Jörg Drews/Klaus Ramm: das ist ja entsetzlich. Verdoppelte Bemühung, sich über Konrad Bayer verständlich zu machen.
Jörg Drews:
Es ist nicht so, daß soziale Entwicklungen am Status des Individuums etwas geändert hätten; ganz im Gegenteil haben die Naturwissenschaften die Zurücknahme des Postulats metaphysischer Freiheiten und der damit verbundenen Vorstellung von der Möglichkeit einer Individualität erzwungen, die der Rede wert wäre. Die Unfruchtbarkeit der soziologischen Diskussion zeigt, auch sie ein Erbe des Problems, daß dafür nur auf dem Niveau der Naturwissenschaften Entscheidungen zu erwarten sind, und daß sich die Kunst dorthin wird begeben müssen, wenn sie ihr kleingewordenes Feld behaupten will. Experimentelles Schreiben ist Forschung geworden, ein Versuch, Modelle des menschlichen Verstehens zu erlangen, die ohne Isomorphien von Zeichensystemen und inhaltlichen Zusammenhängen Kritik der formalen Kommunikationstheorien geworden… (Oswald Wiener, Einiges über Konrad Bayer. DIE ZEIT, 17.2.1978).
Ich glaube nicht, daß die Beunruhigung Bayers sich sozusagen passenderweise in Sprachphilosophie, Verstehenspsychologie oder Überlegungen zur artificial intelligence hätte auflösen sollen oder können oder sich heute darin auflösen würde. Bayers zunehmende Sprach- und Kommunikationsskepsis hatte, wenn man ihr schon in ihr selbst nicht rechtgibt, dann eher konstitutionelle Gründe; narzißtische Kränkungen plus hohe Intelligenz: diese Kombination erklärte da einiges. Umgekehrt: ob sich etwas, was man ,existenzielle Beunruhigung‘ nennen könnte, durch Naturwissenschaften und ihre Ergebnisse je auflösen wird, scheint mir fraglich. Daß sich wissenschaftlich angeleitete Schreibpraxis je erfolgreich an emotional-affektiven Befindlichkeiten abarbeiten wird, scheint mir nur denkbar, wenn große Teilbereiche dessen, was Existenz und Bewußtsein ausmacht und affiziert, außerhalb der Literatur gelassen werden. Vielleicht taucht aber hinter solchen Einschätzungen der Möglichkeiten von Literatur, hinter dem Widerspruch zur Literaturkonzeption Wieners das Dilemma auf, daß bestimmte Schreibpraktiken theorielos weiter kommen als andere, die hinter einer Theorie von Literatur herrennen, die sie in der Schreibpraxis nicht mehr einholen können. Hinter Wieners Aufsatz über Bayer scheint mir ein Interesse zu stehen, das der Theorie und der Lebenspraxis eher gilt als der Literatur. Allerdings: vielleicht mit guten Gründen.
Klaus Ramm: Avancierte Theorien von Literatur weisen heute als ein wesentliches Merkmal von Literatur ihre Inkommensurabilität aus, ein Gradmesser für qualitative Intensität oder für elitäre Irrelevanz, je nach ideologischem Standpunkt. Inkommensurabilität ist auch ein wesentliches Merkmal der Literatur, die ich besonders schätze. Bayers Literatur gegenüber – die ich sehr schätze – werde ich von dieser Prämisse her unsicher, so umstandslos kann ich sie nicht mehr halten. Haltbar ist sie vielleicht nur noch in ihrer Umkehrung: immer mehr verstärkt sich der Eindruck, daß bei Bayer die Literatur gar nicht das Inkommensurable ist, sondern daß meiner gewöhnlich alltäglich (in Grenzen natürlich) verfügbaren Wirklichkeit das – unter anderem ja auch ästhetische – Prädikat der Inkommensurabilität viel eher zusteht. Unter diesem Eindruck erweisen sich die Texte Bayers immer mehr als kommensurabel. Dagegen spricht nicht die Tatsache, daß Bayer – wie die anderen Autoren der Wiener Gruppe und wenige andere – ganz und gar aus der Einsicht heraus Literatur gemacht hat, daß die geschriebene oder aufschreibbare oder sagbare Formulierung ohnehin nicht die Vorstellung, den Gedanken oder wie immer das zu formulieren ist, auf das sie sich beziehen soll, auch nur annähernd wiedergeben oder rekonstruieren oder anderen verständlich machen kann. Diese Art von Inkommensurabilität des literarischen oder des gewöhnlichen Sprechens, so grundsätzlich sie ist, meine ich jetzt nicht, auch wenn sie ein Bild sein mag für das, was ich meine, ein Bild aber an einer anderen Stelle. An einer Stelle, an der ich auch nicht weiter weiß. Natürlich kann ich mich selbst nicht ausnehmen. Auch in mir trifft der Gedanke auf etwas, was ihn – schon vor der Problematik der Formulierung – verunklärt.
aus der selbstbeobachtung kam allmählich die vorstellung, ,ich‘ könnte nichts weiter als eine fortsetzung der konventionellen formen der mitteilung in ein biologisches substrat des verstehens hinein. meine ,persönlichkeit‘ nichts als die front sein, an der die klischees der kommunikation auf biologische gegebenheiten (um nicht zu sagen: biologische klischees) stossen. (Oswald Wiener, Nachläufiges zum Werk Arno Schmidts. Gedanken. 25.10.1979).
Von solchen Positionen her müßte ich das rigide mechanische Funktionieren der Texte Bayers zu erklären versuchen. Etwas anderes als die Sprache funktioniert nicht, ist jedenfalls kaum zu steuern und so gut wie gar nicht zu kontrollieren. Deshalb greifen, müßte ich folgern, alle Überlegungen, wie brillant auch immer, zur Sprach- und daran sich anschließenden Kommunikationsskepsis bei Bayer zu kurz. Die Sprache ist vielmehr das einzige, was in Kommunikation soweit manipulierbar ist, daß sie funktionieren könnte, wenn man die Arbeit nur an ihr weit genug treibt und seine sprachlichen Verfahren in immer wieder neuem Ausprobieren zu perfektionieren sucht. Von hier aus könnte ich Ansätze zur Beschreibung des Experimentellen und Ansätze zur Erklärung des Fragmentarischen bei Bayer finden. Und Argumente gegen die landläufige Ansicht, Autoren wie Bayer überschätzten die Sprache. Das, was Bayer macht, ist auf keinen Fall ein Versuch, in Überschätzung von Sprache Literatur ins Inkommensurable zu stilisieren, sondern rigoroses Versuchen, sie in äußerster Anstrengung kommensurabel zu halten – und trotz des maßlos erscheinenden Anspruchs an die Sprache das zentrale Problem woanders zu sehen. „…denn wer versteht den sonnenuntergang eines anderen?“ (Gerhard Rühm. Vortrag. Sondern 1, Berlin 1976). All das Mechanische in Bayers Texten, in den Motiven, den sprachlichen Verfahren, der Perspektivik wäre dann die Konsequenz aus solcherart – kaum näher beschreibbarer – Einsicht, alles, was nicht sprachlichem Funktionieren dient, konsequent aus den Texten herauszuhalten, auch dann, wenn er „bei seinen lesern auf verständnis stösst. als ob das je zu vermeiden wäre.“ (Rühm. ebenda.) Das, was hier Verständnis heißt, verunklärt notwendigerweise das Funktionieren der Texte Bayers. Auch das hat er natürlich gewußt, vielleicht daher seine Rigidität und seine Resignation. Und ab und an in der kältesten mechanischen Konstruktion wie etwa im lapidaren museum Bilder auch dafür:
die stampfenden kolben machen unsere sätze unverständlich. die herzpumpen dröhnen. (Konrad Bayer, Das Gesamtwerk. Hrsg. von Gerhard Rühm. Reinbek 1977)
Drews:
Menschen, die sich ferne und hohe Ziele gesetzt haben, werden oft von Bewußtseinsspaltungen auseinandergerissen, die sie in selbstvernichtende und selbstpeinigende Wracks verwandeln, weil sie es nicht erreichen, die Aufgaben zu lösen, deren Lösung eine Forderung geworden ist, die in ihrem ganzen Wesen Wurzel geschlagen hat. Das Tragische – oft Tragikomische – in diesem gegensätzlichen Verhältnis zwischen Traum und Wirklichkeit hat viele verkannte Genies in das Niemandsland des interessanten Wahnsinns hinausgetrieben, der die Analytiker der Nachwelt lockt und ihnen Stoff zu psychiatrischen Abhandlungen gibt (Josef Petersen, Vitus Bering. Hamburg 1947).
Eine Erfahrung bei der Lektüre Konrad Bayers: die surrealistischen Schocks haben nachgelassen, sind bisweilen ,verstehbar‘ geworden und haben von ihrer Kraft eingebüßt. Der Schrecken der Kollision der Elemente in Bildern von Max Ernst ist genießbar geworden, die Material-Bilder Schwitters’, einst gedacht als das Gegenteil von Gegenständen der Kontemplation, sind zu Kontemplationsgegenständen geworden. Waren die Mittel, mit denen Konrad Bayer Irritation und Protest klarmachen wollte, ungenügend; waren sie von vornherein zu ,künstlerisch‘ in dem Sinn, daß sie eben nicht radikal genug waren? Hätten Irritation und Protest sich noch wilderer Mittel, anderer Medien bedienen müssen? Ist die Literarisierung immer schon die Entschärfung des Protests? Wiener meint, der „umfassende Protest“, den er hinter den Arbeiten der Wiener Gruppe sieht, sei „für meinen (Wieners) Geschmack nicht einmal annähernd ausgedrückt worden“ (DIE ZEIT, a.a.O.): Überfordert Wiener da die Kunst generell, die überdies, wie radikal auch immer sie sei, spätestens nach 10 oder 20 Jahren immer eingemeindbar wird? Hängt umgekehrt mit diesem teilweisen Spannungsverlust der Texte, ihrer Genießbarkeit, zusammen, daß man zugleich – und besonders stark unter den Autoren der Wiener Gruppe bei Konrad Bayer – hinter den nicht mehr ganz so aufreizend wirkenden Verfahren und Techniken immer noch ein Mehr an Unausgedrücktem, an Beunruhigendem, an „Tragischem“ in seinem „gegensätzlichen Verhältnis zwischen Traum und Wirklichkeit“ (Petersen, s.O.) spürt?
Ramm: Was an erzähltechnischen, an literarischen, an sprachlichen Verfahren und Techniken bei Bayer beschreibbar ist, und da ist sehr vielfältiges und sehr raffiniertes zu beschreiben, stellt nicht nur Fragen nach Erzählen, Literatur, Sprache. Weil die verwendeten Methoden vielfältig, das Raffinement in der jeweiligen Verwendung außerordentlich ist, ist man immer noch leicht geneigt, das sprachliche Moment in Bayers Literatur überzubewerten. Vielleicht liegen die für diese Verfahren und für dieses Raffinement wesentlichen Implikationen woanders. Reizvoll wäre es, Kategorien wie Raum, Zeit, Wahrnehmung, Bewußtsein, vielleicht sogar möglichst unabhängig von allen philosophischen Traditionen, in ihren spezifischen Verschränkungen bei Bayer nachzugehen. Die temporalen Implikationen der fast immer inkohärenten Räumlichkeit. Die Diskontinuität von Zeit, bezogen etwa auf die individuelle Wahrnehmung oder – nur scheinbar entgegengesetzt – auf Geschichte überhaupt. Die temporalen Implikationen – und das scheint mir besonders wichtig – der verschiedenen Montagetechniken. „zeit ist nur zerschneidung des ganzen und durch die sinne.“ (Gesamtwerk). Und das nicht nur dann, wenn diese Techniken sich ganz direkt auch Geschichte zum Thema vorwerfen wie etwa im kopf des vitus bering. Aber auch dort; etwa die zentralen Motive der Reise, der Entgrenzung verschränkt mit den Motiven der Zeit, mit denen der Wahrnehmung und des Bewußtseins.
da es nicht war, bering sich aber erinnern konnte, dass es gewesen war, schloss er daraus, dass ein stück zeit vergangen sein musste, obwohl ihm das nicht gefiel und er lieber gedacht hätte, ereignisse haben sich bereits ereignet (Gesamtwerk).
Gar nicht so sehr auf solche Zitate mit den thematischen Implikationen von Zeit achten. Besonders achten etwa auf das temporale Moment im ständigen Figurenwechsel, in semantischen Mehr- oder Vieldeutigkeiten, in syntaktischen Verknüpfungen. Trotz ähnlicher und trotz entschieden anderer Voraussetzungen die temporale Bewegung im kopf des vitus bering und die imsechsten sinnals die gleiche begreifen.
zeit? staunte goldenberg und einige tage später, nachdem er sich die sache überlegt hatte, meinte er, ist nur zerschneidung des ganzen und durch die sinne, fügte er hinzu, als sie wieder darüber sprachen (Gesamtwerk).
Vielleicht gar nicht nur dieser Überlegung zum Thema Zeit nachgehen, die wir ja zuvor aus dem Index zum kopf des vitus bering schon gehört haben, sondern vielleicht eher die Temporalstruktur dieses kleinen Abschnitts aus dem sechsten sinn genauer zu erkennen oder zumindest wahrzunehmen suchen. Fragen, ob die überall wohl nachweisbare Diskontinuität von Zeit Bezüge hat auch zu avancierteren Geschichtstheorien, die die prinzipielle Diskontinuität von Geschichte zum Ausgangspunkt haben. Nachzuweisen versuchen, wie sehr das Problem der Diskontinuität von Zeit nicht nur den verschiedenen Montagetechniken entspricht, sondern wie sehr es zugleich die für Bayer typische räumliche Perspektive bestimmt.
ganz weit vorne, dort oben auf dem hügel, schliesst sich die strasse, ein hindernis aus optik. bis ich dort sein werde, wird sie sich auftun, die häuser werden ein bisschen in die höhe spriessen, aber dennoch zur seite weichen, ja so wird es sein. der magische garten der perspektive. jetzt kommt die buchhandlung, wusste goldenberg stunden später, und jetzt kommt der springbrunnen, freute er sich in einer woche, und nur noch eine viertelstunde, dachte er nach vielen jahren und die beine taten ihm weh und er hatte die häuser da vorne schon ein wenig auseinandergedrängt, so wie alle male zuvor und danach und bald wird er oben sein und sich mit den anderen in die strassenbahn drängen. (Gesamtwerk).
Bevor jetzt dieselben Überlegungen auf das Problem des Raums bezogen ablaufen, hier abbrechen.
Drews:
dobyhal kam rüber. „ich habe einen ofen gebaut“, keuchte er vor erregung. nina und ich gingen hinüber. der ofen war ganz aus holz. er machte feuer und der ofen verbrannte. die suppe ergoss sich ins feuer. (Gesamtwerk).
Warum sind manche faulen Witze so gut, warum sind manche Kalauer „Delikatessen des Geistes“ (Konrad Bayer)? Vielleichtweil sie die Erwartung von Sinn, kaum daß sie aufgetaucht ist, mit äußerster Ökonomie vernichten, weil ihr Erfinder mutig das Risiko auf sich nimmt, ob der Nicht-Leistung von den Zuhörern geschmäht zu werden. Weil der Kalauer die Fallhöhe, die der Witz braucht, nicht nur selbst einzieht, sondern als nicht existent vorführt. Zu beweisen wäre, daß der hölzerne Ofen für das Lebensgefühl Dobyhals und Goldenbergs absolut passend ist, aber zugleich Symbolik unterläuft, die ja immer was körperwarm Organisches behält.
Ramm: Immer wieder Künstliches, häufig Natur aus künstlichen Apparaten.
an einer künstlichen ente vorbei, die echte körner aufpickt und echten dreck von sich gibt (Gesamtwerk).
die maschine ist ein versuch des menschen, und zwar ein versuch einer nachbildung. nachgebaut wurden natürliche funktionen. aufgrund von naturbeobachtung und menschl. schlussfolgerung (naturwissenschaften) (Gesamtwerk).
Das Funktionieren der künstlichen Schöpfungen dem der natürlichen Kreaturen soweit wie möglich angenähert.
Den Glauben an das Echte zu erschüttern und die Gegenstände nur als Funktion gelten zu lassen, die Eigenschaften einer souveränen Vorstellung sind. (Wiener, DIE ZEIT, a.a.O.)
Wiener trifft hier sicher das, was an künstlichen Gegenständen in den Texten Bayers figuriert. Den Versuch machen, diese Überlegung nun nicht nur auf die in den Texten vorkommenden Gegenstände, und auch nicht nur auf Bayer selbst – wenn ich diese Unterscheidung einmal treffen darf –, sondern auf den Zustand von Bayers Literatur überhaupt anzuwenden. Sucht sie nicht in extremer Künstlichkeit Natürlichkeit künstlich herzustellen? Sind die Sätze der Texte nicht in immer wieder variierten Programmen raffiniert auf Natürlichkeit hin gesteuert? Gerade dort, wo Bayers Sprache von ganz natürlicher Präzision ist, scheint sie mir von extremer Künstlichkeit.
und ich gehe hin und ziehe den vorhang zur seite und da trifft mich gleich der sonnenstrahl mit zirka 300.000 km pro sekunde ins auge und da drehe ich mich um und leg mich wieder ins bett (Gesamtwerk).
Was ganz natürlich klingt, klingt wie natürlich.
„he!“ brüllte fisch, als goldenberg weiterging brüllte fisch „he“ und wieder brüllte er „he“ aber goldenberg ging weiter und hörte ihn nicht (Gesamtwerk).
Der hohe Grad der Annäherung ans Natürliche ist zugleich der Grad extremer Künstlichkeit. Das ist kein Sprachproblem, wie wir es leicht anzunehmen gewohnt sind. Das ist erst dann erreichbar, oder wenigstens anzusteuern, wenn die Sprache und ihr Gebrauch so weit problematisiert ist, daß nicht mehr sie das Problem ist. Gerade in der geringen Differenz, vielleicht auch in der Ununterscheidbarkeit zwischen dem, was ich hier als natürlich, und dem, was ich hier als künstlich zu beschreiben versucht habe, scheint mir ein Moment als movens für Erkenntnis zu liegen: den eigenen Standpunkt als anderen beziehen, das eigene Denken als fremdes begreifen, das Natürliche als künstliches Arrangement erkennen, den natürlichen Ausdruck künstlich erreichen.
Drews: Die Verfahren der Texte Konrad Bayers mögen als Techniken inzwischen vertrauter oder vergleichsweise leicht eruierbar sein. Das hilft einem aber oft nicht viel, weil man damit noch nicht herausbekommt. was dahintersteckt. Der Durchsichtigkeit der Verfahren entspricht paradoxerweise, daß einem dennoch unwohl dabei bleibt, daß man etwas Bedrohliches spürt Der Erwähnung wert ist das nicht zuletzt deshalb, weil es bis zur Literatur der Gegenwart meist eher umgekehrt aussieht: da mögen Stil oder Techniken bisweilen nur ungenau zu beschreiben sein, doch dahinter steckt dann etwas, das sich umgangssprachlich oder wissenschaftssprachlich gut formulieren läßt, eine eher beruhigend, rubrizierbare ,idee‘, ein eher friedliches ,problem‘.
Ramm:
zuerst, erzählte ledig mir, habe konrad auf seine frage gemeint, er meine, die deutsche literatur sei mehr oder weniger entbehrlich, auch und gerade wenn man gerne lese, und zwar die aus den nachkriegsjahren sehr, die andere vielleicht weniger. konrad erzählte ihm, dass die schriftsteller dort, die er gelesen hatte, aufsehenerregend peinlich waren und geheimnisvoll langweilig schrieben, und das finge bei der einstellung zum schreiben an, und setzte sich. aber wozu erzähle ich das. (Oswald Wiener, ledig hat den sechsten sinn. Heinrich Maria Rowohlt zuliebe. Hrsg. von Siegfried Unseld. Reinbek 1968)
Auffällig bei Bayer natürlich die vielen Versuche, Selbstverständliches so exakt wie möglich zu beschreiben. So exakt wie möglich zu beschreiben, und – das gehört exakt dazu – dennoch das Problem von Beschreibung, von Benennung nicht außer acht zu lassen.
goldenbergs rumpf hat einen aufsatz, den sogenannten kopf, der wenn er aus gips wäre büste hiesse, dieser war mit einem gegenstand zum teil bedeckt, den die anderen hut, goldenberg aber karl nannte (Gesamtwerk).
Das, was ich hier so pauschal formuliere, klingt für manche so, als wolle Bayer in Sprache demonstrieren, wie sich sein grundsätzlicher Zweifel an der Sprache durch möglichst exakte Formulierung wenigstens annäherungsweise einholen ließe – mir scheint das ein Trugschluß. Oder es klingt für manche so, als dominiere hier die Sprache über die Welt – auch das scheint mir ein Trugschluß. Oder es klingt für manche so, vor allem für die sprachsensiblen Epigonen solcher Verfahren, als gebe die möglichst exakte sprachliche Formulierung Vorstellungen oder Gedanken möglichst exakt wieder – auch das, scheint mir, ist ein Trugschluß:
die ,präzision‘ des ausdrucks ist das gefühl, das ich habe wenn ein neuer gedanke in ein klischee zurückgeholt worden ist (Oswald Wiener, Achttagebuch, zitiert nach dem Manuskript).
Bayers Verfahren scheint mir ein umgekehrtes: die Präzision des Ausdrucks läßt die Klischees der Gedanken nicht mehr zu; je präziser der sprachliche Ausdruck, desto eher springen die Mechanismen unserer Vorstellung aus den Geleisen, „drängte die erdatmosphäre auseinander, stellte sich auf“ (Gesamtwerk). Darüber ist schwer zu sprechen, denn während die Formulierung durchgängig in Ordnung ist, sind irgendwann im Verlauf des Lesens die routiniert eingespielten Abläufe unserer Vorstellung aus den Bahnen gekippt.
sein herz schlug 80mal in der minute. unentwegt wuchsen die haare aus seiner kopfhaut (Gesamtwerk).
Da sehen dann die Beschreibungen des Gewohnten aus wie gezielte Verzerrungen, aus dem Gewohnten in kleinen Schritten systematisch elaboriert.
in kurzen abständen sog er teile aus der ihn umgebenden, hell erleuchteten luft ab, verwandelte, machte zauber, chemie, behielt was er brauchte und stiess den rest aus maul und poren (Gesamtwerk).
Die Frage ist, von welchem Standpunkt aus die Beschreibung als Verzerrungen erscheinen, ob nicht die routinierte Perspektive unserer Vorstellung viel eher das Verzerrende ist als die scheinbar verzerrende Beschreibung in Bayers Sätzen.
ich darf die routine nicht akzeptieren, die den satz als den ausdruck einer tatsache erscheinen läßt; ich muß jeden satz als eine beobachtung auffassen, die ihre stelle in meiner theorie des geschehens zugewiesen erhalten muß. (Wiener, Achttagebuch, a.a.O.)
Hier liegt die Möglichkeit wenn nicht zu Erkenntnis, so vielleicht zu einem Verhalten, das Erkenntnisse ermöglichen könnte – auch dann, wenn ich nur lese. Nicht in der direkten Vermittlung von Erkenntnissen oder der Absicht dazu, sondern in der Eröffnung von Möglichkeiten außerhalb der eingefahrenen Geleise unserer Vorstellung. Das hat kaum etwas zu tun mit der Art von Erkenntnis, wie sie ,jenseits‘ der literarischen Texte zu gewinnen sein soll, etwa auf den immer noch so beliebten Wegen der ,Interpretation‘ von Literatur. Das Defizit, das in der traditionellen Literatur durch Interpretation aufzufüllen ist, gibt es in den Texten Bayers kaum, auch dann nicht, wenn sie vorgeben, wie traditionelle Literatur auszusehen. Es ist gerade die sprachliche, also literarische Perfektion der Texte, die sie gegen solcherart Interpretation abdichtet. Sie sind perfekt, manchmal bis an die Grenze des sprachlich Möglichen, nicht, weil sie die Sprache überschätzen die Welt etwa als Welt aus Sprache ausgeben wollen –, sondern weil sie das restlos in Sprache abzuarbeiten suchen, was gewöhnlich ,hinter‘ Literatur gesucht und als ,Sinn‘ oder was auch immer gewöhnlich gefunden wird. Da überschätzen die konventionellen Schriftsteller, auch dann, wenn sie sich als experimentelle ausgeben, die Sprache viel eher, wenn sie alles, auch das Bedrohlichste, in ihre Literatur mit hineinnehmen, und sei es als ,Aussage‘ oder ,Sinn‘. Wenn es Bayer – in manchen Texten – gelingt, pedantisch rigoros und im latenten Bewußtsein der Unmöglichkeit seines Vorhabens sich abzuarbeiten, dann empfinde ich eine Bedrohung, die tiefer geht als die Provokationen und Schocks, die vielleicht von den direkten Agressionen gegen die Zeitgenossen in den fünfziger und sechziger Jahren ausgegangen sind und gegen manche heute noch wirksam sind, die sich nicht in unserer Literaturgeschichte auskennen. „Die Hochstilisierung seines privaten Ichs“, so ein Literaturlexikon, das sich selbst das Prädikat ,kritisch‘ zugesteht.
auf eine mythische Ebene verhindert aber, daß von seinem Werk mehr ausgeht als persönliche Magie. (Michael Töteberg, Konrad Bayer. Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1978 ff) – und das „Stand 1.6.1979“ (ebenda).
Drews:
franz war.
war franz?
franz.
war.
wahr.
war wahr.
wirr.
wir.
franz, wir!
wir, franz.
ihr.
franz war wirr.
war franz irr?
wirrwarr.
(Gesamtwerk)
Wenn es wirklich so einfach wäre! Magie ist mir lieber als eine Konzeption von Existenz, die in Soziologie und Psychologie restlos aufgeht. Die simple Umdrehung des Satzes „franz war“ zur Frage enthält ohne große Theorie des Schreibens, fast platt infantil und eben weil sie mit trocken meckerndem Gelächter quittierbar ist, alle Bodenlosigkeit: Reduktion als Metaphysik ohne Reduktion der Metaphysik, und vom Namen franz über das Selbstmord-Motiv bis zur Unsicherheit über die Aussagemöglichkeit ist in diesem frühen Gedicht schon versammelt, was im späteren Werk Bayers ausgefaltet wird. Auch beim folgenden Chanson-Text braucht man nur das „kind“ als franz zu lesen, um die Identitätszweifel, die Schwierigkeit der Kommunikation mit sich selbst in Infantilität äffender, quasipermutationeller Art formuliert zu finden, die dann später densechsten sinnbeherrschen – Rätsel ohne Magie:
ich bin ein wirkliches kind
nein nein so etwas
ja so etwas
ein wirkliches kind
nein nein so etwas
wirklich ein kind
so ein kind
nein nein so etwas
wirklich ein kind
bin ich
nein nein so etwas
bin ich wirklich ein kind?
nein nein
ein wirkliches kind
nein ein kind?
wirklich nein so etwas
ein kind
(Gesamtwerk)
Zu den Schwierigkeiten der Bayer-Lektüre gehört, daß seine Texte nicht mehr im herkömmlichen Sinn geschlossen, aber so dicht sind, daß, mit Michel Leiris zu sprechen, „für den Groschen ,Sinn‘ kein Spalt mehr übrigbleibt.“ (Leiris. Aurora). Bestimmte Texte von Bayer, aber auch von Falk, Jandl, Pastior und Priessnitz müßte man vielleicht als Ergebnisse des Versuchs nehmen, konkrete Geheimnisse herzustellen, die umso dichter und hartnäckiger sind, als ihre Technik vielfach unmittelbar einsehbar oder rekonstruierbar ist: Individualität bekommen sie durch ihre kalkulierte Deformiertheit. Die Passage „während der gegenstand wuchs und wuchs“ aus dem „sechsten sinn“ (Gesamtwerk) oder „balsader binsam“ (Gesamtwerk) zeigen vielleicht, daß Sprache in Literatur sogar noch eher funktioniert als Sprache im – sagen wir mal: ,Leben‘, weil sie sich ihre Bedingungen selber setzen kann. Oder welchem Kommunikationsanspruch genügt der folgende Gedichttext denn nicht? –:
der neunertz specken klaster
wie maien inner da
kettent kauert immelschnee
etz gras eis zwater sam
plampe theil an hauff dem gurt
ohn luentz sparis pfät
schwar schwerammel friple ramm
kleestatt um feiner siag
ent da du kein
blau trommelstein
tre haplartz oxcker pfeil
marie
du plotzen tunter tzar
marie
wir schanter keil ut seil
(Gesamtwerk)
Ramm: Das Prinzip der Reduktion nicht etwa eingesetzt, um zu bewußterem Verständnis von etwas anderem zu gelangen, wie etwa in der Phänomenologie, auch nicht eingesetzt mit dem Ziel, zu modellhaften Systemen zu gelangen, die wesentlich komplexere Sachverhalte erklärbar machen wie etwa in der aktuellen Sozialtechnologie. Was auf dem Wege radikaler Reduktion zu gewinnen war, läßt sich nicht zurückverwandeln durch Rekonstruktion etwa oder durch Auffüllen mit sinnhaften Bezügen oder etwa einfach durch Rückübersetzung. Bayers spezifische Variante der Reduktion legt eben nicht – der Literatur oder der Wissenschaft oder der Natur – zugrundeliegende Schemata frei, nach denen weit komplexere Gefüge funktionieren, also schematische Abläufe beispielsweise oder entstofflichte Handlungsstränge, die sich – mit Stofflichem aufgefüllt – wieder als pralle Geschichten zeigen könnten, sondern das Material ist von vornherein auf so winzige Partikel – von Sprache?, von Vorstellungen? – reduziert, daß die nicht mehr zu einer quasi ursprünglichen Ordnung zusammenschießen können, selbst wenn man eine solche – durch Interpretation oder andere spekulative Kunstgriffe – wiederherzustellen versuchte. Auch neu zusammengesetzt lassen sie es nicht zu, sich irgendeine Art von vorfabriziertem Zusammenhang entnehmen zu lassen. Etwa karl, ein karl (Gesamtwerk): gerade nicht eine zusammenhängende Geschichte, in der alle Substantive gegen das Wort karl getauscht sind, sondern von vornherein keine zusammenhängende Geschichte, in der alle Substantive gegen das Wort karl getauscht sind. Oder der geflitterte rosengarten (Gesamtwerk), wo das ja wirklich immer wieder aufs Neue hervorragend funktionierende Modell des Westerns auf eine Reihe von durch und durch westernhaften Elementen zurückgeführt wird, deren wie auch immer herzustellende Summe eben nicht das Schema des Westerns bloßlegt, sondern ein qualitativ anderes, nicht als zusammenhängend beschreibbares Westernkontinuum. Nicht der oder irgendein Western funktioniert am Ende, sondern dieser Text funktioniert auf der Ebene einer Sprache, aus deren Funktion der Western im Grunde ganz herausgehalten ist. Von hier aus wichtige Unterschiede zu anderen wichtigen Reduktionsverfahren wie etwa bei Helmut Heißenbüttel. Von hier aus qualitativ erhebliche Unterschiede zur epigonalen Verwendung ähnlicher Prinzipien etwa in thematisch ähnlichen Prosastücken Peter Handkes. Reduktion nicht als Vehikel, steuerbar in Richtung auf Verständlichkeit. Das wäre im einzelnen auszuarbeiten an den beiden viel komplexeren Prosastücken der kopf des vitus bering und der sechste sinn, und gerade die Unterschiedlichkeit in den Verfahren beider Stücke, die sofort ins Auge fällt, könnte sich als einunddieselbe Reduktionsbewegung erweisen; extreme Reduktion im kopf des vitus bering als überdimensionierter Entwurf einer Entgrenzung über alle Motive wie Zeit, Geschichte, Wahrnehmung, Bewußtsein hinaus nach außen – extreme Reduktion im sechsten sinn als überdimensionierter Entwurf einer Entgrenzung über alle Motive wie Wahrnehmung, Bewußtsein, Individuum hinweg nach innen.
Was mir am Vitus Bering unverständlich bleibt, ist nicht unverständlicher als das, was in meinem Kopf vorkommen und gleichwohl Sprache in Gang setzen kann. Die Identität mit der eigenen Erfahrung ist eine tägliche Utopie. (Jürgen Becker, Nachwort. Konrad Bayer. Der Kopf des Vitus Bering. Olten 1965)
Auf den ersten Blick scheint es in dieser Umgebung widersinnig, daß gerade häufig wiederkehrende Motive so etwas wie Erinnerung an Urerfahrung hervorzurufen scheinen. Motive wie Stein, Berg, Eis, Frost, Tod mit ihrer, sie ein wenig unter den Horizont des Archaischen rückenden Erdenschwere, und daß auch Prosastücke wie etwa in den sechsundzwanzig namen sich wie uralte Sagen oder schon ewig gültige Legenden geben; sieht man genauer hin, so sind auch diese scheinbar unanfechtbaren Grundtatsachen so etwas wie Grenzpunkte der Reduktionsbewegung; sie markieren – gleichsam nach innen gewendet – genauso Grenzbereiche wie es ekstatische Zustände – gleichsam nach außen gewendet – tun.
er schien zu überlegen. so sass er vom morgengrauen bis sich island von der sonne weggedreht, um denen im westen platz zu machen, und starrte in die wand, um manchmal aufzustehen, und einen strich, einen schnörkel über den kalk zu ziehen.
thorstein war ungefähr dreiundreissig jahre alt geworden, als er aufstand und durch die weisse wand ging, ohne schaden zu nehmen (Gesamtwerk).
Drews: Wie die Flug-Träume und die Erfahrung des Gespaltenseins bei Bayer miteinander zusammenhängen, zeigt das folgende Stück aus dem sechsten sinn:
goldenberg hingegen stürzt zurück in die schwindelnde höhe seiner flugreise, in einem winkel von 45 grad vorgeneigt, über die häuser und gassen eines imaginären genua, das aber im zeitbild immer wieder aus dem meer seines bewusstseins in den äther seiner nachtreisen taucht, erst 6 dann 30 meter über dem gewoge der menschen. der körper jedem druck gehorchend, hin über die offene see, in einem gehaltenen aber schwankenden abstand von der spiegelnden wasseroberfläche, 40 bis 60 meter, und dabei bleibt es, goldenbergs himmelfahrt.
goldenbergs wunsch, johannes goldenberg genannt, sitzt im linken und goldenbergs wille, petrus goldenberg mit namen, im rechten auge. klagend um ihren herrn, bemühen sich beide, jeder auf seine weise, die eingeschnappten augenlider aufzureissen um den glanz des jammers im schein des lichts, das der anfang sein soll, zu offenbaren. (Gesamtwerk).
„ich gebe zu, franz ist gott“ heißt es am Ende eines der Flug-Träume (Gesamtwerk); im zitierten Text aber ist Franz Goldenberg ebenfalls Gott, nämlich Christus selbdritt: Johannes und Petrus, die Treue und der Verrat zu sich selbst und an sich selbst, sind bei ihm, sind Teil von ihm. Das religiöse Vokabular dieser Himmelfahrtszene ist unverkennbar. Es ist übrigens nicht das einzige Mal, daß Bayer/Goldenberg sich als Christus sieht, als Märtyrer in mehrerlei Gestalt sozusagen; von 1953 stammt das Gedicht
herbei ihr tänzer und fahrenden sänger
herbei ihr gaukler und fastendiebe
mütter und töchter und jedes gesindel
seht
seht
hier liegt ein geschundener
mit einer dornenkrone
mit seinen gespaltenen fersen
und den sieben pfeilen der liebe
in seinem blutigen leib
seht
wie er sich windet
seht
wie er sich dreht
wie die holländischen windfahnen
wie segel im sturm
wie die herzen im frühling
kommt
und kommt
wir wollen seinen schädel spalten
sein haar verkaufen
und ein mahl an die armen verschenken
wer wirft den ersten stein?
einen groschen für sein linkes auge
und den zweiten für sein rechtes
freunde
wir wollen dieses fest nach seiner alltäglichkeit feiern
wir wollen ihn vor die stadt werfen
und unsere hunde und mädchen auf ihn hetzen
wir wollen in seinem blut waten
und unsere arme bis an die schultern bestreichen
wir brechen seine Zähne
seine narben
und alle wirbel
wir werden seine erinnerungen an einen fremden händler verkaufen
und seine kleider öffentlich verbrennen
wir werden ihn auslöschen
und verlieren
wie ein seidenes tuch
kommt näher
und seht den geschundenen
kommt doch näher
dann seht ihr den geschundenen besser.
(Gesamtwerk)
Das Opfer dieser mystischen Zerstückelung heißt Christus, St. Sebastian und Orpheus.
Konrad Bayers Selbstmord wird öfters als ,konsequent‘ bezeichnet. Allerdings bleibt zu fragen, die Konsequenz woraus er eigentlich ist. Die Konsequenz dessen, daß er sich mit der „totalen bedeutungslosigkeit“ (Gesamtwerk) nicht abfinden konnte? War sein Selbstmord ein letztes, ,äußerstes‘ Experiment? Dagegen spricht, daß dieses Experiment dann gar nichts Spielerisches mehr enthalten hätte. War er also ein mißglücktes Experiment?
man muss sich umbringen um die hoffnung zu begraben. es gibt keine hoffnung… es gibt nichts was zu erreichen wäre ausser dem tod (Gesamtwerk).
War Bayers Selbstmord der Versuch einer endgültigen Vernichtung der Hoffnung auf Ungespaltenheit, auf Kommunikationsfähigkeit durch die Annullierung des physischen Substrats dessen, der als Lebender die Hoffnung doch nicht begraben konnte? Oder war durch die „totale bedeutungslosigkeit“ alles so bedeutungslos geworden, daß er Selbstmord ebenso begehen wie unterlassen konnte?
Oder ist der Tod als umgekehrter Flug-Traum zu interpretieren? Der Narzißmus, zum Solipsismus gesteigert, könnte im Umschlag auch die Form annehmen, daß im Tod, im Totsein dann ja auch die Spannung, die Kluft zwischen Welt und ich aufgehoben ist. Die Flug-Wünsche Bayers erwähnt Gerhard Rühm; sie tauchen auch immer wieder im Werk auf.
alles lüge, niemand hält mich, schrie goldenberg in gedanken und stiess sich von dem planeten erde ab (Gesamtwerk),
oder:
ich sitze in meinem sessel und schwinge langsam vor und zurück. es ist abend. ich fliege. ich kann fliegen. ich schwinge mit ungeheurer geschwindigkeit auf und nieder, vor und zurück. ganz langsam. meine arme und beine vibrieren. ich bin ganz leicht. ich falle. ich schwebe still… (Gesamtwerk).
Das sind unverkennbar Omnipotenz-Phantasien, Träume davon, allmächtig und zugleich in der Welt ganz aufgehoben zu sein, unzerspalten und präverbal an der Welt zu partizipieren, die Schranken zwischen Ich und Nicht-Ich verschwunden zu sehen. Oder ist es noch anders: Sollte die Trennung von Körper und Bewußtsein endgültig gemacht werden, ihre Entfernung voneinander riesengroß? „du musst distanz zu den erscheinungen, zu deinen sinneswahrnehmungen halten“, sagt Goldenberg zu Dobyhal (Gesamtwerk), Distanz, die es dann erlaubte zu sagen:
was ist von mir geblieben? ein geräusch fliessenden wassers. natürlich weiss ich, dass nacht ist und vermutlich liegt da irgendwo mein körper. aber was nützt das?(Gesamtwerk).
Ramm:
vom gesichtspunkt der gleichheit sind alle dinge eins, das hab ich vermutet, antwortete goldenberg (Gesamtwerk).
Durch das, was hier als tautologische Identität formuliert wird, geht der Riß.
was ist zu tun, fragte goldenberg. in allem das gleiche zu erkennen, antwortete goldenberg (Gesamtwerk).
Auch das, wie in austauschbarer Beliebigkeit formuliert, läßt den Riß ahnen, nicht nur durch die Figur – lassen wir sie einmal als Person agieren – des sich selbst gegenüberstehenden Goldenberg. Sicher – auf solchen Zitaten lastet auch der Druck der Traditionen von Erkenntnistheorie, Phänomenologie, Sprachphilosophie. So wichtig das ist, ich sehe hier ein fundamentales soziales Moment im Werk Bayers. Was ein Problem von Erkenntnis oder Bewußtsein oder Kommunikation sein könnte und sicher auch ist, was ein Problem privatester Isolation und definitiver Resignation sein könnte und sicher auch das ist, reißt zugleich gesellschaftliche Konventionen ein und durchschlägt alles, was wir als sozialen Konsens – auch kritisch – bisher akzeptiert haben; in der Tiefe dieses Risses werden in unserem allgemein akzeptierten sozialen Umfeld Strukturen sichtbar, deren natürliche oder ethische Gesetzmäßigkeit sich als interessen- und ideologiegesteuertes Reglement erweisen könnte. „Und die Sphären sind eingestürzt und das Verabredete hört auf“ (Ernst Bloch über Konrad Bayer nach dessen Lesung vor der Gruppe 47 in Saulgau 1963. Zitiert nach einem Tonbandmitschnitt des SFB, transkribiert von Erik de Smedt). Bayer ist radikal genug, keine – und wenn auch nur literarischen – Gegenbilder zu entwerfen.
„la la la“, sang goldenberg. „bla, bla, bla“, antwortete braunschweiger. hierauf waren beide, braunschweiger und goldenberg, minutenlang glücklich (Gesamtwerk).
Solche, gewöhnlich als Beleg für die beklagenswerte Zerstörung oder Unmöglichkeit von Kommunikation zitierten, Bilder stecken, wenn ich meinen Überlegungen folge, voller – freilich in unserer gegenwärtigen sozialen Situation radikal unzugänglicher – Hoffnung wie auch das gleiche Gegenbild dazu.
alles ist in bester ordnung, antwortete goldenberg, nur unsere ansichten müssen geändert werden (Gesamtwerk).
Das ist gerade kein – von der Phänomenologie oder von woher sonst auch immer zu erläuterndes – Patentrezept, das ist gerade keine der – im Grunde ahistorischen – literarischen Personifizierungen eines grundsätzlichen Problems, wie sie zum ästhetischen Arsenal traditioneller Literatur gehören, sondern das ist für mich eine bedingungslose Einsicht in die prinzipielle Diskontinuität nicht nur unserer ideologisch verbrämten persönlichen und sozialen Situation, sondern auch von Geschichte überhaupt. Natürlich reichen für solche Thesen vereinzelte Zitate nicht hin. Was aber an solchen Einsichten im Werk Bayers immer wieder hervorbricht, wird bis heute immer wieder abgedrängt in den Problemkreis individualanarchistischer Kommunikationszerstörung – und derlei Vokabeln, so gefährlich sie klingen sollen, sind nicht nur Zeichen ideologischer Borniertheit – „Den Gegenpol seiner Lebensanschauung bildet die Auffassung des dialektischen Materialismus…“ (Töteberg, KLG, a.a.O.) –, sie sind wohl vor allem nichts anderes als blinde Verniedlichung.
Drews:
man könnte sich mit der totalen bedeutungslosigkeit abfinden. ich kann es nicht (Gesamtwerk).
Konrad Bayers Bewunderung für Walter Serner hing vielleicht damit zusammen, daß Serner, überzeugt von der Sinnlosigkeit der Kunst und der Einzelexistenz, von der Fassadenhaftigkeit und Verlogenheit gesellschaftlicher Normen, es offenbar nach der Liquidierung metaphysischer Positionen im manifest dada von 1918 schaffte, neben sich zu treten, vom Nichts, der Nichtigkeit durchdrungen zu sein und sich gleichzeitig wohlzufühlen oder den Zustand doch wenigstens mit Haltung zu ertragen. Als Serner Verhalten und Bewußtsein voneinander getrennt hatte, sogar kaum noch mit dieser Trennung kokettierte, waren Ehrgeiz und Unruhe bei ihm verschwunden. Er lebte mit dem kalten Vergnügen dessen, der etwas wußte, was die anderen nicht wußten; auch er hatte gewissermaßen den „sechsten sinn“, hatte andere Orientierungsfähigkeiten ausgebildet und konnte sie leben: sie gaben ihm Haltung und Zusammenhalt, so sehr, daß er von der avantgardistischen Kunst sogar scheinbar regredieren konnte in die unscheinbaren Spielformen seiner Kriminalgeschichten. Er war wie jener später von Camus apostrophierte Existentialist geworden, dessen Nihilismus ihn nicht daran hindert, mit Vergnügen Hockey zu spielen.
Anders Bayer. Das Neben-sich-stehen, das Neben-seinem-Bewußtsein- und Neben-seinem-Körper-stehen war ihm so etwas wie Voraussetzung für die Möglichkeit von Erkenntnis, aber er litt unter dem Nicht-in-Einklang-sein, Nicht-mit-sich-selbst-identisch-sein. Vielleicht rührt das daher, daß ihm an einem Punkt Zweifel gekommen waren, an dem dem Kraus-Bewunderer Serner offenbar keine grundsätzlichen Zweifel aufgetaucht waren. Serner mißtraute der Kunst, aber offenbar nicht der Kommunikationsmöglichkeit durch Sprache. Konrad Bayer zweifelte am Mitteilen und Verstehen durch Sprache, aber paradoxerweise blieben bis zuletzt doch seine Bemühungen auf so etwas wie Kunst gerichtet.
Ramm:
a: … angeblich werden mehrere herren bemüht sein, sich einander verständlich zu machen.
Drews:
b: das ist ja entsetzlich! (Gesamtwerk)
Jörg Drews/Klaus Ramm: das ist ja entsetzlich. Verdoppelte Bemühung, sich über Konrad Bayer verständlich zu machen. In: Gerhard Rühm (Hrsg.): konrad bayer symposium wien 1979, edition neue texte, 1981.