Jörg Drews: Laudatio auf Paul Wühr. Zur Verleihung des Ernst-Jandl-Preises 2007
Verehrte Frau Ministerin,
liebe Freunde, meine Damen und Herren,
lieber Paul Wühr,
diese kleine Rede zur Feier von Paul Wührs Literatur und insbesondere seiner Lyrik hätte ich gerne am heutigen 16. Juni, am höchsten Feiertag der zivilisierten literarischen Welt, damit begonnen, daß ich Ihnen ein „Happy Bloomsday“ zurufe. Das lasse ich aber lieber sein, weil der heute zu Ehrende, Paul Wühr, es gar nicht liebt, wenn man noch andere Götter neben ihm hat, etwa James Joyce oder auch Arno Schmidt, und es entbehrt ja ohnehin schon nicht der Ironie, ja der leisen Komik, daß Paul Wühr heute hier in Neuberg den Ernst Jandl-Preis für Lyrik erhält. Ich bin mir nämlich gar nicht sicher, ob Ernst Jandl genauere Kenntnis und ein begründetes Urteil gehabt hat zu Paul Wührs Gedichten zu dem Zeitpunkt, da sie noch beide diese Erde bewohnten, und der auffindbare Beleg für die Vorstellung, die Paul Wühr seinerseits sich von der Arbeitsweise Ernst Jandls machte, ist einzig ein Satz, den er im Gespräch mit Lucas Cejpek äußerte: „Während der Jandl das mit Kalkül macht – ich warte, bis es passiert.“ Das gibt ja auch mehr zu denken, als daß es nun wirklich Klarheit schaffte, ist also schon ziemlich interpretationsbedürftig. Aber ein Satz von Helmut Heissenbüttel bringt die beiden dann doch wieder näher zusammen. Im Nachwort zu einer Ausgabe von „Laut und Luise“ schrieb Heissenbüttel vor nun mehr auch schon fast 40 Jahren auf die damals häufig gestellte Frage, ob denn die Gedichte in „Laut‘ und Luise“ noch „Gedichte“ seien, ganz einfach: „Ja… Wie sollten denn Gedichte heute anders aussehen?“ Die Antwort ist sozusagen ‚klassisch‘: Wenn man einen emphatischen Begriff von Literatur hat und einen Begriff vom eigenen Zeitalter, dem eigenen historischen Moment, muß man 1966 wie heute sagen: Falls man nicht für die gedankenlose Beibehaltung alter und harmlos-inadäquater poetischer Formen und Sprechweisen plädieren will, sondern meint, daß es zeitgemäßere und also andere Antworten geben muß auf unser Zeitalter, unsere Zeitgeschichte, unser – sagen wir mal: – Daseinsgefühl und auch sprachlich-intellektuelle Disposition, dann sind die von Unsicherheit, Zweifel, Argument und Diskussion durchtobten, formal innovativen Gedichte Paul Wührs genau im Heißenbüttels adäquate Gedichte in dieser geschichtlichen Stunde. Die Nähe der Gedichte Jandls und Wührs zueinander ist nicht eine Frage der gleichen poetischen Machart, sondern eine Frage des Niveaus, eine Frage dessen, ob sie intellektuell und ästhetisch hinreichen und ob sie jeweils der Platz sind, an dem geistige Spannung ausgetragen wird, in dem Sinn, daß sie weder konventionelle noch neo-konventionelle Bildungs- oder Spaßpoesie sind, und da ist uns für gar nichts bang, in ihnen lebendig.
Die Paradoxa könnte man allerdings noch vermehren mit dem Zitieren einer Äußerung Paul Wührs, die da lautet: „Ich schreib eigentlich gar keine Lyrik, meine Gedichte die sind ja eigentlich gar keine Lyrik.“ Recht hat er, da man ja wirklich beobachten kann, daß z.B. Metaphorik bei ihm keine große Rolle spielt (wenn auch Vergleiche), auch nicht innig-subjektives Sentiment, und vielmehr ein stark argumentativer Duktus die Gedichte bestimmt, eine Dichte, eine Gestauchtheit von einander ausschließenden oder doch partiell kollidierenden Gedanken und Aussagen. Würde das dann wieder heißen: Also, dann handelt es sich vielleicht mehr um etwas, das früher „Gedankenlyrik“ hieß? Das ist ein interessanter Punkt, den man noch weiter führen kann: Vielleicht muß man die Wührschen Gedichtbände, insbesondere die letzten drei voluminösen Bände, für nach allen Seiten sich ausbreitende argumentative Teppiche nehmen, in deren „Vernetztheit“ manche Gedichte kaum selbstständige Gebilde sind, sondern vor allem auch wichtig als Gelenke und Bausteine eines Ganzen? Gibt es da eine vielfältige gedanklich-poetische Textur, in die kleinere bis größere Zyklen eingelassen sind?
Es wird Zeit, zwischendrin einmal zuzugeben, daß das poetische Gesamtwerk Paul Wührs – und davon darf man bei den nahen 80 Jahren seines Lebens wohl sprechen – so vielfältig ist und auch. diverse andere – soll man jetzt sagen: Gattungen – umfaßt als nur Lyrik, auf die wir uns heute vor allem beziehen. Es ist aber wirklich so, daß sich erst in den letzten Jahren für uns Leser die Lyrik Paul Wührs, das heißt: die umfangreichen Gedichtbände, so stark in den Vordergrund geschoben haben; das ist so spätestens seit „Salve res publica poetica“, „Venus im Pudel“ und „Dame Gott“. Davor aber liegt ein gutes Dutzend Hörspiele, darunter das preisgekrönte und wahrhaft revolutionäre „Preislied“ von 1971; dann war da der Großstadtroman „Gegenmünchen“, das historisch-kritische Röntgenbild einer Stadt von 1970, eine „Wörterstadt im Buch“, Joyces „Ulysses“ an die Seite zu stellen, und dann gab es noch bzw. gibt es natürlich den zweiten Großstadtroman „Das falsche Buch“ von 1983, und nicht zu vergessen ist da das Tagebuch „Der faule Strick“ von 1987 und die „Luftstreiche. Ein Buch der Fragen“ von 1994. Sicher, der Gedichtband „Grüß Gott ihr Mütter ihr Väter ihr Töchter ihr Söhne“ kam schon 1976, es folgten bald die Bände „Rede“ und „Sage“, aber noch immer sahen wir dies eher als Nebenwerke mit überraschender Gattungswahl, und unsere – jedenfalls: meine – Lese- und Auslegungsanstrengungen waren doch eher auf die Prosa konzentriert, bis – ja, bis vor 10 Jahren die Wage sich endgültig zugunsten der Lyrik zu neigen begann. Und nun Ade, Tagebuch-Projekt „Der wirre Zopf“? Ich weiß es nicht, fragen sie Paul Wühr.
Wie es aber gehen könnte, wie Gedichte von Paul Wühr aussehen könnten – das war zu sehen, wenn man 1976 den Band „Grüß Gott“ aufschlug und auf der ersten Textseite las:
Ich habe den Fehler nicht
machen müssen weil
der sagt
ich bin der Fehler
der ich bin
lasset uns den Fehler machen
ein Bild
das uns gleich sei
Bibel, Theologie, Ernüchterung, trockener Witz – das waren die Ingredienzien bzw. die „Spreche“, wie man in Anlehnung an die Titel der beiden folgenden Gedichtbände, „Rede“ und „Sage“ erfinden möchte. Das Hymnische, das offenbar die allerfrühesten 22 großen „Hymnen“ Wührs (so nennt er sie immer selbst) aus den Nachkriegsjahren beherrschte, war da ausgedörrt worden, zu zuversichtlichen Provokationen herabgestimmt, zuversichtlich in einem aufklärerischen Sinne, da statt Zerknirschung des Einzelnen Einsicht in die konstitutive Fehlerhaftigkeit, Fehlerbehaftetheit nicht nur des Menschen, sondern der Schöpfung insgesamt konstatiert wird. Und hier setzt auch die Wührsche Variante der Dialektik ein, hier noch in stark theologischer Prägung: ist der Mensch fehlerhaft, kann etwas verbessert werden, der Horizont ist offen, und der Zuruf heißt – diesmal protestantisch-lutherisch gesprochen – „pecca fortiter“, nimm das Risiko des Sündigens, sprich: deiner Fehler – nicht zuletzt auch beim Denken – auf dich. Die Schuld des denkenden Menschen, und sei er auch noch so sündig-aufsässig unter christlicher Moral, ist eine glückliche Schuld, eine „felix culpa“. Dieser Strang rebellischen Denkens zieht sich durch das ganze Werk von Paul Wühr, bis zu der Ketzerei, der Frechheit, der kühnen Abrechnung mit dem Herrn Gott, der durch eine Frau, eine Dame ersetzt wird, die, dann als Neukostümierung – das ist lustigere Variante – bzw. als Wesensumdeutung – das ist die wirklich rebellische Variante – durchgezogen wird …
So signalisiert dies Gedicht nach einer Pause von Wührs Publikation von Gedichten zwischen etwa 1955 und 1976 einen Sprung aus der Unmündigkeit bei fortdauerndem Bezug auf die christlichen Glaubensinhalte, und wir können dieses kleine, aber in seiner gedanklichen Konzeption sehr weitreichende Gedicht auch so lesen, daß Wühr seine Dichtung – und gerade seine Lyrik, wie wir bis heute sehen können – nicht ohne Erkenntnisgewinn denken will. Das heißt seine Gedichte sollen nicht abgekoppelt werden von Erkenntnis, die Ästhetik nicht getrennt von Begriff und Argument; Ästhetizismus wäre ohne diese Verknüpfung in der Gefahr der Beliebigkeit; Dichtung braucht als regulative Idee, als einen Pol ihrer Existenz einen so flexiblen wie emphatischen Begriff von Wahrheit, sonst landet sie im unerheblich Stimmungshaften und Dekorativen, bei Feinsinnigkeit und Schmunzelgedichten. Das Drängende, das Grimmige, bisweilen das Übermütig-Spielerische von Wührs Gedichten seit den siebziger Jahren hängt genau damit zusammen, daß er noch empört sein kann und muß, daß er höhnen kann, daß ihm der Ton von mehr als Ironie, nämlich rücksichtlosem Sarkasmus, großen Spottes zur Verfügung steht und er sich nicht zu Milde verpflichten kann, weil es ihm unabdingbar um etwas geht, nicht um das Erreichen von verfestigbaren Erkenntnissen, sondern um das Erkennen von Wahrheit, wie prekär der Begriff auch sei, um das Offenhalten dieses Prozesses bei gleichzeitiger gewissermaßen furioser – Lessingscher! – Demut angesichts der Frage, ob die Wahrheit etwas für uns Menschen sei. Was ihn vor Gleichgültigkeit wie vor dogmatistischer Selbstgefälligkeit schützt, ist seine Dialektik des Richtigen, das sich bekanntlich schnellstens ins Falsche verwandeln kann. (Von der Entfaltung dieser Dialektik lebt übrigens sein Tagebuch „Der faule Strick“, das ja nur – fast hätte ich gesagt: – an der Oberfläche Tagebuch ist und am substanziellsten als Entwicklung einer Poetik, seiner Poetik.)
Sicher ist bei Paul Wühr eigentlich nur eines: daß alles fraglich oder eher: befragenswert ist. Und aber sobald dieser Satz zu einem unbefragbar Richtigen, zu etwas Richtigem verhärtet wird, ist er schon wieder falsch und muß fragend umterminiert und umgebaut werden. Wührs Gedichte insgesamt sind – früher hätte man gesagt: – ideologiekritisch, bloß würde er sich nicht herausnehmen, im Besitz des „richtigen“ Bewußtseins zu sein, von dem aus dann souverän zu bestimmen wäre, was „falsches Bewußtsein“ oder Produkt falschen Bewußtseins ist. Vielmehr: „Der Geist ist ein Wühler“, sagt Jakob Burckardt, und dergestalt nimmt sich Wührs Denken in Poesie-Form alles mögliche an Themen, alle Ideologeme unter totalem, grimmigem, aber heiterem Ideologieverdacht vor, schlüpft hinein und baut es immanent kritisch, von innen, um; seine Gedichte unabgeschlossen, prozeßhaft mit scharfem argumentativem Drive und mit peinlicher Intensität und Pietätlosigkeit vorgehend, sind so etwas wie Phasen in diesem Umbauprozeß von Wahrheiten, Momentaufnahmen vom Stand des Nachdenkens, Stillstellungen nur für kurze Zeit. Er greift Politisches und die Liebe, Vorurteile und Modethemen, theologische und philosophische Aussagen, Vorstellungen über die Geschlechter, den Mai 1968 und die deutsche „Erinnerungskultur“ – alles was man glaubt wissen und sagen zu können – ,vor allem‘ auch ouverte politische Selbstdarstellungen von der bayerischen CSU bis zu silberzüngigen Bundespräsidenten auf und unterzieht alle Sujets seinen „Diskussionsgedichten“, aus denen er ihre verborgenen Wahrheiten hervortreibt: Er entstellt Sätze, um sie zur Kenntlichkeit zu verändern. Das ergibt dann natürlich kaum je „schöne“ Gedichte; vielleicht mit Ausnahme einiger Liebesgedichte sind seine Gedichte nicht melodiös in der Art von sangbaren, wohllautenden romantischen Gedichten; sie haben ihre spezifische, rauhere, aber stockende Melodik, sie rücken eher schroff-nervös vorwärts als daß sie gleiten.
In seiner Syntax folgt ein Bruch dem anderen; unvollständige und doppeldeutige Sätze werden ineinandergeschoben, prallen aufeinander, sind von Knotenpunkten aus nach vorwärts und nach rückwärts neu oder anders lesbar, machen in der sprachlichen Konkretion überraschende Wendungen, und wenn Wühr auch von reduktionistischem Avantgardismus weit entfernt ist, kann man sein Verfahren doch in dem Sinn „konkret“ nennen, daß versicherndes, mehrschichtiges, widersprüchliches Denken sich konkret und das heißt: in adäquater Syntax niederschlagen muß, weil die ‚normale‘ poetische Syntax per se eine die Wahrheit entstellende Glättung darstellen würde. Syntaktische Mehrdeutigkeit, wortspielartige Doppeldeutigkeiten und inkomplette oder abgebrochene Ansätze zu Aussagen sind das Pendant zu einander ins Wort fallenden Gedanken, der handfeste Ausdruck von Widersprüchen und Selbstwidersprüchen. und genau so wird der Prozeß des Argumentierens und Formulierens weitergetrieben.
Ergänzend zu dieser Art gedichtinterner Mehrstimmigkeit gibt es die Verteilung von Stimmen auf zwei und mehrere Sprecher, vor allem in jenem Typus gedichtförmiger Gespräche, in welchen Wühr die Größen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts reden, streiten und einander ins Wort fallen läßt: Lessing und Novalis, Seume und Mendelssohn, Hamann, Hölderlin und auch der Lessing des 20. Jahrhunderts führen Geistergespräche, in idealen Runden, deren Argumente und deren tiefe Melancholie sich aber von dem herleiten, was inzwischen mit der Dichtung und der deutschen Nation, der Aufklärung, der Staatsgläubigkeit und dem Glauben passiert ist. So tritt Wühr in einen nicht antiquarischen, sondern von den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts angeregten, fast leidend erzwungenen Dialog mit der Vergangenheit; er hält Zwiesprache mit ihnen und korrigiert sie in ihren idealen Vorstellungen mit dem Wissen, das die letzten 200 Jahre uns gebracht haben; so leistet er verschränkten Ahnen- und Enkeldienst und erreicht einige der größten Exempel dessen, was sich inzwischen selbst wieder klischeehaft „deutsche Erinnerungskultur“ nennt. Ist das „Gedankenlyrik“? Ja, den Begriff könnte man solchergestalt mit Gedichten Wührs wieder zu Ehren bringen, weil ihm dabei gelang, mit einigen ausgewählten ihm verwandten Geistern zu exemplifizieren, wie man das lebendig macht: alle je Schreibenden als immer fortlebend zu betrachten, sie in die Gegenwart hineinreden zu lassen.
So, wie ich mich wundere, daß es Sammlungen von Holocaust-Lyrik gibt, in denen kein Gedicht Paul Wührs steht, wie es auch Gedichte mit Bezügen zu Hölderlin gibt, die kein Hölderlin-Gedicht Wührs enthalten, so gibt es auch Sammlungen von Liebesgedichten der letzten sechzig Jahre, deren Herausgeber sich die Erkenntnis gespart haben, welch bedeutender Dichter der Liebe und des Sexus Paul Wühr ist, von dem Band „Grüß Gott …“ bis zu dem in diesem Jahr erschienenen Buch „Dame Gott“; allerdings ist es so verwunderlich auch wieder nicht, da die meisten Germanisten eine sehr stark am main stream dessen, was alle lesen, orientierte Lektüre betreiben; das Vorurteil, Germanisten, auch solche, die für das 20. Jahrhundert zuständig sind, seien belesen, ist in 90 Prozent aller Fälle eine Fehlannahme. Jedenfalls aber sei an dieser Stelle niedergelegt, daß Paul Wühr ein großer Dichter der – sagen wir einmal: metaphysischen wie auch der triebhaften undder heillosen wie der heillos-komischen Aspekte von Liebe und Sexualität ist, und er schließt die körperlichen Anteile noch der spirituellsten Liebe aus seinem poetischen Diskurs nicht aus. Vielleicht liegt darin das Skandalon seiner Liebesgedichte, daß es zwar bekanntlich und angeblich keine Tabus mehr gibt, aber doch die keuschen Ohren auch von Jurorinnen nicht gern nennen hören, was ihre keuschen Herzen nicht entbehren können; ich habe es, was Paul Wührs Lyrik angeht, in zwei Jurys verblüfft erfahren. Wühr denkt Glück und Liebe nie ohne ihr leibliches Pendant und adelt den blanken sexuellen Drang – Anthropologe und kein Verleugner von schmerzhaften Peinlichkeiten, der er ist – keineswegs immer durch dessen Vergeistigung ins zärtlich Geschmackvolle. Liebe hat in Wührs Gedichten immer ein materiales Substrat, das man biblisch einfach „Fleisch“ oder „Fleischlichkeit“ nennen muß. Das Großartige ist dabei aber, daß er gerade in „Dame Gott“ sich bei aller Drastik besonders eindeutig weit von allem Machohaften entfernt und das Männliche im Weiblichen und das Weibliche im Männlichen so geradezu unheimlich erkundet und ausspielt, wie es wohl keine approbierte akademisch Gender-Forschung so nuancenreich benennen könnte. „Wer“, fragt er in der Gedichtgruppe, die dem männlich Göttlichen und dem weiblich Göttlichen in indischer Gestalt nachspürt,
Wer
mußt du sein fragt Krishna
wenn dir einfallen darf
mich in Gegenwart dreier
Pfauen liebste Radha
auszuziehen man staune
über die Vielfalt von
solch intimem Wissen über
die Leidenschaften
von Fleisch und Geist
in dem du meine
weiblichen Verse zu
lesen verstehst
Schließlich aber sei eine Gruppe von Gedichten erwähnt, die eine Überraschung des neuesten Gedichtbandes „Dame Gott“ darstellen. Paul Wühr ist nun wirklich kein Naturlyriker, dazu ist er zu begrifflich verfügend, vielleicht auch zu ungeduldig für zuwartende Versenkung in Pflanzliches. Aber wie unter seinen Liebesgedichten das kleine, unendlich zärtliche Gedicht „Sanft“ auftaucht, so findet sich in „Dame Gott“ die Gedichtgruppe „Wiese“, wo sieben Blumennamen, die zugleich Frauenvornamen sein könnten, die Pflanzen so benennbar machen wie sieben Frauen – und plötzlich findet sich Paul Wühr unter den großen Blumendichtern der deutschsprachigen Literatur wieder, seine Gedichte neben den Blumengedichten von Brockes, Goethe, Rilke, Rudolf Borchardt und Ludwig Greve.
Im Gespräch mit Lucas Cejpek hat Paul Wühr vor einigen Jahren Cejpek den man weiß nicht spöttischen oder resignierten Rat gegeben: „Man darf – das möcht ich jedem Schriftsteller sagen – von den Lesern nichts verlangen – bis hinauf zu höchsten Akademikerkreisen – nichts.“ – nichts an Vorbildung, nichts an Bereitschaft, sich auf ungewöhnliche Texte einzustellen, nichts an Geduld? Nehmen wir aber einmal an, daß Wühr das ernst meinte, so muß man sagen, daß er selbst sich an diesen Ratschlag nicht gehalten hat. Einer der Standardvorwürfe an ihn muß lauten, daß er eben doch sehr viel verlangt von seinen Lesern, nicht in dem Sinn, daß er ‚verschlüssele‘ oder willkürlich entlegenes Bildungsgut einbaue, das den Zugang zu seinen Gedichten unnötig erschwere, aber doch so, daß er sich thematisch entlegene Sujets wählt, welche dann gedanklich-historische Vorkenntnisse oder fast Recherchen notwendig machten. Vor diesem Vorwurf steht man hilflos und kann nur antworten, daß die erhöhte Komplexität der gegenwärtigen Welt der Poesie auch eine erhöhte Komplexität abverlange und solche dann kein alles verkomplizierender Willkürakt, eine elitärer Bluff sei, den zu vermeiden ganz locker innerhalb der Möglichkeiten der Dichter gelegen hätte. Paul Wühr kann kein ‚populärer‘ Autor sein, er ist intellektuell unnachgiebig, es gibt nichts bei ihm zu ermäßigtem Preis, er setzt einfach das Erfordernis weitschichtiger Lektüre oder langen Nachdenkens. Und zwar zu recht. Und er gibt einem auch was den Gedichtaufbau angeht, die sog. „Form“ nicht die simple Möglichkeit, sich auf die alte Strophik oder auf die quasi-prosaische Auflockerung zu setzen, die da heißt „Freier Vers“ oder Prosa mit hübschem Zeilenbruch; er hat sich ein raffiniertes System von Zwei-, Drei- und Vierzeilern (und bisweilen sind’s sogar noch mehr zu einer Art Strophe zusammentretender Zeilen) erfunden, das fast ‚gebundene Rede‘ genannt werden könnte und das ja wirklich auf diffizile, aber beschreibbare Weise funktioniert, auf das man sich eben erst einmal ein Stück einlassen muß, um es vom Verdacht der Willkür zu befreien. Zu einem Zeitpunkt, in einem Moment der Geschichte der Lyrik, in dem Dichter mit den übernommenen Vers- und Strophenformen konstruktiv spielen oder sich immer neue Formen selbst ausdenken, also tendenziell jedem Gedicht seine höchst spezifische neue Form – gewissermaßen von innen heraus – geben müssen, hat Wühr in seinen argumentativen Gedichten mit ihren einander ins Wort fallenden Gedanken und Stimmen flexible, aber auch nicht beliebig variierbare Stopfenformen – fast müßte man vorsichtig sagen: Zeilengruppenformen sich erfunden, welche sich die neue Verslehre der deutschen Literaturwissenschaft ruhig einmal näher ansehen sollte, früher hätte man gesagt: deren „innere Form“, die spezifische Form ihres Ausgewuchtetseins sie erkunden sollte. Ich muß jedoch zugeben, daß die Lehre von Versmaßen und subtileren Sprachrhythmen im Moment aber schon gar keine Konjunktur hat, obwohl von Paul Wühr über Thomas Kling bis zu Anja Utler beispielsweise höchst interessante neue Beispiele von Sprachrhythmik vorliegen, von den Kadenzen, die Ernst Jandl uns geschenkt hat, gar nicht zu reden.
„Had we but world enough and time …“, läßt Andrew Marvell in seinem berühmten Gedicht „To his coy mistress“ den Liebenden seufzen – hätten wir mehr Raum und Zeit, so wäre jetzt zu reden vom Bricollagisten Wühr, der kulturhistorisches Material in Fülle heranschafft, um uns einen poetischen Begriff zu verschaffen von jener Epiphanie, in der „der weibliche Gott erscheinen könnte“, diese letzte Utopie Paul Wührs. Ist Gott als Dame denkbar, ist er oder sie dergestalt wünschbar? Allerdings: selbst für den Skeptiker steht fest, daß in der Reflexion auf die vielleicht schon vergangene Denkfigur Gott höchste, reichste Poesie anschießen und sich kristallisieren kann. Die Grundannahme „Gott“ mag vergänglich sein; die daran und daraus sich entwickelnde Kultur und speziell Poesie ist über Jahrtausende bekanntlich alles, was uns übrig blieb – und so auch bei Paul Wühr. So daß also in diesem Sinn Wührs theologische Obsession nicht nur ‚ein Erdenrest, zu tragen peinlich‘ ist. Der so reich ausfaltbare Unterschied von Wührs denkpoetischem Unternehmen und etwa den kruden Forderungen einer feministischen Theologie liegt darin, daß Wühr nicht einfach „Herr Gott“ durch „Frau Gott“ ersetzt und das dann lyrisch durchdekliniert, sondern daß subtil ironisch gewendet von der „Dame Gott“ die Rede ist, also von einer Frau von Achtbarkeit und Eleganz, wobei auch in Wührs Poesie die entzückendsten Momente bei und mit dieser Dame natürlich die sind, in denen sie ihre Damenhaftigkeit ablegt …
Lassen sie mich, nachdem ich ohnehin so vieles weglassen muß, was zur Laudatio auf Paul Wühr eigentlich unbedingt gehörte, mit einem Bekenntnis schließen … mit Wührs verdrehtem Bekenntnis zum Geld, einer Eloge auf das Geld, einem sarkastischen Anerkenntnis der strukturalen Rolle des Geldes, ein höhnisch-affirmatives Stück Nationalökonomie, ein wahrhaftes Lehrgedicht, und zugleich wieder eine Bricollage von Zitaten aus der Ecke Hegel, Marx, Ricardo, versetzt mit Sprüchen, die noch böser klingen als Milton Friedman und die doch analytisch präziser benennen was los ist als die simple moralische Empörung darüber; das beginnt mit „Geld // ist der König Es setzt sich alle Tage die Krone / selbst auf zu seiner // Anerkenntnis bedarf es keiner Negationen …“, und endet so höhnisch wie realistisch, in einer irritierenden Schwebelage, mit dem Satz: „alle // Menschen sollen thronfähig werden. Das richtige / Mittel zu diesem Ziel / ist das Geld“. Was ist das, ist es nur „tongue in cheek“ gesprochen, Lehrdichtung als Farce, oder ein extensives Ideologem, das doch bitte nicht ernst gemeint sein kann? Was es aber bestimmt ist: eines der wenigen modernen Gedichte über einen so essentiell abstrakten Gegenstand wie: das Geld, ein Gedicht, das jenen Kampf aufnimmt mit einem Objekt und Sujet, bei dem sechzig Jahre früher Ezra Pound unterlegen ist.
Warum habe ich am Ende in Rätseln gesprochen und noch nicht einmal sagen können, in welchem Sinne man dies – da habe ich keinen Zweifel: große – Gedicht ernst nehmen soll? Antwort: Erstens natürlich, weil ich erwarte, daß Sie so bald wie möglich in die nächste Buchhandlung oder Bibliothek stürzen, um zu sehen, was da auf den Seiten 552 folgende von „Salve res publica poetica“ wirklich steht und sich klar überfordert fühlen, aber beeindruckt von dem Ernst dieses Tons. Und zweitens um Ihnen ein konkretes Beispiel dafür zu geben, was für eine Arbeit das Verstehen von Paul Wühr erfordert. So rücken dann am Ende zwei Bayern ganz eng zueinander. Karl Valentin nämlich sagt: „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.“ Paul Wühr aber sagt cool, seufzend und froh: „Ich hatte immer Stoff, immer Arbeit. Das Arbeitsverhältnis mit der Poesie hörte nie auf.“ Und ich sage: Das soll auch gar nicht aufhören, du mußt weiterarbeiten, leider oder Dame Gott sei Dank.
Jörg Drews: „Laudatio auf Paul Wühr“. In: manuskripte. 2007. H.177. S.144–150. (Zur Verleihung des Ernst-Jandl-Preises).