzt hast du die Erdbeeren gegessen
jetzt kommt
die Spinne
Überich
spinne
so wird mir halt alles zum Dämon
bis ich mir selber dann zum Dämon werde
und dann dieses dauernde
Sich-bestrafen-müssen
da sitz‘ ich dann
in meinem Zimmer
aha jetzt
so bin ich
mit einem Grinsen im Gesicht so einem sadistischen Grinsen und dann fahr ich mit einer Wut auf mich selbst los als allmächtig als Spinne
wenn man schuldig ist
dann muß man sich ja bestrafen7
Ein Hörspiel von Paul Wühr aus jener Zeit, dem Material nach aus den frühen siebziger Jahren stammend, ist damals nur textlich erarbeitet worden und konnte dann nicht realisiert werden: So eine Freiheit, komponiert aus den Aussagen von 11 Frauen und Mädchen zu ihren sexuellen Erfahrungen. Die Realisierung war jahrelang unmöglich, weil diverse Hörspielredaktionen offenbar vor der Direktheit der Aussagen und auch vor dem z. T. drastischen Vokabular zurückschreckten. Diskutieren wir hier nicht, ob die Redakteure wie Gratis-Feiglinge handelten – Anfang der neunziger Jahre riskierte der Sender Freies Berlin dann die Realisation, und damit war endlich das vierte Hörspiel aus Wührs O-Ton-Tetralogie der siebziger Jahre Realität geworden (SFB 1992).
Der Titel So eine Freiheit ist natürlich ein Zitat aus der Beschreibung der Lage nach der sexuellen Emanzipation oder der angeblichen sexuellen Emanzipation der Frau, und die Ironie liegt bei diesem erlösten Ausruf „So eine Freiheit“ in dem Tatbestand, den Nestroy für den Fortschritt so beschrieb, daß der Fortschritt immer das an sich hat, daß er größer aussieht als er ist, und so war es oder ist es – jedenfalls dem Tenor der Äußerungen in Wührs Hörspiel nach – auch mit der sexuellen Freiheit der Frau, wenn man diesen elf von Wühr angehörten, abgehörten und – sagen wir einmal verkürzt: verarbeiteten Bekundungen glauben darf:
ich hatte andere Vorstellungen
um zu einem Glück vorzustoßen
was wir wirklich wollen
wobei man hier endlich einmal
frei sein kann
frei handeln kann
das find‘ ich eben schöner
von einer modernen Frau
sie kann jederzeit wählen
vor allen Dingen
sie kann sich den Mann suchen
der ihr paßt
und sie kann
sexuell paßt
ich finde es wunderbar
das ist
so eine Freiheit
haben wir doch noch nie gehabt8
Es ist zumindest deshalb nur halb so wild mit der Freiheit, so stellt sich aus den intimen Berichten der Frauen heraus, weil mit der formal gewährten größeren Freiheit der Partnerwahl bei Aufhebung aller möglicher Sanktionen und zugleich mit der Einführung der Pille ab Mitte der sechziger Jahre doch angsterfüllte Einstellungen zur Sexualität noch nicht verschwunden waren, die ja in einer weit zurückliegenden Erziehung geprägt worden waren, und der verständnisvollere, geduldigere und einfühlsamere Umgang miteinander, insbesondere der Männer mit den Frauen, war damit auch noch nicht gelernt: Realitätsferne Träume kollidierten immer noch mit Gegebenheiten psychischer und physischer Art, auf die die Frauen nicht vorbereitet sind oder waren: Das Glück einer harmonischen Beziehung ist immer noch die Ausnahme, und zahlenmäßig vielleicht noch nicht einmal in der Zunahme begriffen:
da lief mir ein etwas leicht
naturburschenhafter Mann über den Weg
[…]
er hat mir dann angeboten
daß er meine Lampe repariert
und er hat da so wortlos mir
da irgendwie so geholfen
den Küchenschrank aufgemacht und so
er war sehr charmant
und ich hab‘s ihm auch geglaubt
er reparierte meine Lampe
und das hat dann so richtig gefunkt
das war
was ich brauche
er hat also alles wunderschön gemacht
stieg auf den Stuhl
schaute mich an grinste
stieg wieder runter ja
na ja dann merkt man das ja einem Mann an
oder sowas
und dann ist das irgendwie passiert
es sind so schöne Worte gefallen
nahm mich in die Arme
also wir haben sozusagen
das Haus gleich eingeweiht
natürlich haben wir dann auch
zusammen geschlafen
das ist ja klar
er wollte ja
und siegte oder so ungefähr
das hat irgendwie gefunkt bei dem Mann
und mir
wie soll es schon sonst enden
er kam sah und siegte oder so ungefähr
da war irgend ein Funke schon da
natürlich will ich dann mit ihm schlafen
oder so ungefähr
das hat schon gefunkt
außerdem ist er der Bumser vom Dienst
und ich fand es unheimlich gut
und er hat auf mich gewirkt
wie so ein Bergquell
so ein frisches Bergwasser
ich hatte sogar einen Orgasmus ja
ich hab‘ den nicht oft
aber ich hatte ihn weil er
siegte9
Man wüßte gerne, wie heute 11 Frauen und Mädchen ähnlichen Alters wie die damalige Gruppe über ihre sexuell-erotischen Erfahrungen sprechen würden. Ich habe beim Anhören von So eine Freiheit den Eindruck, daß die Erfahrungen 25 Jahre zurückliegen und daß heute vergleichbare Erfahrungsberichte anders aussähen. Erstens dürfte das weibliche Selbstbewußtsein doch gewachsen sein im letzten Vierteljahrhundert, und das thematische Zentrum würde sich heute verschoben haben auf Probleme des Miteinanderauskommens in dem Sinn, daß die Vereinbarkeit von zwei Lebensentwürfen, in deren Zentrum überwiegend auch bei Frauen Berufstätigkeit steht, immer problematischer im Sinne von: immer mehr Probleme generierend wird, damit aber vielleicht die Selbstdefinition der Frauen über die Beziehung zu einem Mann gar nicht mehr eine so zentrale Stellung hat. Zu vermuten ist auch, daß die Liebesvorstellungen sich weiter entromantisiert haben – „Lebensabschnittspartner“ als Wort bezeichnet ironisch, daß weder Realität noch vielleicht auch Wunsch auf ein lebenslanges – sprich: lebenslängliches – Liebe- und Eheverhältnis zielen. Zweitens aber spielte mit Sicherheit heute in den Kalkulationen, den Angstphantasien und den Berichten von den Befürchtungen beim berühmten »ersten Mal« Aids eine Rolle: daß Aids überhaupt nicht vorkommt in den Erzählungen der Frauen und Mädchen, gibt dem ganzen Bericht etwas nicht nur Historisches, sondern geradezu Veraltetes, und so ist es umso mehr zu bedauern, daß dieses Hörspiel damals, auf gleicher Höhe mit dem Erfahrungsmaterial, das es bearbeitet, nicht realisiert werden konnte.
Wenn man in Paul Wührs nächstes Hörspiel Soundseeing Metropolis München (WDR 1986) hineinhört – das zu Hörende können wir noch weniger hier als in den vorangegangenen Beispielen im Druck wiedergeben –, geht einem nach einigen Minuten spätestens auf, daß man hier Geräusche aus München hört, und man errät etwas Szenisch-Akustisches aus dem oder rund um das Hofbräuhaus. Für eine Reihe akustischer Städteporträts entwarf und realisierte Paul Wühr das Originalton-Hörspiel Soundseeing Metropolis München10, und das heißt, er konnte der Arbeit mit Originalton treu bleiben, konnte und mußte aber auch originalsprachliches Material einbeziehen – zumindest deshalb, weil unverkennbar Münchnerisches Sprachmaterial ja auf Dialekt-O-Ton hinausgelaufen wäre, und das hätten die WDR-Hörer entweder nicht verstanden oder das Hörspiel hätte ein Stück Exotismus mitgekriegt; obendrein interessiert sich der Bayer Wühr zwar für München, hält sich aber vom Bezug auf alles, was als Folkloristisches verstanden werden könnte, mit Bedacht frei: München ist Wühr eine ganz bestimmte Großstadt, nicht aber in erster Linie die bayrische Landeshauptstadt. Andererseits ist es aber ein Problem, aus Großstadtgeräuschen eine bestimmte Stadt zu erkennen – die Majorität der Geräusche, die wir bei einem Gang oder einer Fahrt durch München hören, ist München-spezifisch; wählt man aber erkennbar Münchner Geräusche – Blasmusik, das Glockenspiel im Rathausturm oder ähnliches, samt Oktoberfestgeräuschen: „Löwenbräu“ und „Ozapft is!“ –, dann landet man bei platt identifizierbaren, aber eben klischierten Geräuschen, auf die reflexartig das Erkennen folgt. Wühr hat zur Strukturierung seines Materials, das übrigens so vielspurig und differenziert organisiert ist wie in keinem seiner bisherigen Hörspiele, eine Sightseeing-Tour mit dem Bus durch München genommen, und die geht natürlich an Landmarks vorbei – in Deutsch und in Englisch –, die der Fremdenführer durchs Mikrophon und in den Lautsprecher nennen muß, und damit ist Erkennbarkeit garantiert. Das Ergebnis ist paradox: An einigen Stellen erkennen wir als Hörer München überdeutlich – die soundscape, die Klang- und Geräuschlandschaft München ist sofort verifizierbar; an anderen Stellen hören wir nur Großstadtgeräusche, die wir keiner Stadt spezifisch zuordnen könnten. Soundseeing Metropolis München verlangt eigentlich ein so feines Zuhören, wie es leider kaum ein Rundfunkhörer wird leisten mögen; aber das ist vielleicht auch wieder kein Maßstab für diesen Originalton-Hörtext aus akustischem München. Wer will, kann sich Zugang verschaffen und dann, mit der Geduld eines meditativen Hörens, eine ganz exquisite Raum-Erfahrung als Hörer machen, denn wie gesagt ist die feine Abstufung und zugleich Plastizität der Geräusche in Soundseeing Metropolis München ganz unvergleichlich nuanciert.
Daß Paul Wühr sich von der Arbeit mit Originalton und überhaupt vom Hörspiel abgewendet hat, daß es für ihn zu Beginn der siebziger Jahre so etwas wie eine mimetische Solidarität mit den Menschen gab, die ihre politischen Implikationen und Antriebe hatte, ist sehr zu bedauern. Der Band, in dem er die vier Hörspiele von Preislied bis Verirrhaus 1973 als Texte, in sozusagen literarischer Form sammelte, trug den spöttisch-solidarischen Titel So spricht unsereiner und spricht von einer interessierten Nähe zu den Denkweisen der Menschen um ihn herum und einer Sympathie mit ihren Sprachnöten; ihren Artikulationsbemühungen:
ja also na ja
ja freilich
das muß ja sein
ja freilich
na ja das ist teils teils
ich sag‘s ja
es gibt heute fast nichts mehr zu sagen
das ist je nach Stimmung
wie hab‘ ich denn angefangen gehabt
jetzt hab‘ ich‘s natürlich vergessen
na ja ja also
na ja ganz nett
nachdem es nun mal so ist
aber dann mein‘ ich doch
das ist der Grund
weil man sagt
weil ich es wirklich nicht weiß
ja und können wir das nicht
ich weiß nicht
ich hatte jetzt einen so schönen Satz
jetzt ist er weg
na ja ganz nett
ja ja ja
ja also
ein bißchen kompliziert ist das schon
weil es auch
sagen wir mal
so einfacher ist gell
ja freilich
ich krieg‘ das Wort nicht
ja also
ja11
Sein Originalton-Material hat er aber von Anfang an konstruktiv überformt: er glaubte nicht an die Authentizität dessen, was sich so als Original-Äußerung gab; er mußte das entfremdete Sprechen verfremden, um eine zweite, schwebende, nur im Widerspruch, in der inneren und nie suspendierten Dynamik erreichbare Authentizität herzustellen. Wühr hat wohl inzwischen eher das Gespräch nicht mehr mit ‚den Leuten‘, sondern mit anderen Autoren aufgenommen: wenn er sich, wie in seinem kürzlich erschienenen Gedichtband Salve Res Publica Poetica mit Hamann und Lessing, mit Seume und Mendelssohn unterhält, indem er sie in seine Gedichte hineinzitiert, dann ist ihm das in einem ganz anderen Sinn eine Antwort auf die Herausforderung des Originaltons, nämlich Originaltons, der nicht an Tonbandgeräte und Volksnähe à la den Leuten aufs Maul schauen gebunden ist: Hölderlins Gedichte und Lessings Briefe sind Originalton dieser Autoren. Aber seien wir dankbar für die Phase, in der Wühr in die Geschichte des deutschen Hörspiels eingriff und drei Klassiker – ich denke: drei – schuf: Preislied, Verirrhaus und Trip Null. Er machte gewissermaßen den Umweg über den Originalton aus dem Mund der Leute, die wenige Begriffe haben und doch so verdammt intensiv probieren, sich die Welt zusammenzubuchstabieren. Manchmal verzweifeln sie an der Komplexität der Welt, aber dann sind sie doch wieder hartnäckig zuversichtlich, daß sie schon das Entscheidende rauskriegen werden:
ich komm‘ vielleicht ein bißchen langsamer zum Kern
aber ich komm‘ zum Kern
hunder[t]prozentig12
Und dann wollen wir doch am Ende noch den schönsten Fund festhalten, der sich – Originalton at it’s best – ganz nahe bei den höchsten Manifestationen des Genius von Karl Valentin in Wührs Preislied findet, nämlich die letztgültige Definition des Zusammenhangs zwischen Bier, Biergärten und Volk:
[…]
so ein Biergarten ist doch eigentlich ein richtiger
Volksverteiler
da werden doch verschiedene Sachen verteilt
erstens werden die Leut‘ verteilt
auf die verschiedenen Biergärten
und zweitens wird‘s Bier verteilt
auf die verschiedenen Leut‘
es ist also doch eine höchstlöbliche
Wechselbeziehung da
weil was verteilt ist
das ist der Angelpunkt
so um das Verteilen dreht sich alles
da sind also die Leut‘ vom Bier
und das Bier von die Leut‘ abhängig13
Paul Wühr, diesjähriger Preisträger des Großen Literaturpreises der Bayerischen Akademie der Künste, feiert am heutigen 10. Juli seinen siebzigsten Geburtstag.
(1997)
Anmerkungen
1 Paul Wühr: SO SPRICHT UNSEREINER: Ein Originaltext-Buch. Nachwort von Jörg Drews. München 1973, S. 87
2 Wühr, Unsereiner, S. 88
3 Wühr, Unsereiner, S. 101
4 Wühr, Unsereiner, S. 106
5 Wühr, Unsereiner, S. 141f.
6 Wühr, Unsereiner, S. 143
7 Wühr, Unsereiner, S. 144f.
8 Wühr, Unsereiner, S. 46
9 Wühr, Unsereiner, S. 47f.
10 Wührs „Soundseeing Metropolis München“ wurde erstgesendet im WDR am 21.10.1986.
11 Wühr, Unsereiner, S. 9
12 Wühr, Unsereiner, S. 21
13 Wühr, Unsereiner, S. 21
Jörg Drews: „Ich komm’ vielleicht ein bißchen langsamer zum Kern“. Zu den Hörspielen von Paul Wühr. In: Hörspiel. Autorengespräche und Porträts. Hg. v. Katharina Agathis und Herbert Kapfer. Belleville Verlag. München 2009, S. 89-109.
Wiederabgedruckt in: Jörg Drews: Lob des krummen Holzes. Über Paul Wühr. Hg. von Thomas Combrink. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2016, S. 161-188.