Jörg Drews: „Denn wer den Bestien seiner Zeit genug hat angetan / der hat gelebt.“ Notizen zu den Ähnlichkeiten zwischen Karl Kraus' „Die letzten Tage der Menschheit“ und Otto Nebels „Zuginsfeld“.
xJa / wenn der Höchste wird vom
Kirch-Hof erndten ein / So wird ich
Todten-Kopff ein Englisch Antlitz
seyn.
Daniel Casper von Lohenstein
Für Alfred Kolleritsch
1.
Sieht man von einigen der visionären Kriegsgedichte Georg Heyms aus der Zeit vor dem Krieg und von den thematisch einschlägigen Gedichten Georg Trakls, August Stramms und Franz Richard Behrens‘ ab1, so ist die Antikriegs-Lyrik des Expressionismus meist zwar in ihrer Hilflosigkeit bewegend und in ihrer moralischen Haltung sympathisch, aber ästhetisch – im Sinne einer poetisch-intellektuellen Adäquatheit zu ihrem Gegenstand – höchst problematisch bis unerheblich. Es scheint, daß die Dimension des Themas, der ans Unfaßliche heranreichende Eindruck des Erlebnisses nicht nur dem einzelnen Schreibenden die Sprache verschlugen, sondern daß sich objektiv die Frage der Darstellbarkeit des absoluten Schreckens stellte. Und dies nicht nur während und nach dem Ersten, sondern auch nach dem Zweiten Weltkrieg, bis hin zum Vietnam-Krieg. Die Werke von Remarque und Renn, „Im Westen nichts Neues“, „Krieg“ und „Nachkrieg“, Mailers „The Naked And The Dead“ und Jones‘ „From Here To Eternity“, selbst die beiden eher indirekten Annäherungen Arno Schmidts an Kriegsschilderungen in „Leviathan“ und „Aus dem Leben eines Fauns“2 und schließlich der angebliche Antikriegs-Film „Apocalypse Now“ von Francis Coppola zeigen, trotz ihres zum Teil riesenhaften ‚Erfolges’, so etwas wie Variationen des Scheiterns vor ihrem Sujet: Inadäquatheit der Sprache angesichts des Gegenstandes, hinterrücks sich einschleichende Heroisierung des Kampfes – mag dieser auch expressis verbis moralisch verdammt und als sinnlos denunziert werden –, eine Tendenz zur unfreiwilligen Ästhetisierung des Grauens, geiles Vergnügen am Schrecklichen, usw. Hinzu kommen offenbar auch wirkungspraktische und erkenntnistheoretische Probleme; schlagwortartig kann man sie so kennzeichnen: Muß man, wenn man aufrüttelnde Wirkung bei einer breiten Leserschaft erzielen will, nicht den Weg über den konventionellen Roman als Vehikel wählen – wie dies Remarque und Renn taten? Und ist nicht umgekehrt alle Literatur dem Sujet Krieg inadäquat, wenn es nicht um die Darstellung vergleichsweise vordergründigen Kampfgeschehens geht, sondern um die Darlegung der Ursachen, für die dann die der Soziologie und Gesellschaftstheorie zur Verfügung stehenden Begriffe viel präziser sind? Damit in Zusammenhang steht schließlich auch die Frage, wieweit zum Beispiel die Erzählung eines Einzelschicksals (oder auch eines Gruppenschicksals) modellartig und stellvertretend für ein „Ganzes“ stehen, auf größere Zusammenhänge durchsichtig gemacht werden kann.3
2 .
Karl Kraus, Otto Nebel und bis zu einem gewissen Grade auch Edlef Köppen haben aus diesen Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit über den Ersten Weltkrieg die radikalsten Folgerungen gezogen. Für ihre Werke, für „Die letzten Tage der Menschheit“, „Zuginsfeld“ und „Heeresbericht“ gilt, daß der Widerspruch zwischen Ideologie/ Phraseologie einerseits und Frontrealität andererseits das Ziel ihrer Darstellung ist und daß sie zugleich Einzelerleben und Einzelschicksal als Teil von Massenhaftigkeit und allgemeiner Gesetzlichkeit des Geschehens darstellen wollen – und wissen, daß sie es so darstellen müssen. Köppen hat an der stark autobiographisch gespeisten Schilderung eines einzelnen Soldatenschicksals festgehalten, hat aber durch das Einschieben von Zitaten aus offiziellen (oder später, nach dem Ersten Weltkrieg, offiziell gewordenen) Dokumenten von internen Heeresanweisungen über Zeitungsberichte bis zu Annoncen in Zeitungen jenen allgemeinen Rahmen in seinen Text gebracht, durch den das Einzelschicksal erst placiert wird und auf Ursachen hin erkennbar, die bei ausschließlicher Schilderung des Einzelschicksals dem simplen Mitleid weichen müssten. Spielt bei Köppen auf diese Weise die authentische Wiedergabe öffentlicher Sprache als des Mediums, in dem das Unheil sich vollzog, nur am Rande eine Rolle4, so sind Kraus und Nebel hier radikaler vorgegangen. Sowohl die „Letzten Tage der Menschheit“ wie auch „Zuginsfeld“ sind Zitat-Collagen, rekonstruieren also Krieg nicht in einer poetischen Sondersprache, die unterschieden wäre von der im Krieg gesprochenen Sprache, sondern in der Sprache, in der der Krieg geführt wurde: beim Militär, an der Front, in der Presse und in allen möglichen gesellschaftlichen Situationen und Verlautbarungen. Kraus wie Nebel hatten es offenbar aufgegeben, eine solche poetische Sondersprache überhaupt noch konstituieren zu wollen angesichts dieses Sujets, sondern machten authentische Sprache zum Material ihrer Montagen bzw. Collagen; was die Gattung angeht, so organisierten beide Autoren gewissermaßen Monstren, Texte, die als Gattung noch nicht dagewesen waren, die nur im Falle von Kraus sich an vorhandene Gattungen anlehnten und in denen sie ihr Zitat-Material manipulierend spezifisch anordneten. Für Kraus‘ „Letzte Tage der Menschheit“ wird der Anteil des wortwörtlich übernommenen Materials auf fast 6o Prozent geschätzt5, bei Nebel dürfte er noch höher sein, wobei allerdings die genaue Berechnung bei ihm Schwierigkeiten macht, da er oft gar keine vollständigen Sätze mehr übernahm oder übernehmen konnte, sondern nur noch Einzelworte oder Satzfetzen reihte. In Abwandlung des Untertitels von Heinrich Manns „Der Untertan“ könnte Kraus‘ wie Nebels Dichtung im Untertitel heißen „Geschichte der öffentlichen Sprache unter Wilhelm Il.“ bzw. „Geschichte der öffentlichen Sprache unter Franz Joseph“.6
3·
„Die letzten Tage der Menschheit“ und „Zuginsfeld“ sind satirische Porträts einer Gesellschaft und ihres Krieges, zusammengesetzt aus ihrer Sprache. Kraus hat noch an der Form des Dramas festgehalten, die er ins Mysterienspiel mit Anklängen an „Faust II“ erweiterte und zum „Marstheater“-Stück sich auswachsen ließ, absoluter Sprachnaturalismus, zur Allegorie organisiert; es gibt bei ihm immer noch Figuren (zum Teil sogar historisch genau verifizierbare) und Szenen (zum Teil ebenfalls wörtlich verbürgte). Im „Zuginsfeld“ gibt es zwar Ansätze zu Szenen mit dialogischem Verlauf (etwa Abschnitt XII und XIII, wo Nebel ein fiktives Gespräch mit einer „Exzellenz“ und dann mit Wilhelm II. führt), doch insgesamt sind bei Nebel verlaufende Zeit und identifizierbare Personen aufgehoben und in der absoluten Typizität und Simultaneität von Sprache, die nicht mehr einzelnen Sprechern zuweisbar ist: Handlung im Sinne von Chronologie, Mimesis und wenigen identifizierbaren historischen oder fiktiven Protagonisten ist nicht mehr rekonstruierbar. Ist übrigens ein „Einfluß“ von Kraus auf Nebel denkbar? Zum Zeitpunkt der Niederschrift der ersten Fassung des „Zuginsfeld“ um die Jahreswende 1918/1919 im englischen Kriegsgefangenenlager Colsterdale kann Nebel höchstens vom Satiriker und „Fackel“-Herausgeber Kraus, vom Kämpfer gegen die Presse und für die Sprachreinheit ganz allgemein gewußt haben, vielleicht auch von der Kraus’schen Technik des satirischen Wortspiels; die erste Gesamtausgabe der „Letzten Tage der Menschheit“ erschien 1918/1919 in vier Sonderheften der „Fackel“, so daß Nebel höchstens für die Niederschrift der zweiten und der weiteren Fassungen des „Zuginsfeld“ 1919 und in den zwanziger Jahren auf eine Kenntnis der „Letzten Tage der Menschheit“ sich hätten stützen können. René Radrizzani hat darauf hingewiesen, daß es im „Zuginsfeld“ einige „vereinzelte Anklänge an Karl Kraus“ gibt, ohne dies näher zu belegen oder auf einen möglichen Einfluß Kraus‘ auf Nebel systematisch einzugehen.7 Ich halte die Frage eines solchen Einflusses für nicht so erheblich, meine vielmehr, daß Kraus wie Nebel die Überzeugung eigen war, die Kraus so formulierte: „Die erfindende Satire hat hienieden nichts mehr zu suchen“8 – daher die beiden Dichtungen aus authentischem Sprachmaterial als dramatische bzw. quasi-epische Collage oder Montage.
4·
Kraus bezeichnete die „Letzten Tage der Menschheit“ als eine „Szenenfolge, die sich nur des dramatischen Scheins als eines Mittels bedient“9; er führt in seine Materialfülle eine Ordnung, ein Strukturierungsprinzip ein, indem er sie szenisch gliedert und die Szenen dieser Zeitchronik ungefähr der Kriegschronologie folgen läßt. Nebel löst sein Aufbau-Problem für den „Zuginsfeld“ so, daß er die XXVIII Abschnitte in aufsteigender Linie an die Hierarchie der wilhelminischen Gesellschaft (unter militärischem Aspekt) bindet; Abschnitt I beginnt mit dem „Gemeinen“ (Soldaten), Abschnitt XII und XIII zeigen „Exzellenz“ und „Majestät“ (Wilhelm II. in einem Gespräch, das sich wie das Gegenstück der berühmten Kraus’schen Szene mit Wilhelm II. und Ludwig Ganghofer liest); Abschnitt XXVIII zeigt wieder „Gemeine“, die aufsteigen wollten und gefallen sind (in der doppelten Bedeutung des Wortes).10 Nebel geht überpersönlicher, typisierender, abstrakter, „synthetischer“ vor; als Strukturierungsprinzip führt er so etwas wie Wortfelder ein, die er angelehnt an die Militärhierarchie hintereinander stellt und zugleich übereinander und untereinander wie die Blöcke einer Pyramide. Jeder Abschnitt ist eine Art Wortfeldexploration; „Zuginsfeld“ ist vokabulär gedichtet, erkundet jeweils ein sprachliches „Register“, ein tätigkeitsspezifisches, schichtenspezifisches, rangspezifisches.
5·
Nicht per Dialog, sondern durch eine Art Schreiten, Stolpern und Gleiten von Wort zu Wort, von Satz zu Satz, von Zitat zu Verdrehung, von Phrase zu zurechtgerückter Phrase, von lautwerdendem Satz zu „verzerrendem“ Echo vollzieht sich der Fortgang von „Zuginsfeld“. Wenn jedes öffentliche Wort die Wahrheit verdreht, gibt es erst durch Verdrehung seine Wahrheit wieder her; folglich besteht die Nebelsache „Syntax“ aus einem System von Verdrehungen, minimalen Abänderungen, hämisch-falschen Übersetzung, Akzentverschiebungen und Verballhornungen, die die Lüge zur Kenntlichkeit verändern. Hinter „Sauer und dekorativ ist es“11 erkennt man ohne weiteres ein „Süß und ehrenvoll ist es“ (I, 77); ein „Aspirant“ wird genannt (I, 157) und mit „Streber“ übersetzt; der „Stellvertreter“ wird in der folgenden Zeile verwandelt und verdeutlicht zum „Menschenschnellzertreter“ (I, 19), die „Hoheiten“ zu „Hohlheiten“ verzerrend berichtigt (I, 55); bisweilen ist eine Zeile das hämisch verdeutlichende Echo der vorangegangenen: „Denn der Krieg nähert sich stets seinem Ende / Von Anfang an / Nähert sich der Krieg deinem Ende.“ (I, 77). „Gar lästig ist die Jagerei“ suggeriert umstandslos „Gar lustig ist die Jägerei“ (l, 13); ,,O Thäler weit“ wird zitiert und die innige Erwartung getäuscht durch die nächste Zeile: „O Hohn“ (I, 11). Manchmal braucht man nur die Vorsilbe auszutauschen oder eine neue hinzusetzen, damit eine grimmige Wahrheit zum Vorschein kommt: „Vorgesetzter“ wird gesagt – dann ist das Gegenteil davon in der nächsten Zeile „Zurückgesetzter“ (I, 7); „Wesen“ wird zu „Verwesen“ (I, 104), analog dazu „pflegen“ zu „verpflegen“ (I, 76). Oder man verschiebt den Akzent, und aus „Das Gewehr übernehmen“ wird „(sich) übernehmen“ (1, 7), und einer wird „versetzt“, dann eröffnet das eine Reihe bedeutungsähnlicher Worte, und über „verstellt“ gelangt man zu „verrückt“ (I, 7). Die zu Herzen gehende Liedzeile „Lieb Heimatland ade“ ist unmittelbar anwesend, wenn man „Dieb Heimatland a. D.“ sagt (I, 57), und wie auch immer die Phrase ursprünglich geheißen haben mag, daß „Mit Geld gegen Gott und Mutterland“ (I, 56) eine Verdrehung ist (wahrscheinlich von „Mit Gott für Kaiser und Vaterland“), erkennt man sofort.12 Die Implikation ist die verächtliche Verkürzung der Argumentation und das Wortspiel die Blasphemie gegen den Reim. „Wer nie im Trommelfeuer lag / Weiß nicht was Nächstenliebe tut.“ (I, 141).
6.
„Die letzten Tage der Menschheit“ sind nicht einfach ein Antikriegs-Drama, denn der Krieg bringt nur eine apokalyptische Zunahme dessen, was Kraus schon vor dem Ersten Weltkrieg bekämpft hatte und worin er die Ermöglichung des Krieges sah: „die weltverderbende Gewalt, die die Kriege erzeugt“13, Dünkel, Barbarei und die Verlogenheit der Presse erreichen nun nur einen Höhepunkt. Daß der Krieg nur die gar nicht so erstaunliche, vielmehr konsequente Fortsetzung und Entfaltung des Ungeistes ist, der die Wilhelminische Gesellschaft beherrschte, wird auch als Nebels Meinung deutlich; die ersten zwölf Abschnitte des „Zuginsfeld“ spielen noch im Frieden, rekapitulieren vokabulär und in szenischen Umrissen eine Friedensübung des Militärs samt Platzkonzert und Marschmusik als Höhepunkt der Ästhetik des Militärischen im Frieden, und erst im dreizehnten Abschnitt (I, 57 ff.) bricht der Krieg aus. Gemeinsam ist Kraus und Nebel der Haß auf die Presse, auf hurrapatriotische Dichtung, auch auf große Teile des Expressionismus. „Mit der Zeit“, schreibt Nebel, „und der Zeitung hat er ‚der verbildete Mensch unserer Tage’ sich das Denken abgewöhnt. Die Lautsprecher haben ihm den Rest gegeben, den Rest genommen“14; „Die Nachtzeitung! / Diese Zeitumnachtung“ (I, 85); „Herr Gangkleffer / Herr Hasenhofer / Toller Unfug“ (I, 84) – solche Zitate ließen sich vermehren. Und analog dazu Kraus, der „Nörgler“: „Ich habe in diesen Schöpfungen Leitartikel, Kriegsdichtung keine Zeile gefunden, von der ich mich nicht schon in Friedenszeiten mit einem Gesichtsausdruck abgewandt hätte, der mehr auf Brechreiz als auf das Gefühl schließen ließe, an einer Offenbarung teilzuhaben“ (LTM 221). Wie immer man die Kraus’schen Argumente, die in den kontrastierenden Szenen implizierten Aussagen zusammengefaßt und wie immer man die in den Nebelschen Wortspielen (den Begriff hier in einem umfassenden Sinn genommen) verdichteten Argumente auseinanderfaltet und paraphrasiert: Sowohl die „Letzten Tage der Menschheit“ wie auch „Zuginsfeld“ sagen eigentlich immer dasselbe: die „unendliche Serie von Einzelangriffen“15 wird vorangetragen von einer einzigen „Idee“: daß der Krieg eine betrügerische und blutige Schweinerei ist.
Keine Idee
Nein
Nur I.D.
Ja
Nur Abkürzung
I nfanterie- D ivision
Sonst kein Gedanke
Sonst keine Vision
Danke sehr. (I, 151)
Da bleibt dem Satiriker nur, die Voraussetzungen fürs Funktionieren und die Taten einer „I.D.“ authentisch darzustellen, dann hat er die ganze „Idee“, die diese Gesellschaft bewegt.
7·
Hinter dem sprachtechnischen Verfahren Nebels im „Zuginsfeld“ und Kraus‘ an vielen Stellen der „Letzten Tage der Menschheit“, insbesondere in den Dialogpartien des „Nörglers“, steckt eine Hochschätzung des Wahrheits- und Erkenntniswerts sowie der überaus ökonomischen – Darstellungsleistung des Wortspiels im allgemeinen und des pointierten Ausspielens von Klangähnlichkeiten im besonderen. Witz und Überzeugungskraft der Wortspiele hängen mit der Kraft zusammen, mit der sie suggerieren, es seien Bedeutungszusammenhänge da, wo Klangähnlichkeiten sind. Es gibt ein hämisch vergnügtes Einverständnis mit der überraschenden Verwandlung eines „unschuldigen“ Wortes in ein „schuldiges“ – daher quittiert man so viele Sätze bei Nebel und Kraus mit grimmig meckerndem Gelächter. Insbesondere „Zuginsfeld“ liest sich wie eine Sammlung von Witzen und Fehlleistungen, genauer: wie ein Text, der dauernd einer zitierten Redeintention eine andere, schäbigere, aber wahrere unterstellt bzw. unterschiebt. „Versprechen verspricht sich“ (I, 45): Was die Gesellschaft verspricht, muß wie mit einem Versprecher nachgeäfft werden, dann hat man das, was sie in Wahrheit sagen müsste: „Vaterland, lieb Vaterland“ muß richtig heißen „Fataland / … Dieb Vaterland“ (I, 13), „Oberste Heeresleitung“ dann also „Oberste Verheerungsleistung“ (I, 44), wie bei Kraus „Stahlbad“ und „Diebstahl“ zu „Diebstahlbad“ zusammentreten. Kann man innerhalb der Nebelschen poetischen Syntax das Wortspiel als organisierendes Prinzip als eine Art Ersatz des Reims bezeichnen, so ist das Wortspiel zugleich auch ein Symbol-Ersatz, in dem Sinne, daß das Wortspiel aus einem Gesetzten, Gesagten eine zweite, tiefere Wahrheit hervorzieht, ihm eine zweite, hässlichere Bedeutung beigibt bzw. auf sie als verborgene verweist. Die Wortspiele bei Nebel konterkarieren die Gefahr abstrakten oder weinerlichen Pathos‘: er unterläuft sie durch die Albernheit des Kalauers. Die satirische Mimesis imitiert ihren Gegenstand, gibt sich so albern wie die Späße der Militärs im Kasino oder in der Operette: „Albern geht die Welt zugrunde“ (1, 43), und „Im tiefen Keller witzeln wir / Auf einer Rasse Beben“ (I, 85). Der Satiriker Nebel entwindet den Kalauer denen, die er angreift, und macht daraus ein Darstellungsmittel der Hilflosigkeit und Verzweiflung, die so groß ist, daß sie Trost und Gegen-Wahrheiten gar nicht mehr positiv formulieren kann. Nebels und Kraus‘ satirische Mimesis enthält ein Element der „Identifikation mit dem Angreifer“ (Anna Freud) und ist zugleich Gegenzauber: Man läßt die Wirklichkeit als Phrase aufmarschieren und stellt ihr dann ein Bein. Das ist nicht vornehm, aber wie soll man auf die Dummheit einer Gesellschaft und das Verbrechen eines Weltkriegs noch vornehm reagieren?
8.
Wagenknecht hat festgestellt, daß während des Ersten Weltkrieges in den Publikationen Karl Kraus‘ in der „Fackel“ Wortspiele und amphibolischer Gebrauch historischer Metaphern – sprich: Phrasen – zunehmen, daß dies jedoch nicht gilt für die „Letzten Tage der Menschheit“.16 Das hängt damit zusammen, daß in den „Letzten Tagen der Menschheit“ der Kommentar auf weite Strecken im Vorgezeigten, Vorgeführten, Zitierten selbst steckt; das Zitierte entlarvt sich selbst, muß nicht durch das kommentierende, versteckte Wahrheiten ans Licht ziehende Wortspiel entlarvt werden. Wortspiele und wortspielähnliche Techniken finden sich gehäuft nur in den Monologen bzw. Dialogpartien des „Nörglers“ – und der spricht weitgehend wie Karl Kraus in der „Fackel“ selbst. Bei Nebel aber ist der Kommentator gar nicht so klar auszusondern aus den unendlich vielen Stimmen, die da die authentischen Redensarten in den Raum des „Zuginsfeld“ hineinzurufen scheinen und die viel gedrängter und chaotischer jene Vielstimmigkeit erzeugen, die sowohl „Zuginsfeld“ wie den „Letzten Tagen der Menschheit“ eigen ist. Das jedes Wort, jede Phrase umwendende, desillusionierende Dazwischenquasseln des Kommentators im „Zuginsfeld“, der sich gar nicht mehr die Mühe macht, noch extensiv zu argumentieren, sondern dem die gezielte, blitzartig verkürzende Verdrehung schon Argumente genug ist, ist die Entsprechung zur Instanz des „Nörglers“ in den „Letzten Tagen der Menschheit“. Der sagt zum Beispiel: „Müßten sie [die einfachen Menschen] sonst nicht doch einmal den Zwang, für eine fremde Idee zu sterben, als eine Leibeigenschaft empfinden, die tausendmal drückender ist als der reaktionärste Inbegriff des verfluchten Zarismus?“ (LTM 219). Bei Nebel abstrahiert und konkretisiert das Wort „Leibeigenschaften“ nur schlagartig wortspielerisch die beiden vorangegangenen Zeilen „Zerteilte Schädel / Brüllende Wunden“ (I, 169). Derart ist bei Nebel der Kommentator überall, wo das Wortspiel ist, also überall.
9·
Authentisches Material und Kommentar sind bei Kraus getrennt, bei Nebel in eins gesetzt; übertrieben gesagt, ist das der Grund dafür, daß die „Letzten Tage der Menschheit“ so lang sind und „Zuginsfeld“ so kurz ist. Kommentiert wird bei Nebel dadurch, daß scheinbar die Sprache selbst zum Kommentieren gebracht wird; im Wortspiel rebelliert die Sprache gegen ihren Mißbrauch. Allerdings sollte man den Einsatz von Sprache als konkretes und authentisches Material bei Kraus und Nebel nicht mystifizieren. Beide haben sicher entdeckt, daß man Sprache unmittelbar beim Wort nehmen kann, daß sie verräterischer ist, als dies bis zu diesem Zeitpunkt systematisch exploriert worden war, daß man aus ihr literarisch etwas herausprozessieren kann. Aber das Kraus’sche Diktum: „Ich habe manchen Gedanken, den ich nicht habe und nicht in Worte fassen könnte, aus der Sprache geschöpft“17 sollte nicht mystisch verstanden werden; schließlich hat er nicht alle „Gedanken“, die die Sprache nahelegt, nicht alle Wortspielmöglichkeiten zum Beispiel ausgenutzt; er wußte ja, was er „schöpfen“ wollte (jedenfalls inhaltlich bzw. als „Meinung“, in deren Darstellung dann das Wortspiel ihm gerade zupaß kam), und der Sprache wurde etwas abgelauscht, was man nur fand, weil man ungefähr wußte, was man suchte: Stellen, an denen Sprache verrät, wie sie in den Dienst von Lüge und von Wahrheit gestellt werden kann. Wenn Kraus davon spricht, daß die Sprache für ihn eine „Wünschelrute, die gedankliche Quellen findet“ sei18, so war dies eine Art regulative Idee, eine berechtigte Übertreibung, fast eine Utopie. Nebel allerdings hat später versucht, mit solcher Sprachmystik ernstzumachen und eine neue Reinheit und Ursprünglichkeit der Sprache zu konstruieren, sowohl in der Dichtung „Unfeig“ als auch vor allem im „Rad der Titanen“; die Konstruktion verschränkt sich jedoch aufs seltsamste mit der Mystifikation, da berichtet Nebel doch in der Tat, die „Runen“ (also die Einzelelemente seiner ganz neuartigen Sprachewerke) seien ihm als „Zuraunungen“ „geschehen“. Im „Zuginsfeld“ arbeitet er sich noch ab an dem Vokabular, das er als Soldat vier Jahre lang hatte ertragen müssen und das er offenbar wie in einer Art Inkubationszeit in sich gespeichert und arbeiten hatte lassen. In wenigen Wochen schrieb er Ende 1918 die erste Fassung nieder, als ob er die ganzen Wortspiele, die aggressiven Witze, Zoten, Kontaminationen, tendenziösen Umstellungen und Unterstellungen falscher Etymologien usw. aufgestaut hatte; die ganze Auflehnung gegen falsches Pathos, die Schmähung des verlogen „Höheren“ erbrach er wie Dreck in einem Akt der Selbstreinigung, als der Krieg zu Ende war. Die furiose Kraft des „Zuginsfeld“ stammt vielleicht gerade aus der Abstinenz gegen alles Positive, alles Schöne, alles Deutende, und dem rücksichtslosen Einsatz von absolutem Abscheu bei geradezu ekelerregender Vertrautheit mit dem Verabscheuten: Noch wenn er im Alter aus „Zuginsfeld“ vorliest, kann er ganz echt den schnarrenden Ton des preußischen Offizierkasinos nachahmen. „Zuginsfeld“ ist ein Werk aus „Sprachschlamm“19, in einem viel zugespitzteren und unversöhnlicheren Sinn als man dies auch von den „Letzten Tagen der Menschheit“ sagen kann; „Zuginsfeld“ ist häßlicher, „kleiner“ als die „Letzten Tage der Menschheit“, „kleiner“ im Sinne von Deleuze/ Guattaris Plädoyer für eine „Littérature mineure“20 und in diesem Punkt vielleicht der Kraus’schen Dichtung überlegen, die ebenfalls versucht, den Krieg so darzustellen, daß der Wahrheit darüber „niemals eine hohe künstlerische Würde“21 zukommen kann, wie sie noch ein Großteil expressionistischer Dichtung anstrebte. Kraus allerdings gab seinen „Letzten Tagen der Menschheit“ eine größere intellektuelle Reichweite . . . Beide Werke sind Produkte eines historischen Moments, in dem der Kontrast zwischen der Wirklichkeit und der Propaganda, zwischen Wahrheit und Phrase als so groß empfunden wurde, daß diese Spannung literarisch produktiv werden konnte, und dies in einem Maße, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg offenbar nicht mehr der Fall war.
IO.
„Die letzten Tage der Menschheit“ – „ Zuginsfeld“ – schon an den Titeln läßt sich einiges ablesen. Kraus bezieht seine authentische Zeitchronik auf einen religiösen Deutungsrahmen, auf Apokalypse, auf den Untergang der Menschheit im Sinne eines Endes von „Humanität“; die Zerstörung und Selbstzerstörung der Menschen vernichtet „Gottes Ebenbild“ (L TM 770 ), das Tun der Menschen ist „ruchlos“ und „Frevel“ (L TM 767), bedeutet Schändung des „Bildes der Schöpfung“ (LTM 767). Nebel bleibt diesseitig, religiös abstinent; „Zuginsfeld“ spricht nur vom „Feldzug“, von „ins Feld ziehen“ und von der Intention des Werks, satirisch „gegen etwas zu Felde zu ziehen“. Kraus ist in den „Letzten Tagen der Menschheit“ der (negative) Metaphysiker, der Otto Nebel erst später wurde; „Ich habe es nicht gewollt“, die Schlußzeile der „Letzten Tage der Menschheit“ ist der Seufzer des Satirikers, der das nicht wollte und nicht vorführen wollte, was er aber doch vorführen mußte: den Krieg; es ist der schwachsinnig-pompöse Seufzer eines gekrönten Hauptes angesichts des Krieges, für den er die Verantwortung nicht übernehmen will, aber es ist am Ende eben auch die religiöse Frage der Theodizee: Gott hat es nicht gewollt, daß die Menschen so handeln, aber kann er sich damit von seiner Verantwortung dispensieren? Nebel stellt nur rat- und hilflos das Wort „HILFE!!“ an den Schluß des „Zuginsfeld“; das Wort kann gesprochen werden mit donnerndem Pathos, als entsetzlicher Schrei, aber auch als leiser, entfernter, letzter Ruf eines sterbenden Soldaten – oder des Kommentators. Der hilflos wimmernde Ruf als letztes Wort des „Zuginsfeld“ kann natürlich seminarmarxistisch verstanden werden als Ausdruck eines ohne Einsicht in die gesellschaftlichen Zusammenhänge bleibenden spätbürgerlichen Autors, wie man ja auch nachgewiesen hat, daß Kraus in den „Letzten Tagen der Menschheit“ noch eine barocke theologische Erbmasse mitgeschleppt habe und im übrigen natürlich „bürgerlicher Verblendung“ „verhaftet“ geblieben sei.22 Aber solange marxistische Literaturwissenschaft23; bei derlei Einsichten stehen- und steckenbleibt, erreicht sie noch nicht einmal die Wahrheit des letzten Satzes von Kraus‘ und des letzten Wortes von Nebels Antikriegsdichtungen.24
Anmerkungen
1 Die Texte der Gedichte Stramms und Trakls liegen ja leicht verfügbar vor; zu Behrens vgl. Gerhard Rühm (Hrsg.): Franz Richard Behrens: Blutblüte. Die gesammelten Gedichte. Werkausgabe Band 1. Reihe Frühe Texte der Moderne. München: edition text + kritik 1979. Den Titel des vorstehenden Aufsatzes gibt ein Zitat aus Otto Nebels „Zuginsfeld“ ab (Band I, S. 129 der Nebel-Werkausgabe; vgl. Anmerkung 7). Dieses Zitat ist selbst wieder die Verballhornung eines Zitats aus Schillers „Prolog zu ‚Wallensteins Lager’“: „(Denn) wer den Besten seiner Zeit genug / Getan, der hat gelebt für alle Zeiten.“ Wahrscheinlich unabhängig von Nebel ist übrigens Mynona (Salomo Friedländer) darauf gekommen, daß man die „Besten“ Schillers in die „Bestien“ verwandeln könnte; „Wer den Bestien seiner Zeit genug getan, der hat gelebt für alle Zeiten“, heißt es bei ihm auf S. 245 eines Buches, das im Zusammenhang unseres Themas wichtig ist: „Hat Erich Maria Remarque wirklich gelebt? Der Mann. Das Werk. Der Genius. 1000 Worte Remarque“, Berlin: Paul Steegemann 1929. Das Buch ist eine „Satirische Apotheose“ Remarques, aufschlußreich für den Literaturbetrieb Ende der zwanziger Jahre, mit sehr guten literatursoziologischen und psychoanalytischen Einsichten zur Person und zum Werk Remarques, dessen „Im Westen nichts Neues“ als „im besten Sinn mittelmäßig“ und als Werk bezeichnet wird, das den Krieg zum „Konjunkturthema“ gemacht hat.
2 Arno Schmidt, „Leviathan oder Die beste aller Welten“, Titelerzählung in „Leviathan“, Hamburg/Stuttgart: Rowohlt 1949, und A. S.: „Aus dem Leben eines Fauns“, Hamburg: Rowohlt 1953, S. 147-155.
3 Emil Sander, „Gesellschaftliche Struktur und literarischer Ausdruck. Über ‚Die letzten Tage der Menschheit’ von Karl Kraus“. Kronstein/Ts.: Scriptor 1979, gibt der Literatur, egal wie sie die Darstellung von Krieg anstellen würde, überhaupt keine Chance. Einzig die Fahne Brechts wird hochgehalten, weil bei ihm angeblich „die Kunst zu einem Medium einer Revolutionierung der kapitalistischen Gesellschaft“ wird (Sander, a.a.O., S. 263). Daß sie das bei Brecht wird und mit welchen vorbildlichen literarischen Mitteln, erörtert Sander nicht. Vgl. hierzu Adornos Kritik an Brechts „Modell“-Theorie, exemplifiziert an der „Mutter Courage“ in dem Essay „Engagement“, In: Th. W. Adorno; „Gesammelte Schriften“, Band 11, Frankfurt 1974, S. 409-430.
4 Aber eine sehr instruktive Rolle. Hat man bei der Lektüre von Kraus‘ „Letzte Tage der Menschheit“ und Nebels „Zuginsfeld“ manchmal fast den Eindruck, das sei doch alles übertrieben, so belehren einen die bei Köppen einmontierten Zitate eines Schlimmeren, wie auch zum Beispiel die Lektüre von Klaus Böhme (Hrsg.): „Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg“, Stuttgart: Reclam 1975. Übrigens ist es von Zeitungsartikeln, wie sie Köppen aus dem „Hamburger Tageblatt“ vom 19.2.1917 zitiert, zum Dadaismus gar nicht mehr weit. (Edlef Köppen, „Heeresbericht“, mit einem Nachwort von Michael Gollbach. Reinbek: Rowohlt 1979, Rowohlt Taschenbuch 4318, S. 197). Nebels „Zuginsfeld“ liest sich streckenweise wie ein Konzentrat aus Köppen.
5 Franz H. Mautner: „Karl Kraus: Die Letzten Tage der Menschheit“. In: Franz H. Mautner, „Wort und Wesen. Kleinere Schriften zur Literatur“. Frankfurt: Insel1974, S. 98-132.
6 Karl Riha, „Cross-Reading und Cross-Talking. Zitat-Collagen als poetische und satirische Technik“. Stuttgart: Metzler 1971, weist darauf hin, daß schon in Arno Holz‘ „Blechschmiede“ und in Heinrich Manns Roman „Der Untertan“ mit authentischem (poetischem und politischem) Material gearbeitet wird; so besteht ein Großteil dessen, was Diederich Heßling sagt, aus einer Klitterung von authentischen Zitaten aus Reden Wilhelms II.
7 Otto Nebel, „Zuginsfeld, Unfeig, Das Rad der Titanen“. Das dichterische Werk Band I. Hrsg. von René Radrizzani. Reihe Frühe Texte der Moderne. München: edition text + kritik 1979, S. 322.
8 Karl Kraus, „Der Untergang der Welt durch schwarze Magie“. Hrsg. Von Heinrich Fischer, München: Kösel 1960, S. 413.
9 Brief von Karl Kraus vom 17. 11. 1921, zitiert bei Paul Schick, „Karl Kraus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten“. Reinbek: Rowohlt 1965, S. 95.
10 Auf der Ebene des Inhalts nimmt auch Kraus solche Hierarchisierung von Verantwortung für den Krieg vor, ohne allerdings daraus ein Strukturprinzip zu machen: „Mit genauem Blick für die Differenzen der Rangordnungen und für die Register der Qual werden in auf- und absteigender Szenenführung alle Stufen militärischer und ziviler Grausamkeit sowie Leidensbereitschaft ausgeleuchtet … wird gleichzeitig die gesellschaftliche Hierarchie in die Struktur der dramatischen Katastrophe übersetzt, wo sie die Rangordnung der Verantwortlichkeit szenisch offenbart: … einfache Soldaten und andere Menschen der Unterschicht erscheinen in den ‚Letzten Tagen’ stets als Opfer“. Vgl. Manfred Schneider, „Die Angst und das Paradies des Nörglers. Versuch über Karl Kraus“. Frankfurt: Syndikat 1977, S. 112/113.
11 Im folgenden wird zitiert nach Otto Nebel, „Zuginsfeld, Unfeig, Das Rad der Titanen“. Das dichterische Werk Band l. Hrsg. von René Radrizzani, München 1979; römische Zahlen bedeuten den Band, arabische die Seitenzahl.
12 Der Satiriker nimmt in Regie, was die Albernheit von Dummköpfen Versen Goethes angetan hat: „Unter allen Wassern ist – ‚U’. / Von Englands Flotte spürest du / Kaum einen Hauch … / Mein Schiff ward versenkt, daß es knallte. / Warte nur, balde / R-U-hest duh auch!“ (LTM 331)
13 „Die Fackel“, Nr. 712/716, S. 13.
14 Otto Nebel, Das dichterische Werk. Band lll, S. 7.
15 Manfred Schneider, a.a.O., S. 77.
16 Christian Johannes Wagenknecht, „Das Wortspiel bei Karl Kraus“. Palästra Nr. 242. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1965, S. 97.
17 Karl Kraus, „Beim Wort genommen“. Werke Band 3. Hrsg. von Heinrich Fischer. München: Kösel 1955, S. 236.
18 Karl Kraus, „Beim Wort genommen“, S. 235.
19 „Die Sprache gibt keine Kunstwerke mehr her, es sei denn etwas wie Plastiken aus Sprachschlamm“. Aus Hermann Schweppenhäuser: „Quipus“ . In: Max Horkheimer (Hrsg.): „Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag“, Frankfurt: EVA 1963, S. 413.
20 Gilles Deleuze/Félix Guattari: „Kafka. Für eine kleine Literatur“. Frankfurt: Suhrkamp 1975 (edition suhrkamp 807).
21 Manfred Schneider, a.a.O., S. 96.
22 Emil Sander, a.a.O. S. 263. – Manfred Schneider erteilte ihm auf solche Feststellung die gebührende Antwort: „Eine solche, nur im Sinne ihrer Wirkungslosigkeit bedenkenswerte Ausschüttung an polemischem Geist vollzieht sich auch in der durchschnittlichen marxistischen Kritik an K. K.: Sie hält ihm bis auf den heutigen Tag seine unvollständige Einsicht in die Funktionsweise des Kapitalismus vor; ganz zu Recht. Aber indem diese Kritik allmählich auf die Lebenskraft eines Refrains abmagert, kennzeichnet sie doch höchst beängstigend das Einsichtsvermögen ihrer Rezitatoren, die am Baume der eigenen kritischen Erkenntnis keine neuen Früchte mehr reifen sehen. Und so läßt sich auch zur privaten Seite hin feststellen; Jede prinzipielle Kritik erschöpft im Lauf der Zeit ihr Reservoir an Empörungskraft. Denn das hat K. K. überzeugend vorgeführt: Je wirkungsvoller und moralisch berechtigter eine kritische Bewegung einherkommt, desto rascher entleeren sich ihre tragenden Begriffe; gerade eine bedeutungsvolle und mit dem Geschmack des Kritischen und Hoffnungsvollen versetzte Terminologie befindet sich rasch in aller Munde und wird zersetzt vom Speichel von jedermann.“ (Schneider, a.a.O., S. 81).
23 Das Synonym für das edle Wort „Schicksalsschlag“ heißt im Krieg „Volltreffer“ (Nebel 1,141). Das ist die Art von Konkretheit, die man sich von marxistischen Analysen von Antikriegsliteratur eigentlich erwarten würde.
24 Am Ende sei noch darauf hingewiesen. daß es nur wenig brauchbare Literatur zum literaturwissenschaftlichen Gebrauch der Begriffe „Montage“ und „Collage“ und zu ihrer Abgrenzung gegeneinander gibt: Bei Riha, „Cross-Reading …“ wird das Problem der Abgrenzung der beiden Termini nicht systematisch behandelt. Im allgemeinen geschieht die Benutzung der Begriffe mit Bezug auf die Literatur – so verbreitet die Benutzung auch schon ist – in vager Analogie zu ihrer Benutzung in der Kunstgeschichte bzw. Kunstkritik. Konsultiert man etwa das „Dictionnaire du dadaisme 1916 – 1922“ von Georges Huguet (Paris: Jean Claude Simon 1976, S. 57 bzw. 244), so werden dort mit Bezug auf die Kunst die Begriffe Montage und Collage so definiert, daß man – bei Übertragung auf die Literatur – sagen könnte, die „Letzten Tage der Menschheit“ seien eine Montage, der „Zuginsfeld“ eher eine Collage. – vgl. auch Franz Mon: „Collagetexte und Sprachcollagen“, in: F. M., „Texte über Texte“. Neuwied/Berlin: Luchterhand 1970, S. 116 – 135; Annegret Jürgens-Kirchhoff „Technik und Tendenz der Montage in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts“. Gießen: Anabas 1977. – Hingewiesen sei schließlich noch auf ein großes Buch zur Frage Krieg und Literatur 1914 – 1918, das mir erst nach Abschluß des vorliegenden Aufsatzes bekannt wurde: Paul Fussell, „The Great War And Modern Memory“, London, Oxford. New York: Oxford University Press 1975. Fussell stellt dar, wie sich den englischen Dichtern und Soldaten Siegfried Sassoon, Robert Graves, Edmund Blunden und Wilfred Owen die konventionelle Kriegsrhetorik und -metaphorik mit zunehmender Einsicht in die Wahrheit des Krieges immer mehr zersetzt; sie gelangen an den Punkt, der dann allerdings mit solcher Schärfe (und Konsequenz für die Struktur von Kriegsdichtung) offenbar nur in der deutschsprachigen Literatur, also etwa bei Kraus oder Nebel realisiert wurde – daß nur eine radikale Änderung der poetischen Syntax die Dichtung dem Krieg würde adäquat werden lassen, weil alle Ästhetisierung Lüge würde. Lionel Trilling schrieb zu Recht über Fussells Buch: „An original and brilliant piece of cultural history and one of the most deeply moving books I have read in a long time.“
In: Jörg Drews (Hg.): Das Tempo dieser Zeit ist keine Kleinigkeit. Zur Literatur um 1918. München, edition text + kritik, 1981, S. 128 – 142.