Jörg Drews: Der Mensch ist der Pflanze verwandter als dem Tier. Rudolf Borchardts Garten-Utopie
Rudolf Borchardts Buch „Der leidenschaftliche Gärtner“ ist wohl eines der am wenigsten gelesenen unter seinen Werken; auch die Literatur hierzu ist spärlich. Das liegt wohl nicht zuletzt daran, dass man es als ein etwas abseitiges Produkt seines Gärtnertums betrachtet, das man einerseits als nicht viel mehr denn ein zwar intensiv, aber vielleicht doch dilettantisch betriebenes Hobby einschätzt; zugleich aber lehrt ein Blick in das Buch, daß zu einer kompetenten Lektüre fast schon wieder Spezialistentum beim Leser vorausgesetzt ist, um diese Mischung aus Gartenhandbuch und Kulturgeschichte beurteilen zu können. Außerdem ist es kein entspanntes oder gar idyllisches Buch, sondern so anstrengend zu lesen wie alles von Borchardt.
Als Ausweg böte sich an, es einfach als ein Stück Borchardtscher Prosa zu lesen und zu goutieren, und ich muss gestehen, dass ich – als Nichtgärtner und als Nichtkenner der Kulturpflanzengeschichte – das Buch zunächst in genau diesem Sinne gelesen habe. Offenbar habe ich dabei nicht viele Kompagnons gehabt, und selbst Werner Kraft, dieser sorgfältige Leser Borchardts, dem wir mit „Rudolf Borchardt. Welt aus Poesie und Geschichte“ die bis heute einzige, nun auch schon 45 Jahre alte Borchardt-Monographie verdanken, scheint keine Anmutung zu diesem Buch gehabt zu haben: Nur an zwei Stellen kommt bei ihm „Der leidenschaftliche Gärtner“ vor. (Wer Werner Kraft kannte, weiß wohl, daß der sich nicht in Garten-Fragen vertiefen wollte.) Es ist ein zerklüftetes Buch, mit enormen Tempo- und Intensitätsunterschieden, disparat in seinen Teilen, in denen der Autor einerseits sozusagen weit durch die Welt schweift, ganze Pflanzenlandschaften mit großer verfügender Geste heraufruft und hinstellt und dann wieder kleinteiligste Details pflanzenmonographischer und pflanzenpflegerischer Art – „Säen, Pflanzen, Graben, Nähren“ heißt das Kapitel VII – nicht nur benennt, sondern gründlich erörtert und auch kennerhaft dekretiert.
Dies Zerklüftete mag sich bis zu einem gewissen Grad der Tatsache verdanken, dass zumindest in Teilen eine abschließende Überarbeitung durch Borchardt nicht vorliegt und wir nicht wissen, eine wie eingreifende Überarbeitung das Typoskript noch erfahren hätte. Einen Genuss aber stellt das Buch so (unfertig) wie es nun einmal überliefert ist, auf jeden Fall dar, gerade wegen seiner Mischung aus kulturhistorischer Verfügung und geradezu zärtlichem Eingehen auf Gärtnersorgen und Pflanzenschicksale mit einlässlichen, fast flehenden, bisweilen auch geradezu barschen Anweisungen, welche Pflanze wie zu behandeln sei. Und fast glaubt man zugleich etwas zu spüren, das man als ein triebhaftes Verhältnis zu Blume und Gärten bezeichnen könnte und dem Borchardt auch huldigen zu wollen auch eingesteht: „… dass der dämonische Trieb, dem dies Buch gewidmet ist, der Garten- und Blumentrieb des Menschen aus dem Irrationalen stammt, um durch die Ratio hindurch ins Irrationale einer höheren Stufe zu verschweben …“1 Zugleich aber verknüpft Borchardt den Garten aber fast mit einer Hoffnung, die man wohl nur utopisch nennen kann. Der Garten ist in „Der leidenschaftliche Gärtner“ ein hilflos zärtlicher Inbegriff für Versöhnung, eine Vision der Schlichtung von Natur und menschlichem Eingreifen in Natur, und dies tritt als Intention im Verlauf von Borchardts Text immer stärker hervor. An dieser Stelle des Borchardtschen Nachdenkens über den Garten überschreitet es die Kulturhistorie spekulativ und wird – noch nicht einmal nur implizit – zu einer Art Geheimlehre, die Borchardt öffentlich macht, fast als wollte er die Überzeugung verbreiten, dass die Durchgeistigung der Pflanze und der Blume im Garten geradezu Transzendenz schaffe, so dass Naturwissenschaft allein für das, was sich da ereignet, gar nicht mehr zuständig ist: „Wohl gibt es einen naturwissenschaftlichen Weg, und er ist einem jeden geläufig, das blühende Naturgebilde aus den physikalischen, chemischen, organozentrischen Einverständnissen innerhalb der winzigsten Kerne des Lebewesens hervorgehen zu lassen, aber er ist nicht der einzige. Die Geschichte der Erdnatur ist der geschichtliche Weg zur Blume als einem werdenden Wesen. Indem Sinne, in dem sie ein bestimmt-bestimmender Formenvorgang ist, der zum Bild der Landschaft steuert, tritt die Betrachtung über die Schwelle der naturwissenschaftlichen Anrechte an das Sterbliche dem unberechenbaren und unerschöpflichen Reiche der Unsterblichkeit zu, deren Träger der menschliche Geist ist, und in die er alles, was er geistig angreift, sich annähernd und zugleichend überführt.“ (210) Borchardt kann das Hohelied der Blume und des Gartens singen, weil er unterstellt, die „Erdnatur“ führe entelechisch zur Blume und diese geistig-historisch zum Garten, in dem der menschliche Geist die Blume als etwas Triebhaftes, nur Natürliches zähme und eben vergeistige. Garten ist so der Ausdruck der Beziehung des Menschen zur Natur als Struktur an einem kleinen, abgezäunten und durchdringbaren Stück Natur; Garten ist etwas Sittliches, Inbegriff des Ziels der Humanitas, dargestellte Humanitas als Vermenschlichung der Natur, geschütztes Gegenstück zur Wirklichkeit der Welt des Bösen. Alle Gärten, sagt Borchardt, sind antinaturalistisch; Natur findet sich nur außerhalb ihrer; innerhalb von Zaun und Mauer herrscht – ob an Geometrie erkennbar, ob durch die ‚Natürlichkeit’ von Englischem Garten gewissermaßen verschleiert – menschlicher Geist.
Garten und Park aber sind angewiesen auf Blume und Pflanze, und mit größter Emphase ernennt Borchardt die Blume zum wahrhaften, inspirierenden Gegenüber des Menschen: „Der menschliche Geist ist der Blume verwandter als dem Tiere und hat sich immer so empfunden. Dieser Umstand allein erklärt es, dass die Vegetationsmetapher die gesamte menschliche Sprache durchädert und das heimliche Gerüst aller ihrer Bildlichkeit ist. (…) Stand die Blume als Ornament für den menschlichen Geist in der in der Polarität zwischen göttlicher Regel und dem Abfall der Kreatur, so steht sie als Metapher in der Polarität zwischen Vergänglichkeit der Kreatur und Wiedergeburt. Nicht daß die Blume ist und lebt, macht sie zum Kerne des menschlichen Sprachgleichnisses – ‚der Seele Bild, – nicht ein Bild, sie sind ein Schatten‘– , sondern dass sie noch da ist, und bald nicht mehr, und dann aber von neuem. (…) (Das Zyklische) macht ihre Vergänglichkeit zum Gleichnis der Liebe, die, wie gern, ewig wäre! Und es macht daher, – weil Sprache selber Gleichnis, und Ausdruck von selber Liebe ist – den Menschen an sich, das Menschengeschlecht an sich, dichterisch und liebend.“ (90f.)
Das expositorische Kapitel I des „Leidenschaftlichen Gärtners“ beginnt – gläubig, dekretorisch, metaphorisch – mit einem so monumentalen wie beiläufigen Satz: „Die Menschheit stammt aus einem Garten“, und die rhapsodisch schweifende Aufzählung der Blumen entdeckenden und diese Entdeckung für die Poesie in imaginierten, sogar noch in nicht existenten Blumen steigernden Poeten Novalis und Goethe endet mit einer Apotheose Goethes, der „das vegetative Einssein mit der Pflanze leidenschaftlich erlebt und im Ganymed gesungen hat“ (102), und mündet die Apotheose des Dichters überhaupt, in dem Blume, Sprache und Mensch auf einmalige Weise zusammenkommen: „Die Blume zielt auf den Menschen. Darum blüht nur dem Menschen die Blume. Und darum ist nur das Kompendium des Menschen, der Dichter, der vollkommene Gärtner.“ (103) Man könnte das fast schon als Selbstheiligung verspotten, wäre die Darlegung der innigen Entsprechung von Mensch und Blume nicht so enthusiastisch vorgetragen, so begriffsscharf und zugleich so feierlich intoniert. Das Pathos Borchardts bringt es dann aber mit sich, dass eine Stelle vom Ende des 3. Aktes von „Faust II“ vor lauter Begeisterung falsch gelesen wird: die Rückverwandlung des Chors der Helena erfolgt keineswegs in Pappel, Fruchtbaum und Zypresse, also in Pflanzen, sondern in Dryaden, Nymphen, Najaden und Lenäen.2
Keinen Moment hat man Zweifel daran, dass die Namen derer, die als Kaufleute oder Missionare, als Botaniker oder Gärtner in einem kulturhistorischen Raptus ohnegleichen gerade im III. Buch, „Der Garten und die neue Blume“, genannt werden, ja geradezu als Kaskade auf den Leser niedergehen, bedeutende Namen sind und dass Borchardt sie aus der Fülle wirklichen Wissens begeistert und begeisternd hervorzieht als „Helden dieses europäischen Kampfes um die Natur“ (140) – und der Kampf ist zu verstehen als Kampf um die Bereicherung der europäischen Gärten, der eben seine speziellen Heroen hat, die Nennung und Anrufung verdienen wie bedeutende Feldherrn und den Leser geradezu betrunken machen, da ihm zwar Alexander von Humboldt gerade noch ein Begriff ist, hundert andere Namen von Botanikern, Gärtnern und Pflanzenimporteuren sich aber nur zu einem autoritativen Rausche formieren: Sammler und Jäger der Gartenkultur als Gegenstand einer enumeratio über zehn Seiten, die staunen macht, vielleicht aber auch ein bisschen zu sehr staunen machen soll.
Von ähnlichem Gestus ist die rauschhafte, gewissermaßen deskriptive Phantasie vom „neuen Garten“ in Europa, der seit dem 19. Jahrhundert durch die immer sich steigernde Vielfalt von Pflanzenimporten entsteht und über den braven, sozusagen restringierten Garten hinausdrängt, aber in Gefahr ist, Blumen und Formationen schwelgend zu massieren statt zu organisieren – bis die „blumenkritische Arbeit Englands rückwärts und vorwärts 1900“ als das „größte geschichtliche Ereignis, das auf den Garten des Abendlandes gestaltend eingewirkt hat“ (221), wirksam wird – bisweilen ahnt man nur, welche Anschauung, welches Pflanzen- und Gartenbild man sich bei dem raschen und gedrängten Gang durch die Kulturgeschichte des Gartens zwischen dem frühen 19. und dem frühen 20. Jahrhundert vor Augen halten müsste, um zu wissen, wovon Borchardt redet, was er mit scharfen Urteilen belegt – „Gärtneraberwitz“ (231), „zusammengepflanzte Kollektionen der Fremde von Übersee“ (286), „Degradierung der Blumen zu färbender Materie“(215) – oder abstrakt-emphatisch preist – die „Göttereilande“ und „Blumenlandschaften“ (143, 243), immer aber wahrhaft leidenschaftlich und eiligst hervorruft, heraufbeschwört, skizziert, ohne dass man allzu oft fragen dürfte, wo dieser suggerierte Garten liegt oder möglich wäre, auch wenn man bruchstückhaft eigene Anschauung glaubt herantragen zu können, um Borchardts zu ahnendes „Rauschziel“ (214) zu verbildlichen.
Bisweilen hat man den Eindruck, dass – geographisch gesprochen – dieses „Rauschziel“ so etwas wie ein zusammenhängender Gartengürtel von Westeuropa bis in die ungarische Tiefebene hinein wäre, die Verwandlung des geliebten West-, Süd- und Südosteuropa in einen Garten, der weder etwas mit Nationalstaaten zu tun hätte noch auch mit ‚europäischen’ Pflanzen, sondern der eher eine Art sublimierte, gewaltfreie und offene Reichs-Phantasie darstellt, ein Garten, bei dem Blumenfülle, die Fülle seit dem 19. Jahrhundert als Eroberer erwünscht ist, noch gesteigert sein soll, oder anders: Ein Garten, der mittels enthusiastischer Pflege ausgedehnt werden soll: von Südwest nach Nordosten, von Italien und Frankreich über die deutschen Gebiete südlich des Limes und dann nach Norden und Südosten soll die neue Garten- bzw. Blumenpracht sich so ausdehnen wie einst die Rebe. Zum Menschlichen im höchsten Sinne rechnet Borchardt die Kultivierung, die Verschönerung von wilden und armen Landschaften durch die unablässige sanfte Kraft des Anbaus des scheinbar Unpassenden, nicht der Landschaft Eigentümlichen, das der gärtnernde Mensch mit zartem Willen doch heimisch macht. Gemildert herrisch träumt er von der Extension des Gartenkerns Europas durch sublimierte Herrischkeit des Menschen: „… denn der Primat des Menschen über die Natur als klimatisches und Bodengesetz liegt der Einheit zugrunde, auf die dieser absieht und deren Träger der weitere Primat der reichsten Landschaft über die noch wilde und arme, deren Ziel der Zusammenhang aller führenden Anbaugebiete aller Länder untereinander ist. Er ist bewunderungswert auch in seiner unerschrockenen Kühnheit.“ (282f.) Der martialische Borchardt – hier nennt den Primat des Menschen „kühn“ und meint damit hartnäckiges Ansiedeln, Schütze und Pflegen von Pflanzen, blühenden und fruchttragenden, und „unerschrocken“ heißt ihm derjenige, der „das Höchstmögliche verlangte“, nämlich der „die Wildnis auf der ganzen Front gleichzeitig angriff.“ (283) Fast meint man den uniformierten oder quasi-uniformierten Borchardt vor sich zu sehen, einen nervösen Gärtner in Breeches, den etwas großspurigen Erwäger ausgreifender strategischer Möglichkeiten – aber er hat nur einen Blumentopf in der Hand wie auf der bekannten Photographie und hat sich gemildert zum Theoretiker und Utopisten der Ausbreitung des Wunschgartens, Europas als eines Gartens, einer zusammenhängenden „Blumenlandschaft“ (143, 243) (für Borchardt Ende der dreißiger Jahre offenbar der Steigerungsbegriff zum „Garten“).
Und diese soll tendenziell allen Blumen- und Gewächsarten offenstehen, dies wäre die Vollendung oder eher: utopische Fortführung dessen, was uns die Geschichte der Verbreitung der Kulturpflanzen lehrt: dass Vegetationszonen „verschiebbare Grenzbegriffe“ (281) sind und die Kulturflora der geschichtlichen Wanderung unterliegt. Ist sie aber geschichtlich und wandernd-wandelbar, so kann sie, in die Zukunft gedacht, Bild oder gar Realität einer human befriedeten Landschaft sein. Germanien war einst, von Rom aus gesehen, ein „Waldland mit wenig Sonne“ (174), und ist doch durch die Tugenden von Trotz, Traum, Liebe und Fleiß auf weite Strecken in eine Garten- und Blumenlandschaft verwandelt worden; Humanitas schenkte dieser Landschaft eine andere Natur. Gerade das „Postscript“ von Borchardts ist, getragen vom Geist des Gärtnerischen, aber weit über das Gärtnerische hinaus, ein Hymnus auf jenes Europa, welches das waldreiche zerklüftete Westkap Asiens in seiner „unüberbietbar feinen Gliederung aufs wunderbarste ausgenützt“ (281), und das heißt: vergeistigt hat. Borchardt zieht geradezu politische Schlüsse aus seinen kultur-pflanzenhistorischen Kenntnissen und seinen gärtnerischen Erfahrungen. Wenn man weiß und man da weiß, wie Pflanzen in Gegenden wandern, und heimisch gemacht werden konnten, die man für ihnen unzuträglich gehalten hatte, wie also zum Beispiel die europäische und speziell auch die deutsche Natur historisch ist, kann es weder eine deutsche Pflanzenwelt noch einen in einem sinnvollen Sinne deutschen Garten geben; die „Humanitas des Gartens und der Blume“ wäre zerrissen, wenn man die Pflanzen unter die „unveränderlichen“ Gegebenheiten von Klima und Boden erniedrigen würde: das wäre „roher Naturalismus“ (285), und es wäre auch das Gegen teil von dem, was Europa in den letzten vier Jahrhunderten und noch ein Mal verstärkt im den letzten hundert Jahren passiert ist: „Umwandlung des Blumenbesitzes“ (178) als erfreuliche Bereicherung und als Glück.
Immer deutlicher wandert in das „Postscript“ eine politische oder quasi-politische Begrifflichkeit ein; die aber zunächst ganz sanft, nämlich als „humanistisch“ eingeführt wird. „Der Leser“, so beginnt das „Postscript“, „mit dem der Verf. dieses Buches noch auf diesen späten seiner Seiten, – wie der Wirt, nach allmählichem Aufbruche der Gäste, mit wenigen seiner Vertrautesten, – sich zu unterhalten das Glück hat, – dieser verständnisvollste seiner Leser weiß natürlich längst, daß er nicht in dem Gartenbuch eines Gärtners verweilt hat, und auch keines Botanikers, und schließlich – eine so hohe Geltung diesen Begriff gerade in diesen Seiten vindiziert worden ist – auch keines bloßen Liebhabers. Er ist in der Gesellschaft eines Humanisten gewesen…“ (266), und dieser betrachtet den Garten nicht als Natur, sondern als eine Kulturleistung, als Manifestation des menschlichen Geistes: „Der Garten ist, wie die Bühne und das Museum, wie die Bibliothek und die Kuppel des Sternenwächters, wie Orchester und Tempel und Thronsaal, eine geheiligte Umgrenzung unserer höchsten Würde, und er kommuniziert mit ihnen allen, wie sie untereinander alle allerwärts kommunizieren.“ (267)
Geist aber, kultivierender Fleiß, der pur natürliche Bedingungen zu übersteigen weiß, ist das Gegenteil des Barbarischen, das zu träge wäre, „für die winterliche Erhaltung eines schönen Gewächses das mindeste zu tun“. (268) Erst der Mensch als Gärtner hat den „Gartenzusammenhang der Völker, Zeiten und Breiten, wie ihn der große geschichtliche Begriff der Akklimatisation zusammenfaßt“ gebildet; gäbe es ihn nicht, „wir lebten gärtnerisch noch heut von Eicheln“. Die Ethik, das „eigentlich lebendige Wesen des Gärtnerischen“ ist „Pflege, Beschäftigung, geschärfte Aufmerksamkeit, Sorgfalt und Gewohnheit des Fleißes“ (269), gänzlich unheroische Dispositionen also, die – eben humanerweise – Pflanzen überleben lassen, die zum Beispiel als „ungeeignet“ für mitteleuropäische Böden und gar als „nicht winterhart“ abqualifiziert werden. Das Vokabular wird an einzelnen Stellen von Borchardts Plädoyer fast ‚nazistisch’ und jedenfalls nicht zufällig leicht verknüpfbar mit Nazi-Vokabeln, auch Nazi-Pflanzen: „Eicheln“ als typisch deutsch-germanisches Waldprodukt, die Forderung nach „winterharten“ Sorten (272, 276) – das sind Reizvokabeln, an denen Borchardt spöttisch oder polemisch ansetzt, indem er sarkastisch darauf hinweist, dass es gegen Kälte ja doch Glasfenster und für den Transport von Pflanzen im Winter ins Haus oder den Kuhstall „solche Dinge wie Blumentöpfe“ (272) gibt; gartenethisch aber heißt das: “Die Liebe ist ein entscheidenderes Kriterium der Zweckmäßigkeit als die Winterhärte. Der Mensch der etwas liebt, ist ein Abenteurer und ein hartnäckiger Werber, Erfinder und Erzwinger.“ (272) In solchem Licht sehen Vokabeln wie ,Norden“ oder „nordisch“ sogar übel aus – man kennt sie schon 1938 aus anderen Zusammenhängen, und daher erfolgt Borchardts doppeldeutige Attacke: „Das neunzehnte Jahrhundert hat auf politischem Gebiete, in Europa und anderwärts, jenen Sieg des Nordens über den Süden gesehen, dessen Folgen nur von einer immer kleiner werdenden Minderheit noch mit Enthusiasmus betrachtet werden. Die propagandistische und züchterische Tyrannei, die der Nordgarten auf den Südgarten ausübt , ist der Gartenreflex dieses politischen Umschwunges.“ (274) (…) Es ist, um mit Schiller zu reden, nicht naiv, sondern sentimentalisch, gegen den Weg der nordwärts wandernden und sich einwurzelnden südlichen Pflanze anzubieten und zu verkünden, dass die ‚nordische’ Pflanzenlandschaft zum Norden zurückkehren und sich zu ‚sich selber’ bekennen müsse. Diese ‚nordische’ Landschaft ist eine entweder gewaltsame oder eine kurzsichtige Fiktion.“ (278)
Und sie ist keine Realität, denn von der Akazie über die Kastanie und die Kirsche bis zum Raps darunter „weit und breit gelb“ ist alles dies nur in einer „importierenden Kultur denkbar“ (278); „es muß weitergehen, wie es gegangen ist; es muß zugewandert werden wie von je …“ (279). Hätte man nicht liebevoll gearbeitet an „frostfreier Überwinterung“ in Schuppen oder Häuschen, gäbe es nicht diese erhaltenden und akklimatisierenden Vorkehrungen — die großen, „halbnördlichen Ausgleichsgebiete wären niemals zu gärtnerischen Mutterländern neuer Flor- und Fruchtgebiete geworden, hätte die völkerverbindende Kette sich nie geschlossen.“ (284) Dem Preis der „völkerverbindenden“ Vegetationsgebiete geht die vornehme Opposition gegen irgendwie ,nationale‘ Gärten oder Gartentypen oder über Pflanzentypizitäten voraus: „Zu den Tendenzen, von denen er (der Verfasser) beiseite zu treten wünscht, gehört auch eine, gewiß nicht der Absicht, aber der Wirkung nach nationalistische, es scheint ihm eine verhängnisvolle Forderung zu sein, für bestimmte lokale Möglichkeiten von Gärten, beispielsweise den ,deutschen Garten‘, die Züchtung und die literarische Propaganda zu ausschließlich unter den Begriff einer Auslese dessen zu stellen, , sich wirklich in unserem Klima wohlfühlt‘, und das dieser Fiktion scheinbar widerstrebende allzu dogmatisch aus ihm hinauszufiltrieren.“ (276) Ich habe keinen Hinweis gefunden, gegen welchen Propagandisten eines „deutschen Gartens“ Borchardt sich hier wendet, aber es scheint mir evident, dass Borchardt hier als der Internationalist spricht, der weiß, dass ein nach Anlage und vor allem nach darin einzuschließenden (und andere ausschließenden) Pflanzen ein ‚deutscher’ Garten gar nicht möglich ist und eine verengte und fast gewaltsame Idee darstellt, denn der einzige ‚deutsche Garten’, den die Geschichte als originales Geschöpf gerade dieses einen unter den großen Gartenvölkern kennt, der deutsche Barockgarten, ist auf einem nach oben offenen Halbkreise entwickelt worden, der ganz logisch von Wien über Schlesien und Süddeutschland, Main- und Rheinland nach Holland ging“ (276f.) – kennt also gar keine Nationalität. Ein Gärtner ist kein Fatalist und kein Determinist, der allein Klima und Bodenbeschaffenheit als Faktoren gelten lässt, er ist kein Naturalist, er ist kein Rationalist und kein Nationalist, sondern überwindet mit Leidenschaft alle Bedingungen, und vor allem: alle „klimatische Miseren“. (277) Was Borchardt hier liefert, ist ein einziges geradezu aggressives Plädoyer gegen die Idee, dass in eine bestimmte Landschaft nur bestimmte Pflanzen gehörten; alle Gärten sind metamorphotisch polymorph und vielen Göttern – und eben, als tempelähnliche Bezirke – nicht nur lokalen Göttern geweiht: „Der menschliche Garten ist durch seine Geschichte ein Bereich völkerverbindender Götter und ihr Weihbezirk geworden. Er ist eine Einheit, die gleiche durch alle Zonen und Breiten, ein Symbol der Einheit des menschlichen Geistes.“ (279) Vielleicht ist es doch nicht „übertrieben, den Leidenschaftlichen Gärtner als primär antinazistisches Buch zu verstehen“, wie Markus Bernauer meint3; sicher gibt es Garten- und Blumenschriften Borchardts schon aus den Jahren vor der Nazi-Zeit und vor allem vor dem ihn so schrecklich ernüchternden Jahre 1935, aber die mühsam gebändigte Verve seines Gärtner-Buches und das kalkulierte Aufgreifen von Stichworten und Begriffen, die mit dem Nazi-Jargon zusammenhängen, deutet auf einen souveränen aber hilflosen, entschiedenen aber rührenden Antinationalismus, bezeugt eine zentrale Erfahrung, ein zentrales Datum aller Gartenkultur des Kulturnationalisten Borchardt, der nun den Kulturnationalismus beschwörend hinter sich lässt und Internationalist wird: „die herrliche Freude der Rezeption der Weltflora“ und „kultureller Austausch“ (227), Pflege, Primat des Menschen über die Natur – diese Wunschphantasie und diese implizierten Werte zum und im Garten ergeben einen Wertekanon, der absolut unvereinbar ist mit dem des Nationalsozialismus. Für den nach den Einsichten des Jahres 1935 – bezeugt in den „Jamben“ – verzweifelten und deprimierten Rudolf Borchardt ist Gartenarbeit und Nachdenken über den Garten die Zuflucht aus der unerträglichen Welt. wie er selbst sagte. Plötzlich ist gar nicht so weit entfernt von jenem Candide, der resigniert – allerdings fast heiter resigniert – am Ende des nach ihm benannten Buches auf das berühmte „Il faut cultiver notre Jardin“ sich zurückzieht. Oder ist Borchardt, der Protestant, der insistierte, als Jude deutscher als viele Deutsche zu sein (und also gar kein Jude mehr), näher bei Luther als beim Spötter Voltaire, bei Luther, der auch angesichts des Weltuntergangs heute noch seinen Obstgarten pflegen, sein „Apfelbäumchen pflanzen“ wollte?
Das Schicksal bringt die seltsamsten Genossenschaften hervor. In dem Jahr, da Borchardt an seinem Gartenbuch arbeitet, vollendet James Joyce sein großes internationalistisches Buch, den Roman, der nur noch zu 60 Prozent aus Angloirisch besteht und ein Amalgam aus unzähligen Sprachen darstellt: „Finnegans Wake“, das keineswegs ein offen politisches Buch ist, aber dennoch so abgeneigt allen – auch kulturellen – Nationalismen wie kaum ein Buch jener Jahre. Und tausend Kilometer entfernt von Saltocchio und später Tausende von Kilometern entfernt, in Kalifornien, sitzt im dänischen Exil und dann im pazifischen Garten Bertolt Brecht und dichtet, scheinbar entpolitisiert, in seiner Variante von Innerer Emigration; Rudolf Borchardt war ihm Anathema, und ihm plötzlich doch so nahe; jener Borchardt, der barsch und imperial und dekretorisch daherreden konnte und nun plötzlich Sätze schreiben kann wie: „Mit einem Schlage entstanden holdselige kleine Naturgärten“ (216), oder eine Weisheit mit politischen Implikationen formuliert, die das Revolutionäre in dem Wort ‚Erhebung’ fast demütig umdeutet: „Sich vertiefen ist die einzige noch denkbare Erhebung.“ (240) Brecht als Nachbar des Gärtners Rudolf Borchardt also, zum Schluss:
VOM SPRENGEN DES GARTENS
O Sprengen des Gartens, das Grün zu ermutigen!
Wässern der durstigen Bäume! Gib mehr als genug. Und
Vergiß nicht das Straußwerk, auch
Das beerenlose nicht, das ermattete
Geizige! lind übersieh mir nicht
Zwischen den Blumen das Unkraut, das auch
Durst hat. Noch gieße nur
den frischen Rasen oder den versengten nur:
Auch den nackten Boden erfrische du.4
So heißt die Fürsorglichkeit in Gedichtform bei Brecht, und bei Borchardt hat sie die Gestalt eines das Buch abschließenden sechzigseitigen Pflanzenkatalogs mit dem Titel „Katalog der Verkannten, Neuen, Verlorenen, Seltenen, Eigenen.“ (291-358)
Anmerkungen
1 RB: „Der leidenschaftliche Gärtner. Ein Gartenbuch“, hg. von Marie Luise Borchardt, Zürich 1951, S. 287. Die nachfolgenden Zitatnachweise aus diesem Band im Text.
2 Vgl. Goethe „Faust II“, Vers 9992-10038 bzw. RB: „Der leidenschaftliche Gärtner“, S. 93.
3 Vgl. Markus Bernauer: „’Das Zentrum der Poesie’. Rudolf Borchardts Gartenidee“, in Ernst Osterkamp (Hg.): „Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen“, Berlin, New York 1997 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 10), S 245-264.
4 Bertolt Brecht: „Gesammelte Werke“, Bd. 10 (Gedichte 3), Frankfurt/M. 1967, S. 861.
Jörg Drews: Der Mensch ist der Pflanze verwandter als dem Tier. Rudolf Borchardts Garten –Utopie. In: text+kritik. Zeitschrift für Literatur. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. Rudolf Borchardt. Sonderband, edition text+kritik, München 2007, S. 200-208.