Jörg Drews: „Authentisch“, das heißt: künstlich. Zu Werner Fritschs Texten und Hörtexten Sense und Jenseits
Seine Romane, Erzählungen und Theaterstücke, sagt der in Berlin lebende, aus der nordbayerischen Oberpfalz gebürtige Werner Fritsch vom Jahrgang 1960, sprächen davon, wie Gewalt und Gesellschaft uns deformieren, „wie Geschichte sich – und uns – niederschlägt“. Wenn die Schauplätze der von Fritsch erzählten Lebensgeschichten in der Gegend von Flossenbürg und Grafenwöhr, auf dem Land und in Kleinstädten, 10 Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt liegen, dann kann es nicht jugendfrei und feinsinnig zugehen; da ragt die deutsche Geschichte, von der Teilnahme am Russlandkrieg bis zum Konzentrationslager und dem Truppenübungsplatz ins Bewusstsein der Figuren hinein und das ergibt dann ein in der gegenwärtigen deutschen Literatur ungewöhnliches Gemisch: Da leben Leute mit Resten bäuerlich-katholischer Mentalität, die noch mit den Jahreszeiten leben und religiösen Bräuchen noch nahe sind und doch schon zynisch rechnen müssen mit agrarpolitischen Fleisch- und Milchprämien; der Mann geht ab und zu in die Bar „National“ am Rande des besagten Truppenübungsplatzes und die Frau kennt noch besonders wirkungsvolle Gebete, liest Traktätchenliteratur und nimmt an Bittprozessionen teil, während andere aus derselben Gegend schon in das Gravitationsfeld von Konsum und Drogen und Prostitution geraten sind.
Werner Fritsch lässt einen einzelnen aus dieser Gegend, einen aus der älteren Generation des „christlichen Landvolks“ (als dessen Angehöriger der Protagonist sich halb stolz, halb depressiv seinen Abstieg ahnend empfindet) reden; wir hören einen dramatischen Monolog, ein Selbstporträt des Lukas Schnurrer und einen blutigen Schwank zugleich, vom Protagonisten vor sich hin gebrummt, vor sich hin gebruttelt und gegrantelt, renommierend und dann wieder mit einer Stimme gesprochen, als gelte es, der ganzen Welt grob und schnarrend zu bedeuten, wo’s lang geht. Seit 1992 der schmale Prosaband Sense und kurz danach, mit Hans Brenner als Sprecher und in der Regie von Norbert Schaeffer, ein monologisches Hörspiel daraus wurde, verfolgt mich dieser Text, begeistert und beunruhigt mich dieser Monolog, und jetzt kann ich ihn gedruckt kaum noch lesen, ohne die Stimme Hans Brenners im Ohr zu haben. Nur noch zwei andere Texte erfahre ich sprachrhythmisch-körperlich so intim, den inneren Monolog der Molly Bloom aus James Joyces Ulysses, in dem ich mich bestrickt und lachend treiben lassen kann, und das mürrische und zwischendrin wieder aufgeheiterte Selbstgespräch des alten Krapp in Samuel Becketts Krapp’s Last Tape, das ich nur mit zustimmend meckerndem Gelächter begleiten kann. Ähnlich bringt mich Sense unmittelbar zu nachahmendem Mitsprechen, fordert meine Lust an der Mimesis heraus, am Nachbilden von Satzverläufen und leicht dialektal eingefärbten Klängen einzelner Wörter, denen nachzuhören und die nachzusprechen besonderes Vergnügen macht, gerade weil es nicht mehr alltägliche Wörter sind.
Ist dies also das, was man „Identifikation“ des Hörers oder Zuschauers mit einem Text nennt? Wahrscheinlich, doch dann bedeutet das kaum, dass ich mich mit Schicksal oder Charakter des Lukas Schnurrer ‚identifiziere’; mein Einfühlen, mein Einschwingen bezieht sich gewissermaßen nicht oder nur indirekt auf den ‚Inhalt’, sondern weitgehend auf den Verlauf, die ‚Kadenz’ der Sprache, auf das, was Gerard Manley Hopkins die ‚inscape’, die Innengestalt des Kunstwerks genannt hat. Denn der Schnurrer Lukas – ich kann ihn nicht immer standesamtlich korrekt und hochdeutsch Lukas Schnurrer nennen – ist ja weitgehend ein Unsympath; darf man für den Kerl eine Art Zuneigung entwickeln? Was bedeutet es, wenn ich ihn auf eine politisch ganz ‚unkorrekte’ Weise eben doch sympathisch finde, und wenn nicht sympathisch, dann doch beeindruckend, so beeindruckend wie bei Shakespeare Richard III., der „als Schurke“ eben Format hat und bei dem wir auch nicht nach jedem zweiten seiner Sätze moralische Abscheu äußern; vielmehr fast Lust habe, ihn beim kraftmeierischen Daherreden erst mal gewähren zu lassen. Damit Wahrheit zu Tage komme, damit nichts tabuisiert wird, damit die Leisetreterei nicht unter dem Deckmantel der Moralität weiter geht, damit alle Schichten der Persönlichkeit des Schnurrer und solcher Personen überhaupt und vielleicht sogar von uns allen sich zeigen dürfen – das ist, denke ich, Grund und Rechtfertigung der Lust, die man an den Geständnissen, Rodomontaden und Klagen des Schnurrer Lukas haben kann. Im Bayerischen steckt das in der Bezeichnung von einem Mannsbild als einem „Hund“; es meint, dass einer wie der Luck jenseits des Moralischen als Spitzbube und als Grobian dann doch Format hat, was eine unerlaubte Bewunderung provoziert …
Und ‚vielschichtig’, wie man so sagt, ist der Schnurrer Lukas nun wirklich, es geht auf eine allgemeine Weise wirr zu im Kopf dieser so naturalistisch wirkenden Kunstfigur. Das für den Luck spezifische ungeschlichtet Wirre seines Bewusstseins hat mit seinem Leben und seiner Zeitgenossenschaft zu tun, mit dem Aufwachsen im Dritten Reich, in dem ihm der Nationalsozialismus und die Menschenverachtung eingetrichtert wurden, und viel von damals ist immer noch in ihm; wer hätte es einem, der in ländlichen Verhältnissen in den späten achtziger Jahren als etwa Siebzigjähriger lebt, auch austreiben sollen? Politisch könnte er fast so gut zum rechten Flügel der CSU gehören wie aber auch, als Landwirt, zu den Grünen. Die Vergiftung der Landwirtschaft durch die Überdüngung und die Lügen über den Agrarmarkt und über die besondere Sorge der CSU für das „christliche Bauernvolk“ durchschaut er ja, aber aus dem Klischee der „Moskauhörigkeit“ der Grünen kann sich das Denken in so einem Bauernschädel natürlich nicht lösen; also lässt er bisweilen den alten, nur noch vernagelt-lächerlichen Hassphantasien auf Minoritäten ihren Lauf.
Und seine Sexualphantasien haben auch immer noch ein erhebliches Ingrediens des Landserhaften, mehr als nur eine gewisse Lust an Deftigkeiten; doch genau an dieser Stelle fragt sich’s wieder, wo denn bei einem auf dem Land und dann beim Militär und danach wieder in vielen Jahren auf dem Land eine andere Sprache herkommen sollte, ein anderer Blick? Was er an Lust erlebte und wessen er Zeuge wurde im Lauf des Krieges, ist ja wohl nicht anders als gröblich zu benennen, und andererseits ist der ‚miles gloriosus’, der großmäulig von Helden- und Sexualtaten daherredende Soldat auch schon eine alte literarische Figur, die entsprechende nicht salonfähige Drastik und Komik eingeschlossen. Und nicht zu überhören ist das Element von zärtlichem Respekt, den er vor der Frömmigkeit seiner Frau hat, obwohl er selbst sich doch was drauf zugute hält, dass er ein Zynisch-Aufgeklärter ist.
Wäre der Schnurrer Lukas moralisch eindeutig klassifizierbar, wäre er nicht so faszinierend. Er ist aber ein Mischkrug, er ist ein Mensch mit seinem Widerspruch, zeitgeschichtlich gesprochen: eher ein Täter als ein Opfer, aber hatte er denn je die Chance, etwas anderes zu werden als das, was er ist? Also dämmert ihm, dass es eigentlich ein Verbrechen war, die jungen deutschen Buben („mutterseelenallein“, wie er sagt) als Soldaten in die Weiten Russlands zu schicken – was hatten die denn da „tief im Feindesland“ zu suchen? Und gleich daneben steht das Geständnis, dass dort, wo er war, ganz in der Nähe Juden gehenkt wurden, barsch und starr zu Protokoll gegeben; es passierte eben, und das nahm man – das heißt: auch er – einfach hin, weil man glaubte, dass deutsche Scheiße die „feinere Scheiße“ als andere Scheiße sei, und überhaupt andere Völker von vornherein Dreck. Schnurrer ist häufig ganz nahe dran an einer Einsicht, die dann auch Folgen für seine Sprache und sein Handeln haben müsste, aber dazu langt es dann wieder nicht. Und weil dies alles in ihm nie recht sortiert und geschlichtet wird, liegt in ihm eine ungerichtete Aggressivität gegen alle immer bereit: gegen Ärzte, Schwestern, Politiker und insbesondere Grüne, gegen Frömmler und Tschechen usw., und weil er nicht dumm ist, durchschaut er, wie die ganze Sache mit der vergifteten Wurst und dem Kraftfutter aus versauten Tierknochen und dem überdüngten Boden funktioniert und nimmt es realitätsgerecht einfach hin, weil ja auch sein Hof von der „Milchquote“ profitiert.
Wie dies alles aber im Schnurrer Lukas drin ist, nebeneinander steht und nicht homogenisiert wird, deutet die Regie in der Hörspielversion des Textes akustisch auch an, indem Hans Brenner als Schnurrer mit immer wieder leicht veränderter Stimmlage, mal gestelzter und mal plaudernder, mal als Bonhomme und mal als Altnazi, mal leiser, mal lauter, mal die Sprechweisen anderer höhnisch nachahmend spricht, und damit kommt nicht einfach ein in sich einsinniger Monolog, ein leises dauerndes Selbstgespräch, sondern eher so was wie eine Aneinanderreihung von Fetzen längerer Selbstdarstellungen und Selbstrechtfertigungen, Angebereien und fast Volksreden zustande: das Element von Diskontinuität wird – auch durch die Technik der akustisch und syntaktisch „harten Schnitte“ – stärker betont, und die wechselnden Tonfälle suggerieren fast, dass sich da einer immer wieder anders auf Zuhörer, vielleicht nur imaginäre Zuhörer einstellt, Zuhörer, die er, der Schnurrer, vielleicht gerne hätte ,damit er groß’ rauskommt mit seinen Erfahrungen und seiner Weltsicht. In dem sparsamen Einsatz von einigen Geräuschen und einigen wenigen, leitmotivartig wiederholten Fetzen Musik, die Peter Zwetkoff schräg und schneidend auskomponiert hat, und in den immer wieder leicht verschobenen klanglich-sprachlichen Neuansätzen in Brenners Sprechweise scheint mir die unaufdringliche Effektivität zu liegen, mit der Norbert Schaeffers Regie dem Text gerecht geworden ist. Ja, er hat, wie man so sagt, ganz „wenig gemacht“ mit dem Text, hat ihn gewissermaßen gar nicht inszeniert, hat ihn auch nicht mit landwirtschaftlicher Geräuschkulisse aufgepeppt, sondern nur mit einigen Stücken von Nichtsprachlichem interpungiert; dass der Text aber dennoch trägt und gegen viel aufwendiger inszenierte Stücke sich bei der Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden 1993 durchsetzte, spricht nun wieder für die sprachlichen Fähigkeiten Werner Fritschs, für seine Kunst, alle Sätze bis in kleinste Details zeitgeschichtlich und poetisch aufzuladen.
Die Konfession und Suada des Luck hält eine Balance zwischen Naturalismus und Stilisierung; sein bilderreicher Erguss hat einen Gestus, der immer einerseits auf Authentizität und fast ‚Originalton’ hindeutet, andererseits aber den Verlauf in gestauchte kurze Phrasen – Sätze, Einwürfe, Zwischenbemerkungen, nächste Erzählschritte – gliedert, so dass eben keine glatte Suada entsteht. Was da zustande kommt, ist eine Mischung aus angestrebter Nicht-Alltagssprache (der Schnurrer Lukas will abschnittsweise schon ein bisschen bedeutsamer, vornehmer sprechen) und – gerade auch, wenn stärkere Affekte ins Spiel kommen – alltäglicher Regionalsprache, nicht Dialekt, sondern mit Benutzung einzelner regionaler Vokabeln und vor allem einer Syntax, die als Syntax etwas anderes als literarische Hochsprache signalisiert. In dieser Hinsicht steht Werner Fritsch in der Tradition derer, die in der Literatur des 20. Jahrhunderts ‚das Volk’ sprechen lassen wollten, aber wussten, dass das Volk, wie Bert Brecht sagte, „nicht tümlich“ ist, dass Volksnähe in der Literatur synthetisch hergestellt werden muss, von Marieluise Fleißer bis Franz Xaver Kroetz.
Bei Fritsch wiederholt sich, aber spitzt sich auch noch weiter jene Frage zu, die vielleicht zu wenige Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur bewegt: Von wo her könnte eine heutige Literatursprache gewissermaßen Zufuhr erhalten, Leben, Frische, anderes Vokabular, nicht medial ausgeleierte Syntagmen und Kadenzen, wenn sie also der zivilisatorischen Alltagssprache, dem allgegenwärtigen Jargon aus dimensionslos flacher Verständigung und mikrozephaler Sprache der Werbung entkommen, etwas anderes neben das glatte Zivilisationsgeflisper stellen will? Wenn Literatur und also auch die Sprache der Literatur unsere Existenz als halt nicht nur irgendwie passierend darstellen, sondern reflektieren will, woher bezieht sie dann Bilder und Vokabeln, Denkbilder und Satzmuster? Nur aus Informationstechnologie, Popkultur und Film, da ja Bibel und Bildung nicht mehr zur Verfügung stehen? Welche Restbestände von religiöser und Natur-Erfahrung wären noch da, die eine nicht ganz so abgeflachte Form existentialen Sprechens ermöglichten? Werner Fritsch hat in seinem Roman Cherubim von 1986 seine Erzählsprache angereichert mit Vokabeln und Bildern einer naturmagischen, sozusagen noch frommen Sprache, gesellschaftlich retrograd, menschlich gesehen aus einem so ungebildeten, fast debilen, wie aber auch verschmitzten Gehirn, und er hat in seinem Prosastück Stechapfel (1995) versucht, so etwas wie eine Legende aus den Restbeständen religiöser Sprache hinzukriegen; mir scheint, dass er in Sense die ruppige und leicht dialektal eingefärbte ländliche Sprache seiner Heimat sozusagen angepumpt hat, etwas von ihrem Rhythmus in die Erzähl- oder eher Selbstdarstellungssprache des Schnurrer Lukas überführt und mit Zutaten aus der Soldaten-Vergangenheit seines Protagonisten nicht gegeizt hat und dennoch eben nicht im Naturalismus gelandet ist. Überhaupt weiß man beim Lesen und Hören vom Schnurrer Lukas immer, dass er eine Kunstfigur ist, sozusagen eine in jedem einzelnen Moment überzeugende, glaubhafte, beglaubigbare Figur, die gedeckt ist von unserer – näheren oder ferneren – Kenntnis deutscher ländlicher Milieus, die aber als ganze eine zusammengesetzte, eben eine nicht ‚aus einem Guss’ ist. Vielleicht ist die Figur des Luck auch deshalb so sympathisch und anrührend, weil seine Wirrnis im Kopf (und damit komme ich noch einmal auf das am Anfang Gesagte zurück) eigentlich die von uns allen ist. Denn wenn der Luck von der modernen Welt dauernd überfordert ist und sich im Grunde weder Tschernobyl noch Alkem noch Nukem noch auch die Milchquote in der EU erklären kann so geht es ihm doch nur lachhafterweise so, wie es uns allen, auch wenn wir ein bisschen ‚gebildeter’ als der Luck wären, angesichts der Komplexität der Verhältnisse geht, die wir alle heute zu verstehen gefordert sind – und dabei tappen wir in einem Meer des Unverstandenen herum, weil wir einerseits zu wenig informiert sind, andererseits mit der Informationsflut nicht mehr fertig werden können. Eigentlich verknüpfen wir die Bruchstücke unseres Weltverständnisses nicht weniger assoziativ wie der Schnurrer Lukas, der vom Steinpilz und dem Blaupilz zum Atompilz gleiten kann, seine Wissenslöcher dann obendrein noch mit ein bisschen Aberglauben stopft und im übrigen das Wort „Osten“ ineinander übergehend einmal als Russland, dann als etwas Quasi-Religiöses und dann wieder als Synonym für Tschernobyl (durch allgemeine Richtungsangabe) versteht, wobei das für ihn ein „Feuer“ ist (was es ja auch war, obwohl eben ein abstrakteres Feuer …), was ihn zwanglos aber wieder auf das Niederbrennen russischer Dörfer durch die deutsche Wehrmacht bringt, und da kennt er sich aus … Wahrscheinlich gleicht unser – vielleicht besser informierter, besser ausgebildeter – Bewusstseinsstrom doch ziemlich dem des Schnurrer Lukas, enthält entsprechend bizarres und unvornehmes und traumatisches Material wie die Brüste von Schnurrers Ukrainerinnen und die Köpfe von Landsern auf Pfählen als Schießscheiben und die Obsession mit seinem Rex.
Die Rex-Story wäre übrigens leicht herauslösbar aus dem ganzen Angeschwemmten-Erzählten, und dann wäre sie in ihrer Kahlheit so etwas wie eine blutige Posse, die Geschichte der Sozial- und Psychodynamik eines Dorfes, und der Rex wäre dann nicht viel anderes als der Schnurrer selbst: nämlich einfach ein (armer?) Hund oder doch ein Untier? – so, wie der Schnurrer ein Täter und ein Opfer zugleich ist, dessen Tierliebe sehr nach pervertierter Menschenliebe klingt: Der Rex hat „eine Seele wie keine andere im Dorf“, und deshalb könnte gerade er Opfer Satans geworden sein, der an einen Menschen wegen eines starken Abwehrzaubers nicht herankam und sich deshalb auf einen armen Hund stürzte, der prompt Krebs bekam … Und wenn man sich so auf das Dorf einlässt, ist man mitten drin in dem Gemenge von Wissen und Aberglauben, von Frömmigkeit und Mordlust, von Zärtlichkeit und Paranoia, welches wir ‚Dorfleben’ nennen.
Die schönste Qualität von Werner Fritschs Hörspiel ist vielleicht, dass es einen dazu verführt, nicht gleich hochmoralisch das Erzählte, das vom Selbstporträtisten Lukas Schnurrer Gebotene abzuwehren und abzuqualifizieren, sondern sich „in fremde Finsternis“ zu versetzen und erst einmal vorbehaltlos zuzuhören, vorbehaltlos Menschen kennen lernen zu wollen. Sogar der Schnurrer hat ja Momente, in denen er – zumindest beinahe – „des Zusammenhangs zwischen eigenem Herzen und historischer Mördergrube“ (Werner Fritsch) gewahr wird. Fritsch bevormundet seine Figuren nicht, und er bevormundet auch seine Leser nicht. Er weiß wie Büchner, dass der Mensch ein Abgrund ist, und wenn man hineinblickt, schaudert’s einen; aber das Risiko, bei solchem Hineinblicken auch Unangenehmes wahrzunehmen, muss man schon auf sich nehmen.
Das gilt in noch verschärfter Form dann auch für den zweiten dramatischen Monolog von Fritsch, den im Jahr 2000 geschriebenen und produzierten Text Jenseits. Hier wird der grobe Scherz von Sense ins Entsetzen getrieben; die Elemente von ländlichem Schwank werden gesteigert zu den blutigen Ingredienzien einer existenziellen Katastrophe: Wolfram „Sexmaschine“ Kühn kriegt im Leben seine Chance nicht, probiert, sie dennoch zu nutzen, und endet als Wrack. Wem erzählt er seine Story, unter welcher Bedrohung schreit er seine Lebensgeschichte heraus? Im Irrenhaus? Von Figuren aus dem Rotlichtmilieu in die Zange genommen? In Paranoia, kurz vor dem Selbstmord, vor dem Empfang der Kugel, die er sich von sich selbst erbittet? Die Mutter Alkoholikerin, der Vater Russlandheimkehrer, der Traum von einer Ausbildung zum Maler nicht realisierbar, den Härten einer Metzgerlehre unterworfen, in Liebesdingen unerfahren und schwach: ein Romantiker. So einer kommt natürlich unter die Räder, kommt plötzlich neben zwei toten und verstümmelten Frauen zu sich, wird des Mordes verdächtigt und kann nur verwirrt vor sich hin redend sich Rechenschaft über sein verwirrtes Leben zu geben versuchen. Wir hören – von Sepp Bierbichler nicht in Dialekt, aber in dialektal gefärbter Sprache intoniert, rau, verstört und flehend gesprochen – einen Monolog von grausiger Härte, das Erklärungs- und Selbsterklärungsgefasel eines (wiederum, nur viel extremer als in Sense, wo ja noch etwas Platz war für Elemente einer ländlichen Posse) armen Hundes, einer kaputten Seele, der auf Erden ihr – falls es so etwas gibt; aber aus dieser Annahme bezieht die klagende Suada ihr Pathos! – göttlich Recht nicht wurde. Ein frommer Bub will Kirchenmaler werden, doch die Verhältnisse, die sind nicht so, also panzert er sich so lange mit Härte, bis er auf einen trifft, der skrupelloser ist als er und den Panzer zerkrachen lässt.
Die finstere, so vulgäre wie pathetische Gewalt dieses Monologs entspringt nicht zuletzt der Schwebe, in der der Realitätsgrad des Vor-sich-hin-Geredeten bis zuletzt bleibt: der Kerl, der Wolfram Kühn, ist vielleicht so realitätsuntüchtig, dass sein Gegenspieler ihm sogar noch die beiden Morde anhängen kann … Oder er dämonisiert seinen immer wieder angeflehten oder verfluchten Gegenspieler, und die Morde passieren noch auf ganz andere Weise, nur kapiert das der kranke Wolfram Kühn nicht mehr, der beim geringsten Zeichen von Aufbegehren doch nur mit Beruhigungsmitteln niedergespritzt wird. Dies alles ergäbe schließlich nur ein Horrorkabinett aus „Sex and Crime“ in der Oberpfalz (und in Thailand, falls die entsprechenden Passagen nicht nur exotistische Wunschträume sind), ein grelles Tableau aus dem Rotlichtmilieu der Provinz, wäre da nicht die kaum genug zu rühmende Kraft der Sprache. Sie reicht von der Zärtlichkeit unter Liebenden über angeberische Machismen bis zum brutalsten Zuhälterjargon, von der Zote bis zur Mystik, von jäh-sarkastischen Wortspielen bis zur entrückten Beschwörung einer Liebe, die zu rein ist für diese Welt und die sich selbst zerstört. Das ist wohl überhaupt die wichtigste Leistung von Werner Fritschs Literatur, dass seine Sprache sich nicht nur aus dem jetzigen gemeinhochdeutschen Umgangs- und Mediensprachmix speist, sondern – um es noch einmal etwas anderes zu formulieren – zu ihrer Kräftigung, ihrer Färbung, ihrer Nuancierung aus den verschiedensten weiteren Registern, vor allem auch regionalen Vokabelregistern genährt wird. Dieses regionale Element in seiner Sprache, die eine scheinbar fast naturalistische, in Wirklichkeit aber selbst wieder hoch artifizielle synthetische Sprache ist, raut sie auf, erlaubt Sätze und Satzfetzen, Tempi und Modulationen, die im Hochdeutschen gar nicht möglich wären; Fritschs Sprache – oder genauer: die Sprache, die er seine Figuren haben lässt – steht nicht einfach auf dem Blatt, sondern liegt im Maul, und wie sie gelesen und – stumm sie nachvollziehend oder laut sie aussprechend – gesprochen werden kann, davon geben sowohl Hans Brenner wie Sepp Bierbichler, die (quasi) Rezitatoren in den Aufnahmen von Sense und Jenseits perfekte, lebendige Beispiele.
Werner Fritsch ist dabei, einer Region, der Oberpfalz, der Gegend um Weiden und Tirschenreuth, Waldsassen und der Grenze zum früheren Böhmen, zum heutigen Tschechien ihre literarische Repräsentanz zu geben, und dies eben nicht nur auf der Ebene und mit den Mitteln von Regionalliteratur, sondern mit der Raffinesse von Hochliteratur und in Kenntnis der avanciertesten Verfahren von Bewusstseinsdarstellung. Da wird ein ganz und gar unidyllischer, von schwersten gesellschaftlichen Verwerfungen nicht verschonter, von Gewalt durchtobter Provinzkosmos hingestellt und von Buch zu Buch, und das heißt nun auch: von Hörversion zu Hörversion auf CDs ergänzt – ich sage „Hörversion“, um jedenfalls an dieser Stelle mir die Diskussion zu ersparen, in wie fern es sich hier um „Hörspiele“ in einem alten oder neuen Sinn handelt; sicher ist, dass die Texte wie die Aufnahmen die Wirkungsmächtigkeit von hervorragenden Hörspielen haben. Zuerst war da Werner Fritschs Romanerstling Cherubim, 1987 als Buch erschienen, dann 1998 vom Südwestrundfunk unter der Regie von Norbert Schaeffer mit Helmut Vogel als Sprecher produziert (erschienen 2002 im Hörverlag); 1992 kam dann das Prosastück Sense, dessen Hör-Variante wir auf der vorliegenden CD haben, und nun liegt, parallel zu Sense, auch die Aufnahme der Klage des Paranoikers Wolfram Kühn nicht nur als Prosatext, sondern in aller Sinnlichkeit als großes Stück Hörliteratur vor. Wie die Dramen Fritschs vom Wondreber Totentanz bis zu Die lustigen Weiber von Wiesau und ein künftiger Roman Seraphim sich in dieser literarischen Landkarte der Oberpfalz platzieren werden, brauchen wir hier nicht zu erörtern, können es auch noch gar nicht. Den Höllensturz zu Dornbach, das alte Gemälde in der Kirche des Nachbardorfes wollte der Wolfram Kühn malen, und jetzt ist er nur ein stockend seine Passion beklagendes menschliches Partikel in einem Höllensturz von Verdammten, Freaks, Junkies und Abschaum, in einem „Jenseits“ aller Rettung, auch als Figur jenseits allen so genannten guten Geschmacks und eigentlich schon von weit her, aus dem Totenreich, aus dem Jenseits sprechend.
Jörg Drews: „Authentisch“, das heißt: künstlich. Zu Werner Fritschs Texten und Hörtexten Sense und Jenseits. In: Booklet Werner Fritsch: „Sense“, Jenseits“, 2 CD, Laufzeit ca. 152 Minuten, ISBN 3-89940-033-X, Produktion: Südwestfunk (jetzt Südwestrundfunk) Stuttgart/Bayerischer Rundfunk, 1992/Südwestrundfunk Stuttgart 1999, Sprecher: Hans Brenner und Josef Bierbichler, Regie: Norbert Schiefer.