Jörg Drews: Das stille Schilf rauscht im Karton, oder: Zum Verzweifeln schlecht, das heißt: großartig. Zu Wolfgang Bauers Lyrik¹
… und dann betritt man also den Ausstellungsraum im MAK in Wien und schiebt Kopf und Körper in die herumstehenden Holzkabinen – kleine Buden wie in einem Wahllokal, schier naturbelassen hölzern, man fühlt sich wie in Steirischen Wäldern mit all den Bäumen oder Büschen daneben –, und dann halten sie alle in den Video-Kästen ihre Erinnerungs- und Deutungs-Monologe, die drei Dutzend Aufgeforderten, die näher oder ferner Wolfgang Bauer begleiteten, und ich bin überrascht und oft sehr erfreut. Denn in der Tat kommt ein Chor zustande, der einen von den verschiedensten Seiten Wolfgang Bauers erzählt, grübelnd stottert, murmelt, singt. Man steht in einem Stimmenwirrwarr: Dutzende Stimmen von draußen, von außerhalb der Hör- und Seh-Bude vereinigen sich fast zu einem Dröhnen, und direkt vor dem Hörer/Seher ist da noch die eine deutlichste Stimme. Man steht in einem Plappern und Rauschen, steht in teils nervigen, teils summenden Klangfällen, in einem diffusen Konzentrat aller Redenden, das ist schön und intensiv.
Mein zweiter Gedanke beim Zuhören und Zuschauen: Hoffentlich wird das alles aufgeschrieben, das heißt: abgeschrieben und doch wenigstens in Auszügen publiziert. Denn was etwa Helnwein, Attersee oder Achternbusch sagen – um nur diese drei zu nennen –, ist nicht bloß flüchtig ins Mikrophon geredet, sondern oft ruhiger Einsichten voll, bewundernswert nachdenklich, meist druckreif formuliert, und wenn versammelt in einem Buch, wäre diese Addition und Montage ein wirklicher Beitrag zu einer Charakteristik Wolfgang Bauers. Schon dass den Sprechern ihre Gedanken und Erinnerungen zu Wolfgang Bauer freundlich abgefragt wurden, macht die ganze Installation zu einem geglückten Unternehmen.
Mir fiel aber auf, dass wieder einmal wenig über den Lyriker Bauer gesagt wurde, dem meine Liebe gilt, seit ich ihn vor 38 Jahren, im Oktober 1969, in München zum ersten mal lesen hörte. Dass er ein großer Dramatiker ist, stellte sich ja damals schon heraus, hatte sich schon herausgestellt, aber dann tauchte er in einer Montanus-Buchhandlung in der Leopoldstraße auf und stand neben dem hinter ein Harmonium gepflanzten Herbert Feuerstein und die beiden rezitierten und spielten, und ich wusste: Nicht nur ist der drei Jahre früher erschienene Fieberkopf ein großer Roman, sondern Wolfgang Bauer, der Autor und Rezitator dieser Gedichte in Das stille Schilf, ist ein wahrhaft einzigartiger Lyriker, er ist, was Lessing vom Phönix sagt, „der einzige seiner Art“. Was er fertigbringt, ist so was wie eine unheimliche, aber heitere Verstörung, eine Art gequältes Entzücken: Der Mann schreibt großartige schlechte Gedichte, Gedichte, die so peinlich und ‚daneben’ sind, dass sie schon wieder gut sind, Gedichte, von denen jedes einzelne das Paradox verkörpert, großartig miserabel zu sein. Wir alle können schlechte Gedichte schreiben, naja, vielleicht nicht wir alle, aber doch außer 120 Leuten alle im gesamten deutschsprachigen Raum, aber dieser Bauer macht aus dem ‚Daneben’ eine Kunst, bringt kalkuliertes Können mit und es entsteht etwas, was zum Steinerweichen schlecht und zugleich – ganz unironisch gesagt: herzbewegend ist.
Dieser Wolfgang Bauer also hatte den Mund aufgemacht und – ich war ein Jahr vorher erst intensiver mit der österreichischen Literatur jener aktuellen Tage, mit der Wiener Gruppe und mit den Grazer Dichtern in Berührung gekommen – rezitierte, mit etwas gehobener Intonation, noch nicht Gesang, aber bestimmt nicht mehr Prosa, schwebend mit leichtem, halbfeierlichem Vibrato und natürlich stark dialektal gefärbt (was ich damals stärker wahrnahm als heute):
Das stille Schilf
Früh sprüht es im Dunkel
unser stilles Schilf
mikroskopisch klein in uns – aber
vorhanden
Das Rauschen des stillen Schilfes
ähnelt dem Gleiten Gottes im Gebüsch
der Neger braucht Sonne
Zum Bräunen
der Neger braucht Sonne
zum Bräunen
Das stille Schilf ist unser Leben
Früh sprüht es im Dunkel… (V 12)
Und ich genoss die Wonnen einer Lyrik, die sowohl der damals angesagten Abstraktion (wir lebten schließlich in der Zeit der auslaufenden Askese von Konkreter und experimenteller Poesie und zugleich der bilderreichen Konvention der damaligen bürgerlichen Lyrik) wie auch der Pathosferne aller Dichtung entsagte (über Pathos liegt ja bis heute ein Tabu) und sich entschlossen ins Pathetisch-Großspurige wagte, jenes verfehlt Großspurige, Uninhibierte, das man kennt, wenn man in einem Lyrik-Wettbewerb 200 Manuskripte durchlesen muss, von denen etwa 197 von der Unfähigkeit zeugen, auch nur ein einziges originelles Gefühl oder einen einzigen originellen lyrischen Gedanken zu haben, gekrönt vom absoluten Versagen beim Ausdruck desselben. Meine Lust war die an einer Unkonventionalität von Lyrik, die verrückterweise darin bestand, dass herkömmliches lyrisches Gelingen kalkuliert vermieden und der Leser bzw. Hörer systematisch um das geprellt wurde, was er sogar dann erwartete, wenn er selbst keinen ganz spießigen literarischen Geschmack hatte: Aufbau eines Textes im Sinne von Setzung eines Anfangs, Steigerung, Bearbeitung eingeführten Vokabulars oder exponierter Motive, Spannungszunahme, Resümee, Pointe, eventuell auch Pointe in der Art befreienden, explosiven Gelächters. Dies alles also nicht (übrigens trotz ziemlich subtilen Umgangs mit einer Szene aus dem Alten Testament: Gott spricht aus dem Dornbusch etc., wie ja auch bei Bauers Gedicht November ein Schubert-Lied nicht weit ist…), sondern eher nur eine Folge von Implosionen, die einen blaß werden lassen, gekrönt vom Ausbleiben einer abrundenden Schlussformulierung.
Nun könnte man sagen, dass dies alles in eine modifizierte Kalauer-Tradition passe, in die Geschichte der berechnend ausgenützten oder unbeabsichtigten schiefen Pointe von Friederike Kempner bis – tja, sogar bis Gerhard Rühm, jeweils mit unterschiedlichen Graden des unfreiwilligen oder kalkulierten Hineinfallenwollens oder Hineinfallens. Im Englischen gibt es den Terminus „malapropism“, das sind falsch und ‚schräg’ sitzende Worte, die anderen Worten beigegeben werden als Adjektive etc., d.h. ein Phänomen, das mit dem falschen, klischeehaften, flachen Adjektiv zusammenhängt, welches, weil es bemüht oder altmodisch ist, albern neckisch wirkt: Etwa wenn ein Scheitel „eigensinnig“ genannt wird oder irgend jemand „emsig“ oder die Welt „bunt“, und dies ist dann wieder der Katachrese, der Bildverschränkung verwandt, und beide erzeugen dann Kalauer, peinlich missratene Wortspiele, auf die man mit einer Art ästhetischer Verlegenheit – eben mit implodierendem Gelächter – reagiert, es sei denn, man entschließt sich, solche Stellen anarchischerweise zu lieben. Für den Einsatz solcher schmerzhaft misslingender geistreicher Formulierungen hatte ja Konrad Bayer schon in den fünfziger Jahren geworben; von ihm stammt der Satz: „Der Kalauer ist eine Delikatesse des Geistes.“ Bei Wolfgang Bauer lautet so was dann „… Mond! / Stiller Genosse im All …“ – das ist die dümmliche, peinliche Variante des Klopstockischen „Mond, stiller Gefährte der Nacht“ –, und dann sind zahlreich jene kaum noch anzuwendenden Formeln wie die preziös alberne von der „Gegend, wo meine Wiege stand“. Am vertracktesten sind natürlich Gedichtzeilen, wo diese Phänomene alle miteinander und in äußerster Verdichtung auftreten, etwa in dem Lyrismus „Gedanken sind hohe Fichten / sie wehen über uns / schütteln ihre Köpfe.“ Und es schaudert einen, wenn in moralistischster Manier vor einer hochsündigen „Bar“ gewarnt wird – erschrecken konnte das natürlich nur, wenn man die Moral der fünfziger Jahre noch erlebt hatte:
Wenn anderswo die Lichter erlöschen
öffnet die Bar.
Kleine Höhle erwacht.
Schwirrend und lockend.
Rums! Fällst du hinein
vom Jazzschleim gesogen
– sitzt du und trinkst dich zu Tode.
Moderne Fallensteller
moderne Mohikaner
DIE BARWIRTE! (V 30)
Nun gibt es in Wolfgang Bauers Lyrik dann aber eine Wendung, die über diese verstörende Kleinarbeit an der misslingenden Formulierung hinausgeht, eine Wendung zeitlich zwischen Das stille Schilf und dem Band Das Herz. Schon im leicht zergrübelten Schilf gibt es beginnende Aufschwünge in Große, ins Weite, ins Weitausholende, und diese Neigung zu einer weiträumigen, sozusagen ‚positiven Rhetorik’ kommt dann im Band Das Herz voll zum Ausdruck und Ausbruch. Mir scheint, die Gedichte des Bandes Das Herz entspringen dem eher unironischen Wunsch, endlich einmal wieder begeistert sprechen zu können, endlich einmal wieder nicht vorsichtig und kontrolliert und untertreibend zu sprechen, sondern voller Weltvertrauen, ganz affirmativ. Dass er damit allein stehen würde, wusste Bauer aber wohl doch; er muss ja gewusst haben, dass es nicht nur eines braven Entschlusses bedarf, lyrisch unmittelbar und naiv zu sprechen, sondern dass Kolletaralschäden und Selbstsubversion dabei eben doch schon wieder einkalkuliert werden mussten. Naivität ist nicht in jedem Moment möglich, man muss sie vielmehr simulieren, das heißt also: kalkulieren, also erdenken, als Inszenierung einsetzen. Ich habe dabei das Gefühl, dass Wolfgang Bauer sogar wirklich einmal unschuldig wie ein Kind sein wollte, glücklich aufgehoben in der Sprache aller, zu allen und fast wie alle, jedenfalls verständlich wie alle zu sprechen, nicht mehr das moderne vereinzelte, grundsätzlich leicht depressive Ich zu sein. Aber er kann sich dann doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Enthusiasmus ein schwer durchzuhaltendes Hochgefühl ist, dass es notwendig der Täuschung und Selbsttäuschung überführt oder missverstanden werden wird, ganz im Sinne der schönen bösen Maxime von Walter Serner: „Jeder Enthusiasmus ist prekär; das peinliche Eingeständnis, dass man es nicht besser machen kann und auch nichts weiß.“2 Desillusioniertheit und Einsamkeit sind nicht einfach per Willensakt aufzuheben und mit lyrischen Aufschwüngen zu überbrücken oder zu verdrängen; es ist kein Zufall, dass Kollektiv-Liedhaftes in der Lyrik des 20. Jahrhunderts kaum anzutreffen ist – mit Ausnahme eben der Gedichte mit faschistischem oder kommunistischem Hintergrund, also verordneter Kollektivität. Und so passiert Bauer in den großen Reflexionsgedichten ein inszenierter Stolperer nach dem andern:
Gerade an den Gedichten in Das Herz ist zu bewundern, wie sich Bauer einem Stil- und Ausdrucksproblem stellt, um das sich die Autoren der Alltags-Parlando-Prosa-Lyrik um 1980 drückten bzw. das sie für gar nicht bewältigbar hielten, nämlich das Problem der Emphase, also emphatischen Sprechens, und zweitens die Frage der Erfindung und des Einsatzes oder eben der Vermeidung der Metapher. Groß möchte er sprechen, weiträumig, ausholend, hymnisch pathetisch, nicht kleinlich-kleinkariert Gefühlen nachsinnend, sondern endlich einmal bedeutend, voller Weltvertrauen, auch mit ein bisschen Liebe zur Menschheit und zur Heimat, groß feiernd, groß klagend. Es gibt eine rührend großspurige Theatralik in diesen Gedichten, die ‚stark’ sein und nicht lyrisches Wort- und Gefühlsgekrümel liefern wollen, sondern, wie Albert Ehrenstein 8o Jahre vorher formuliert hat, „meteorisch hinschießen über irdische Bahn“. Genau dabei, bei dem ‚Diesen Kuß der ganzen Welt!“, verheddert er sich immer wieder dass Gott erbarm’, und wenn man bedenkt, dass bei einem ähnlichen Unternehmen, nämlich den „starkdeutschen“ Gedichten von Matthias Koppel aus den frühen achtziger Jahren, eine ähnlich verkorksende lyrische Sprache herauskam, weil Ungebrochenheit einfach nicht zu kriegen war, so ahnt man, dass es eben zu einem bestimmten Zeitpunkt objektive, überpersönliche Ausdrucksprobleme in einer Sprache bzw. in einer Region (wenn wir einmal das deutschsprachige Mitteleuropa so nennen wollen) gibt. Die meisten der Gedichte Bauers in Das Herz erreichen solche Größe und Stärke auch beinahe, sie bewegen sich in einem großen Bogen, sie drücken wortreich den Wunsch aus, einmal die Lebensfülle adäquat, fast ein bisschen Walt Whitman-ähnlich zu besingen, was vielleicht auch mit der Erfahrung der großen Reisen Bauers in den siebziger Jahren zusammenhängt. Der Gestus bleibt dann aber doch häufig sozusagen ‚leer’ in der Luft stehen, als sei er von einer großen Geste mit der Hand begleitet, und diese Hand bleibt dann ungenau in der Luft, verharrt ohne Entspannung; eine Lösung, Katharsis, Befreiung funktioniert nicht, es gibt keine entspannende Abfuhr, keine „Pointe“. Außerdem bleibt das, was man so den „Geschmack“ nennt , nicht gewahrt, die Sprache ist ein bisschen zu dröhnend und dann wieder an Trivialem sich entzündend und endlich hohl, und stilistisch wimmelt es von herrlichsten Ausrutschern – es herrscht die schon beschriebene Neigung zu vielfältigen Varianten von Stilblüten und Kalauern.
Das ist aber – an dieser Stelle in Parenthese bemerkt – in der Literatur des 20. Jahrhunderts ein häufiges und konstruktives Prinzip, ein Phänomen, das nicht mehr mit Kriterien wie dem des Guten Geschmacks, der Stilsicherheit, des Geistreichtums oder der Beherrschung von ‚Formen’ zu beurteilen bzw. zu verurteilen ist, sondern auch der Suche nach neuen Formen, neuen Verknüpfungsweisen der poetischen Partikel (Wörter bzw. Worte, Bilder, Redensarten usw.) sich verdankt: Otto Nebel, Kurt Schwitters und Albert Ehrenstein wären in diesem Zusammenhang zu nennen, nach dem Zweiten Weltkrieg dann Gerhard Rühm und Ernst Jandl, Arno Schmidt und Dieter Roth, deren Texte vielfach durch Kalauder-ähnliche Vorrichtungen vorwärts getrieben werden, ganz zu schweigen von jenem Buch, das allein durch Wortspiele aller Art – Wortspiele, die jeweils für sich genommen oft albern sind, dann aber dem ganzen Text doch wieder eine geheimnisvolle Magie verleihen – verknüpft oder geknüpft ist, nämlich Finnegans Wake von James Joyce. Zu fragen wäre, woher das kommt.
Ist das eine Signatur der Zeit, dass sowohl alle Inhalte wie auch alle Verknüpfungsweisen – und seien es auch die kontingentesten, albernsten, sprunghaftesten – in der gegenwärtigen Ästhetik (oder doch in der radikaleren Ästhetik des 20. Jahrhunderts) zugelassen sind, dass es da kein ‚hoch’ und ‚niedrig’ mehr gibt, eventuell auch keine genaue Scheidung zwischen ‚ernst’ und ‚unernst’, was ja an den Gedichten Bauers vor allem in Das Herz gut zu studieren ist, denn dieser Band ist existenziell wirklich „tief“ einerseits, und von großem Ernst, aber zugleich dröhnt er hohl, ist lachhaft, und diese beiden Seiten bleiben zueinander in Spannung, und das Ganze ist keinesfalls einfach nur belanglos, Unernst, vielmehr muß die Frage ernsthaft lauten: Ist der Kalauer der Witz und Esprit-Ersatz des Plastik-Zeitalters?
Darin ähnelt Bauers Lyrik der eines anderen großen Dichters, der als bildender Künstler weltberühmt ist, als Lyriker aber schier unbekannt, obwohl es mehrere Bände mit seiner Lyrik seit den sechziger Jahren auf dem Markt gibt, nämlich Dieter Roth. (Nebenbei: Bauer auf die Frage, ob er Gedichte von Dieter Roth gelesen habe: „Na, locker!“) Bei Roth aber klingt’s noch vertrackter als bei Wolfgang Bauer, doch die Nähe der beiden Poeten bzw. ihrer Gedichtkonzepte ist groß:
Bei der Nacht
Manchmal fällt noch von der Höhe
nachts dem Wind aus seinen Händen
die Trompete runter,
auf dem Wasser in der Tiefe
einen Marsch zu blasen.
Und die Menschen in den dunklen
Kammern machen Wummtata.3
Das ist knorriger, gestauchter als die meisten Gedichte Wolfgang Bauers, aber doch in der verknorzelten Bildlichkeit nahe bei ihm, koboldiger bei ähnlich gebrochenem Pathos, das aber an einer Art Schusselei zuschanden wird, wie bei Bauer der „große“ Ton in einer Serie kleiner Stolpereien sein Ende findet, sich jedenfalls nicht wirklich zu großem Flug erhebt, etwa in dem Gedicht Harry’s Bar in New York oder auch in Flying home oder Las Vegas oder in Selbstgespräch. Und die eifernd-wütende Sprachreflexion in dem Gedicht Krüppel Sprache ist eigentlich nur eine Serie von Missgriffen beim Versuch, Bilder für die allgegenwärtige, allbehindernde, ewig feindliche Sprache , mit der der Autor, das sprechende Ich so demonstrativ kämpfen muss: mehr falsche Bilder, lächerlich forcierte Metaphern für das Feindbild „Sprache“ gab es noch nie!
Und dann setzt Bauer daneben als Pointe die in ihrer Totalität selbst wieder komische Ernüchterung, schief lächelnd gesagt: den allen Schwung tonlos unterlaufenden Alltags-Realismus, und gönnt sich und dem Gedicht noch nicht einmal das Aufheben eines Titels, damit nicht so etwas wie eine Summe oder eine Deutung herauskommt, und das geht dann so:
Er ging
die Straße entlang
bis zur Haustür.
Er öffnete die Haustür
und verschwand im Haus.
Im Haus
machte er Licht
und lief die Treppe empor.
Bei Nr. 10 hielt er
Und klingelte mehrmals.
Seine Frau öffnete die Wohnungstür
und ließ
ihn
eintreten.
Das Nachtmahl stand auf dem Tisch
und zwar gab es
Eierspeis mit Salat.
Um elf löschte er das Licht
und begab sich mit ihr
zu Bett.
Im Bett puderten sie noch eine
Zeit lang, dann
entschliefen sie
und erwachten zugleich
um 7 Uhr
als der Wecker schellte. (V 155)
So flach und pointenlos darf doch kein Gedicht sein, das ist doch zum Lachen! In der Tat, aber man lacht genau deshalb, weil mit jeder Zeile, das heißt zeitlich: mit jedem Bruchteil einer Sekunde nichts Bemerkenswertes kommt und sich zugleich die Erkenntnis steigert, dass größte Teile des Lebens genau so sind, dass dies also ein ‚realistisches Gedicht’ ist und damit ein verblüffendes Stück Alltagspoesie. „Bedeutung“ wird unterlaufen und dafür keine explizite Rechtfertigung geliefert: Verismus kommentiert sich nicht auch noch selbst! Und wenn, wie es in Magic Afternoon heißt, die Welt „unhamlich schiach“ ist, dann ist das doch Rechtfertigung genug für „schiache“ Gedichte aller Art.
Eigentlich stehe ich bis heute fassungslos vor den Gedichten Bauers, erstens deshalb, weil ich nicht verstehe, warum Lyrik-Leser nicht schon längst in Scharen über diese Gedichte hergefallen sind und sie auswendig rezitieren können – Bauer selbst hat übrigens dem damaligen Lektor bei Residenz diese Gedichte mit der aufgekratzten siegessicheren Bemerkung übergeben, dieser Band werde mit Sicherheit ein riesiger Erfolg werden. Klar, dass das eine enorme Fehleinschätzung war, eine Fehl=Überschätzung des Publikums. Zweitens aber bin ich immer wieder aschfahl im Gesicht – oder ich fühle mich doch so, als hätte ich ein solch fahles Gesicht bei der Lektüre, und obendrein so ein flaues Gefühl im Magen – , wenn ich mir Rechenschaft ablege darüber, wie diese Gedichte mit absoluter Präzision flach auf den Bauch fallen, wie passend die unpassenden Bilder gefügt sind, wie meisterhaft hier die Peinlichkeit des Misslingens erzeugt wird und dabei doch das Misslingende zum Meisterwerk gefügt wird, indem Fassungslosigkeit sich angesichts der Art dieser Gedichte in einem Grad einstellt, den man nicht für möglich gehalten hätte. Aber eigentlich kennen wir das ja prinzipiell doch – dass nämlich Qualität sich vor allem da zeigt, wo es für die Beschaffenheit bestimmter künstlerischer Objekte noch gar keine Termini gibt, noch gar keine Ästhetik. Man nehme zum Beispiel das Gedicht Liebe:
Wenige sind in sie eingedrungen,
in den kneifenden Sumpf,
an dessen breiigen Rändern aber oft
Dotterblumen blühen;
Sumpf oder Dotterblume
Wehmut oder Liebe –
Fragt die zwitschernde Amsel vom Baum
– vom Liebesbaum. (V 41)
Manchmal denke ich, es liege hier vielleicht eine ganz subtile Art von Sadismus vor, hier würden wir Leser nicht nur kalkuliert gequält, sondern uns auch die begrifflichen Mittel genommen, die Instrumente zu benennen, mit denen uns die Qualen zugefügt werden. Ist das Gedicht Liebe vielleicht, obwohl es den Kitsch zu sabotieren scheint, eben doch kitschig? Ist der Text so ausgepicht hirnrissig, dass er den Leser auf die Dauer hirnrissig macht? Sind die Wörter, die Bilder zum Teil so gewählt, dass sich fast Verzweiflung breit macht ob der Bodenlosigkeit etwa der Zusammenstellung „kneifender Sumpf“? Und wie kommt es, dass wir die Fehltreffer aller Art lieben, sie auch noch genießen? Man nehme den Zweizeiler Die Sumpftänzer:
Tanzend über dem Sumpf
Sprachen sie über Vernunft (V 157)
… quälend ist da doch der unreine Reim, die starke suggestion, es müsse „Vernunft“ sich auf „Sumpf“ reimen, was es ja nicht tut, obwohl wir eigentlich „Vernumft“ sprechen – aber dann fehlt doch wieder das „t“ bei „Sumpf“. Es ist heillos. Und weiter: Hängen Lust und Qual auch damit zusammen, dass wir leise oder deutlich ahnen, dass wir selbst, schrieben wir Gedichte, ziemlich genau ebensolche schlechten Gedichte schreiben würden, die allerdings dann wieder nicht so gut schlecht wären wie die Wolfgang Bauers? Ist eigentlich je schwachsinniger über den Kuss (oder „Kuß“, wie Bauer noch schreibt: Respekt vor der Tradition!) gesprochen worden als in diesem Gedicht:
Der Kuß
„Das Aufeinanderklappen
zweier Menschenpappen…“
sagt scherzhaft der Schelm.
Doch ist
der Kuß
nicht noch mehr?
Ineinandergleiten der Seelen
von sanfter Begierde
bewogen –
im Walde der Zungen.
Ob im Haustor oder im Bette
Ob im Urlaub oder an der Arbeitsstätte –
ist der Kuß immer weise
ist der Kuß immer stilles Schilf. (V 40)
Warum soll der Kuß immer „stilles Schilf“ sein? Etwa weil in dem Gedicht Das stille Schilf einmal „das stille Schilf“ mit „unser Leben“ gleichgesetzt worden ist? Und also ist der „Kuß“ „Leben“? Aber das ist doch … ja, was ist das doch? Da hilft nur der schöne pompöse Satz von Ernst Robert Curtius: „Das Fragen ist nicht die schlechteste Art, von einem Thema Abschied zu nehmen.“
Anmerkungen
1 Der Beitrag ist eine etwas abgeänderte Fassung einer Rede zur Eröffnung der Ausstellungsinstallation MEMORY XS im Wiener MAK, gehalten am 18.9.2007.
2 Walter Serner: Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen. Hrsg. Von Andreas Puff-Trojan. Mit einem Nachw. von Georg M. Oswald. Zürich: Manesse 2007. S. 35. (Erstausg. Hannover 1927.)
3 In: Dieter Roth: Die GESAMTE SCHEISSE. Berlin: Rainer und Stuttgart: H. Mayer 1973, S. 137.
Jörg Drews: Das stille Schilf rauscht im Karton, oder: Zum Verzweifeln schlecht, das heißt: großartig. Zu Wolfgang Bauers Lyrik. In: Wolfgang Bauer. Lektüren und Dokumente. Hg. von Paul Pechmann. Ritter, Klagenfurt 2007, S. 15-22.