Jörg Drews: Das Offene offen halten. Zu einem „Colloquium Neue Poesie“ in Bielefeld.
Wenn nach den vier Tagen eines Colloquiums über Literaturentwicklung und Literaturanalyse 20 Teilnehmer dasitzen, alle Fragen offen, ja zum Teil überhaupt erst formulierbar scheinen und dennoch die Runde über den Verlauf ihrer Gespräche recht glücklich ist, so mag das paradox scheinen. Aber diese Zufriedenheit war keineswegs Selbstzufriedenheit, sie ist vielmehr der Reflex einer Mangelerscheinung. Es fehlt, so könnte man sagen, gerade auch für die Literatur, die man inzwischen ungenau aber mit vager Selbstverständlichkeit die „experimentelle“ nennt oder auch die „avantgardistische“ (und innerhalb derer die „Konkrete Poesie“ wiederum ein Teilbereich ist), ein Forum des Nachdenkens über sich selbst, die Möglichkeit der Standortbestimmung, die Chance der Rechenschaft darüber, was sie erreicht, wie sie sich verwandelt, verhärtet oder geöffnet hat. Literaturkritik, die noch vor einigen Jahren in den Büchern und Aufsätzen von Helmut Heissenbüttel oder Heinrich Vormweg oder Karl Heinz Bohrer mehr war als nur einfache Rezension, das punktuelle Wahrnehmen von literarischen Produkten, hat sich zersplittert und verlaufen in die isolierte Buchbesprechung und ansonsten noch in das Feiern literarischer Jahrestage.
Über den Gesamtzustand unserer Literatur wird eigentlich zur Zeit nirgends zusammenhängend nachgedacht; kaum daß es einmal zu einer übergreifenden Diskussion etwa zu Lyrik der Neuen Subjektivität kommt, oder über die Frage eines „Neuen Realismus“, so reißt das Gespräch schon wieder ab. Und besonders atomisiert, versprengt, auch aus den Verlagsprogrammen fast verschwunden ist auch jene Konkrete und/oder Experimentelle Literatur, die doch vor wenigen Jahren die Aufmerksamkeit einiger Rezensenten fand, im Gespräch präsent war, wenn auch im Buchhandel nie in große Auflagenhöhe, von einigen Ausnahmen wie den Werken Ernst Jandls abgesehen.
Wenn nun in den Räumen des Bielefelder Zentrums für interdisziplinäre Forschung Gerhard Rühm und Helmut Heissenbüttel, Eugen Gomringer und Ernst Jandl, Konrad Balder Schäuffelen und Oswald Wiener, Chris Bezzel und Jochen Gerz, Franz Mon und Lily Greenham, Oskar Pastior und Hartmut Geerken mit Literaturwissenschaftlern und Kritikern wie Siegfried J. Schmidt (selbst Autor konkret-konzeptioneller Texte), Klaus Ramm (früher Lektor, heute auch Verleger experimenteller Literatur) und Jörg Drews zusammensaßen, ist verständlich, daß die aufgeschobenen, diffus-unbehaglich registrierten, in den verschiedenen Alltagstätigkeiten oft nur untergründig mitlaufenden, auch beiseite gedrängten Fragen zur gegenwärtigen Situation desjenigen Teils der Literatur, der sich nicht in den bekannten Konventionen vom „lebensprallen Fabulieren“ bis zur strikten Ausrichtung auf Buchmesse-Erscheinungstermine bewegt, nach und nach zusammenschossen zu einem großen Fragemuster. Zu „bewältigen“ war bei solchem tastenden Formulieren von Fragen natürlich noch nichts, kein thematischer Komplex wurde ausdiskutiert, vorher festgelegte Programmpunkte beiseite geschoben. Aber das Bewußtsein konkretisierte sich, daß in einem Moment, wo die Konkrete Poesie im engeren Sinn historisch geworden ist, eine Reflexion der Lage, ein Prozeß der Selbstverständigung einsetzen müßte.
Zur Klassizität verhärtet
Die Lage ist dadurch gekennzeichnet, daß manche Produkte der Konkreten Poesie sich schon zu einer Art Klassizität verhärtet haben, daß aber umgekehrt diese klassischen „konkreten“, das sprachliche, bildliche, musikalische Material des Metiers reflektierenden Verfahrensweisen sich inzwischen so verwandelt und angereichert haben, daß sogar die Gesprächsteilnehmer sich am Ende, als es darum ging, genauer zu bestimmen, die Arbeit welcher Autoren denn nun innovativ und experimentell im Sinne der Avantgarde des 20. Jahrhundert von Schwitters bis Joyce sei, kaum einig werden konnten. Waren die anwesenden Frederike Mayröcker oder Oskar Pastior, Timm Ulrichs oder Jochen Gerz experimentell? Gewiß. Aber haben sie etwas mit der Konkreten Poesie zu tun? Schon schwieriger: in einem abgeleiteten, verwandten Sinne ja, ähnlich wie Schäuffelen. Aber sollte man zu einem nächsten Colloquium etwa Paul Wühr einladen? Herbert Achternbusch? Ingomar von Kieseritzky? Bodo Hell? Liesl Ujvary? Dieter Roth?
Die Grenzen sind fließend geworden: mancher würde dafür plädieren, daß Ralf Thenior wegen einer gewissen bewußten zitathaften Verwendung von Sprache etwas mit sprachliche Materialität reflektierenden Verfahrensweisen zu tun habe, Achternbusch aber in einem ganz anderen Sinne „radikal“ oder „experimentell“ sei, etwa auf einer Linie der Fiktionalisierung des Autobiographischen oder der Vorgabe des Autobiographischen als Fiktion. Wenn aber für ein nächstes Colloquium ernstgemacht werden soll mit jener neuen Offenheit, von der Heissenbüttel in einem Thesenpapier, dem interessantesten der dem Colloquium vorgelegten, spricht, so kann es nicht um eine dann in jedem Fall falsche Exklusivität gehen, die ihre Kriterien etwa aus einer Nähe der Autoren und ihrer Werke zu den fast klassischen Verfahren der Konkreten Poesie nimmt. Die – sagen wir einmal abgekürzt: Sprachspielverfahren Pastiors, die der Cut-up-Technik verwandten Techniken Hartmut Geerkens, die Einbeziehung des gestischen Duktus der Hand in den neueren Zeichnungen Gerhard Rühms, die Absentierung Oswald Wieners vom Schreiben von Literatur hin zu einer die Automatentheorie und Fragen der „artificial intelligence“ einbeziehenden Bemühung um „Verstehen als Kunst“ wären dann auch schon Randphänomene, und dabei sind sie doch sehr eng zentralen Problemstellungen verbunden, die in aller Literatur stecken, die Sprache nicht mehr als – und sei es noch so phantasiereiches, subtiles – Vehikel von Inhalten, von Ideologie, von persönlichem Ausdruck nimmt und hinnimmt.
Die Lage ist überdies dadurch gekennzeichnet, daß ein größeres Publikum, zu sehen in einer überraschend stark besuchten, sehr erfolgreichen öffentlichen Leseveranstaltung in der Bielefelder Kunsthalle, sich offenbar den literarischen Techniken der konkreten und experimentellen Poesie nicht mehr verschließt, sondern sozusagen ohne sich genauere Rechenschaft darüber zu geben in diese Literaturprodukte hinein gewachsen ist, auch wenn da nicht alles in einem strikten Sinn „verstanden“ wurde. Zugleich aber hat damit die experimentelle Avantgarde, obwohl nie breit rezipiert, doch auch sowohl beim Publikum wie in der Literatur den eigentlichen Gegner verloren. Es ist eine Situation eingetreten, in der die literarischen Konventionen generell aufgeweicht, wenn auch kommerziell noch immer feste ausnutzbar sind. Die Konventionen sind nicht mehr etwas, das kräftig ausstrahlt und an dem man sich in Produkten, die „sich querstellen“ (Franz Mon) abarbeiten kann; etwas an Zuversicht, daß man in einer singulär wichtigen Position sei, die durchgesetzt werden müsse, daß es sowohl im Literarischen wie auch im Politischen eine Perspektive geben, in der man sich an irgendeine Spritze begeben müsse, ist verschwunden; es gibt im Moment fast etwas wie eine Historie im Stillstand.
Gerade aber in diesem posthistorischen Zustand, in dem sich die Gesellschaft in einer fad-orientierungslosen Balance hält, ohne irgendwo sichtbar entscheidende neue Anstöße, Hoffnungen beschreibbar als sich pragmatisch zu stabilisieren suchendes System – auch in solchem Moment eines – jedenfalls von vielen so empfunden – historischen Stillstands, in dem divergenteste Schreibweisen mit Recht nebeneinander existieren, müßte die Literatur sich immer noch als eine Art Reflexionsinstanz begreifen, und dieses ihr Begreifen müßte gefördert werden. Warum zum Beispiel die seit über 50 Jahren ja untergründig sehr starke, bisweilen auch manifestartig sich aussprechende Konzeption von rückständiger allgemeiner und fortschrittlicher literarischer Sprachverwendung (der Avantgarde) sich so nicht mehr halten läßt, dennoch aber die Aufgabe des dauernden Widerspruchs gegen Verhärtung und lügnerische Verselbstständigung des eingeschliffenen Sprachgebrauchs (und damit eingeschliffener Erlebniswelten) von Wirklichkeit fortbesteht, wie dies Heissenbüttel in seinem Thesenpapier pointierte – das wäre das Thema, das sich ein in den teilnehmenden Autoren und Kritikern erweitertes, behutsam erweitertes erneutes Colloquium zur Neuen Poesie im nächsten Jahr zu stellen hätte.
Jörg Drews: Das Offene offen halten. Zu einem „Colloquium Neue Poesie“ in Bielefeld. In: SZ, Nr. 46, 24.2.1978.