Jörg Drews: Die Antwort auf den Aberwitz der Welt. Nachwort
Den Versuch kann jeder machen: Man lese in der deutschsprachigen Literatur der Jahre zwischen 1945 und ca. 1956/57 herum, und man wird sie merkwürdig brav, gedrückt und abgestanden finden, auf weiteste Strecken. Da sind nur wenige Lichtblicke; der Rest ist nur mentalitätsgeschichtlich und dokumentarisch interessant. Die Ausnahmen lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen; ansonsten ist alles kleinkariert und orientierungslos. Dann schlägt man den „Leviathan“ auf oder „Brand’s Haide“ oder „Schwarze Spiegel“ oder „Seelandschaft mit Pocahontas“ und plötzlich weht eine frische Luft und es ist hell und es ist aus mit der Betulichkeit und Zaghaftigkeit. Hier ist einer, der sich den Schneid nicht abkaufen ließ, einer der wirklich von 1933 bis 1945 unter der Beschränkung seiner Ausdruckswünsche gelitten hatte und das Bedürfnis nach rücksichtsloser Äußerung aufgespart in sich trug und nun loslegte, und das nicht mit neu-gedankenloser Fröhlichkeit, sondern mit einer Aggressivität, die pessimistisch grundiert und deren Witz düster war, weil er auf den Aberwitz der Welt antwortete. 1954 fanden wir, ein Schulspezi und ich, durch Zufall „Brand’s Haide“ und „Aus dem Leben eines Fauns“ im Ramsch einer gerade bankrott gegangenen Buchhandlung und lasen hingerissen und erzählten von dieser Lektüre begeistert dem einzigen Deutschlehrer, dem zu trauen war: Wer ist dieser Arno Schmidt? Ein Irrer, antwortete er, und wenn ihr den gut findet, ist das eine Geschmacksverirrung. Mit 16 ist man in solchen Dingen ja noch einschüchterbar, also legte ich Schmidt auf einige Jahre zur Seite, kopfschüttelnd; irgendwas war da doch dran, verflucht, und als ich 1959/60 einen Kommilitonen traf, der auch unsicher-positive Erinnerungen an Schmidt-Lektüre hatte, beschlossen wir einen erneuten Lesedurchgang alles dessen, was es von Schmidt damals auf dem Markt gab – und das war also just zu dem Zeitpunkt, da die Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit zu Ende war und es – wie gesagt, mit Ausnahme von Arno Schmidt – mit der Literatur überhaupt erst los ging. Das gilt nicht ganz im selben Maße für Österreich und die Schweiz, aber mit Sicherheit liegt die wichtigste Zäsur für (West-) Deutschlands Literatur bei 1959/60; da erschienen u.a. die „Blechtrommel“ und Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“, ein Jahr später Peter Weiss’ „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ und die Anthologie „movens“ – da wurde es Tag, die Aufzählung könnte weitergehen, und es tauchte zugleich ein ganz neuer, herausfordernder Komplikationsgrad in der Literatur auf. Wenn man an entlegener Stelle den Vorabdruck einer einzigen Seite aus „Kaff auch Mare Crisium“ fand, konnte man gar nicht anders als völlig konsterniert sein: Was ist das? Das sieht ja so verwirrend aus wie z.B. der Text „Cinemascope 1959/60“ von Helmut Heissenbüttel!
In jenen Jahren mußte man neu lesen lernen; die Literatur der fünfziger Jahre – Ausnahmen: „Die Kirschen der Freiheit“ von Alfred Andersch, einige Gedichte von Heissenbüttel, einige von Paul Celan (sagt was ihr wollt); die Arbeiten der Wiener Gruppe konnten wir erst später kennenlernen; die einzigen Kritiker von Rang in jenen Jahren waren Albrecht Fabri und Max Bense – die Literatur der fünfziger Jahre also versank. Die Autoren der neuen Literatur hatten sich so gründlich über den ‘state of the art’ unterrichtet, daß sie nun wußten, was möglich und nötig war. Es drehte sich ja auch nicht nur darum, Literatur als etwas, das vom Leben getrennt ist, richtig einschätzen zu lernen, also 1960ff. nur-ästhetische Maßstäbe zu justieren, sondern auch die Alltagssprache und die Alltagswahrnehmung, die Bezeichnungs- und Kritikfähigkeit zu entwickeln, eine christlich-abendländische Innerlichkeit hinter sich zu lassen und sich ein neues Sprech- und Wahrnehmungstempo anzueignen, das zeitadäquat war. Und dabei hat, jenseits des pur Literarischen, Arno Schmidt sehr geholfen: Sprüche, Metaphern, Zitate aus seinen Büchern drangen in unsere tagtägliche Sprache ein, und das nicht aus Gründen der Idolatrie, sondern weil vieles so schlagend präzise war und ist, so „mager“ und „drainiert“: wir schlossen uns damit Wirklichkeit auf.
Noch eine Erzählung wie Ernst Petz’ „Galgenbett mit Arno Schmidt“ zeugt davon, daß da einer fruchtbar Schmidts „Leviathan“ und „Enthymesis“ gelesen hat, nicht nur weil auch hier am Ende ein Dokument übrigbleibt, der die Wahrheit des Erzählten verbürgende „Bericht eines Patienten“ (vgl. die „Fetzen“ mit Gekritzeltem, die von den letzten Stunden der Opfer des Leviathan bei Schmidt uns künden), sondern die nervös intermittierende Sequenz von Gesehenem, Gedachtem und Gefluchtem, die Innere-Monolog & Tagebuch-Suada des Bandscheiben- und Migräneopfers, der genervt-aggressive Gestus des Notierten, das von Pessimismus und Lebendigkeit im Hin und Her schneller Stimmungsschläge kündet – das hat Schmidt’sches Temperament; das Programm lautet: „das Uni-sive Perversum mitstenographieren“, gedrängt und gewitzt „mitno/uttierten was im Kopf und ums Bett vorgeht“, und der Text entgeht sogar der Gefahr der Epigonalität, seine Lebendigkeit hält dagegen, und vielleicht ist es auch ein Ingrediens einer anderen Mentalität, bzw. eines anderen Dialekts, was dem Text noch eine neue Färbung gibt.
Als Schriftsteller – und eben nicht (nur) Kritiker – kann Ernst Petz es sich auch leisten, den Stand der Forschung bezüglich Arno Schmidt notfalls zu ignorieren. Das macht gar nichts, er hat andere Aufgaben, er erzählt ja selbst und er brach bzw. bricht begeisterte Lanzen für Arno Schmidt. Im epischen oder enthusiastisch preisenden „Wassersturz“ seiner Texte kann er dann ruhig monieren, es fehle eine Untersuchung zu „Donald Duck und Arno Schmidt“ (haben wir nicht inzwischen mindestens den Ansatz dazu? mir ist, als sei im Bargfelder Boten …), und überhaupt seien den Dechiffrierern „viele offensichtliche Hintergründe“ nicht aufgefallen – was stimmt, aber es können nicht alle „Hintergründe“ sofort allen auffallen: „Don’t shoot the piano player, he is doing his best!“ stand überm Klavier in jedem gutgeführtem Western Saloon. Außerdem dreht es sich ja gerade bei einem Autor, der nicht nur vom Leben seiner Leser abgehobene Literatur herstellte, gar nicht unbedingt darum, ihn möglichst schnell umfassend und ‘richtig’ zu interpretieren; am wirkungsvollsten ist vielleicht Teil-Verstehen, am fruchtbarsten sogar Mißverstehen, und überdies sind gerade die Dichter gar nicht verpflichtet, andere Dichter verantwortungsvoll ‘richtig’ zu verstehen, gerecht und abgewogen, sondern ihre Verpflichtung gilt primär dem eigenen Werk und was dies fördert – und das kann sogar das beflügelnde Mißverstehen eines anderen Werkes sein. Was ja nicht heißt, daß man nicht zustimmen könnte, wenn Petz beispielsweise das gedrechselte Gerede in Schmidts Radio-Dialog „… denn ‛wallflower’ heißt Goldlack“ kritisiert, diesen angestrengten Versuch, dem Vielschreiber Spindler irgendwas Interessantes zu entlocken.
Apropos Spindler: Petz scheint, wie ich auch, neben allem Lob für die Radioessays in „Dya Na Sore“, bisweilen das Gefühl gehabt zu haben, daß man manchmal Arno Schmidt eine andere Lektüre hätte wünschen mögen. Gut, er hat aus May und aus Spindler, aus Schilling und aus Hackländer manchen Honig gezogen, er hat uns den Anlaß – nämlich diese drittrangigen Autoren – vergessen lassen, weil er Späße, Maximen und Epigramme daraus und darüber drechseln und ein paar freche Sprüche draus destillieren konnte. Durch was für ältliche Letternwüsten muß er sich durchgekämpft haben, um die entzückenden Redewendungen herauszufiltern, mit denen uns dann Suse & Nipperchen & Martina etceterae entzücken! Gebongt, aber manchmal denke ich doch, daß ihm jemand mit Gespür und Hartnäckigkeit unkonventionelleres Zeug hätte unterjubeln müssen, von wirklich interessanten Sachbüchern über Bildbände von wirklich bedeutenden Malern bis ins 20. Jahrhundert hinauf, ganz zu schweigen von literarischen Autoren, an denen er nach anfänglichem Befremden vielleicht doch was gefunden hätte. Es muß ja nicht Beckett sein – über den er sich grob verständnislos geäußert hat –, aber sagen wir mal: Julio Cortázar oder Kenneth Patchen hätten ihn doch amüsieren können – Francis Ponge, vermittelt aus dem Umkreis von Max Bense und Elisabeth Walther, tat’s ja auch … Stattdessen las er endlos Hackländer, und an Möllhausen wollte er sich dereinst auch noch machen. Naja, er hatte was vom Antiquar, und: „Ich bin kein moderner Mann, will’s jedenfalls nicht hoffen!“ ist ja vielleicht nicht nur kokett, sondern auf irgendeiner Ebene sogar ernst und wahr gemeint.
So beutelt es uns als Schmidt-Leser, und die Amplituden zwischen wild lachender Zustimmung und Angeätztsein über Schmidts Begrenzungen und Vernageltheiten sind ziemlich groß, das Wechselbad zwischen dem Überschlauen des dauernden Schmidtschen Klugscheißens und der einfachen und wirklichen Klugheit vieler seiner Formulierungen sehr heftig. Nach einiger Zeit muß man sich planmäßig Gegengift gegen Schmidt spritzen, sprich: zur Austarierung der Maßstäbe immer auch ganz andere Autoren lesen, damit man die Fähigkeit behält, seine Literatur auch von außen zu sehen – sonst glaubt man irgendwann, man könnte Schmidt zureichend mit den Begriffen interpretieren, die er selbst uns an die Hand gibt bzw. uns unterzujubeln versucht – lange Zeit ist die Schmidt-Forschung darauf hereingefallen. Deshalb gefällt es mir sehr, wie da bei Petz zwischen zwei Schmidt gewidmeten Essays der sechzigseitige Exkurs über Philip K. Dick steht. Ich bin zwar kein SF-Mann (was mich da stört, ist die Herabstufung der Sprache zum puren Vehikel, zum Transportmittel ohne Eigenwert), aber nach Petz’ Plädoyer und Vorstellung für diesen Dick habe ich den doch mal auf meine Leseliste gesetzt: offenbar ist das ein Bursche, den man als „Anwalt der Sprachlosen‟ in einem dem frühen Schmidt verwandten Sinn lesen kann, und auch er scheint die heutige Wirklichkeit – wie Schmidt in „Brand’s Haide“, in der „Gelehrtenrepublik“, in der andern, der Mond-Hälfte von „Kaff auch Mare Crisium“ – auf die Zukunft hochgerechnet zu haben: mit pessimistischem Ergebnis. (Oder war das Ergebnis so finster, weil beide Autoren schon vorher so pessimistisch disponiert waren?) Jedenfalls ist auf die Dauer von Mono-Schmidtlektüre dringend abzuraten, da müssen immer wieder Querschläger ‘rein; in der Gefahr der literarischen Schmidt-Monokultur waren wir ja vielleicht alle mal, aber das muß eine Phase bleiben, aus literarisch-psychohygienischen Gründen. Und so nötig wie amüsant ist es auch, Schmidt selbst auf die Finger zu schauen und von ihm angepriesenes auf den Prüfstand zu stellen: Leopold Schefer ist vielleicht kulturgeschichtlich eine interessante Erscheinung – wie uns die Clausens bewundernswert gezeigt haben –, aber was die Qualität seiner Texte angeht, war’s doch nur (aber wirklich: nur) geschickte Strategie, daß Schmidt für sein Feature so ausgiebig aus dem „Waldbrand“ zitiert – das andere ist nämlich unerträglich, von den bläßlich religiösen Gedichten Schefers ganz zu schweigen: die sind nur ein Beleg für den Tiefstand eines großen Teils deutscher Religiösität im 19 Jahrhundert! Und was Schmidts Übersetzungen von zwei Romanen Edward Bulwer-Lyttons angeht: die hat er erlaubterweise so unerlaubt stark aufgemuntert durch seine Sprach- und Stilkünste, daß die Schwarten überhaupt erst wieder lesbar werden. Ich wollte „My Novel“ und „What Will He Do With It“ mal im Original lesen, setzte mich in München ins Englische Seminar, schnappte mir die Bände, fing an zu lesen und sank nach wenigen Minuten in einen solchen Tiefschlaf, daß ich durch mein Schnarchen die Kommilitoninnen und Kommilitonen störte.
Ist Arno Schmidt überholt? Natürlich sind große Kunstwerke nicht in dem Sinne ‘überholbar’, aber eine bestimmte Aktualität, eine bestimmte Verknüpfbarkeit mit Zeitgenössischem, mit „current opinions“ können sie doch verlieren, und bei Schmidt habe ich das Gefühl, daß in der (wissenschaftlich so genannten) Rezeption sich zwei Dinge verändert haben.
Einmal können jüngere Leser nicht mehr ganz das Entzücken verspüren, welches daraus resultierte, daß Schmidt uns einmal ein Gewährsmann für Opposition und Frechheit, ein Bürge für die Möglichkeit witziger Aufsässigkeit war, ein Stichwortgeber dafür, daß man konformistisch gedrucktes Gerede lustig durchbrechen kann; dieser Aspekt von Schmidts Lebendigkeit – daß da unerwartet einer auftauchte in Trizonesien/Adenauerland und die Sprache der Poesie für kompatibel hielt mit kalkulierter Blasphemie und gar lustigen Klein-Zoten – kann heute natürlich keine so imponierende Rolle mehr spielen, klar. Zweitens aber hat Schmidt vielleicht zu schwarz gesehen; vielleicht war die Diagnose, die er Europa damals stellte, zu düster. Das war verständlich, er hielt die Wiederbewaffnung Deutschlands für das Unglück, das sie dann nicht war. Meine Generation wiederum war dann 20 Jahre später ziemlich überzeugt davon, daß durch den berühmten „Fulda gap“ die russischen Panzerarmeen eines Tages versuchen würden durchzubrechen, die Russen und Amerikaner es also in Mitteleuropa auszufechten versuchen würden. Aber weder hat ein Atomkrieg stattgefunden, noch hat der Club of Rome mit seinen apokalyptischen Berechnungen, die sich dann doch nur als Prophezeiungen herausstellten, recht behalten. „Die Wirklichkeit der Schwarzen Spiegel ist wohl nur eine Frage der Zeit“ schreibt dennoch ernst Petz. Vielleicht. Aber Karl Kraus hat auch schon von den „Letzten Tagen der Menschheit“ geschrieben, und es waren doch nicht die letzten Tage. Ich mein’s gar nicht zynisch, ich meine nur, daß wir erstens Glück gehabt haben, daß zweitens die Großakteure doch vielleicht cooler (und sogar verantwortungsvoller) sind und daß drittens die Menschheit als ganze eine Gesellschaft ist, die nicht so leicht vergeht, sogar schwere Verluste übersteht und noch nicht einmal mit einem totalen Kulturbruch dafür zu zahlen hat: siehe Dreißigjähriger Krieg. ‘Die Menschheit’ als ganze ist ein zähes Luder.
Das wäre vielleicht ein Thema für einen Essay im dritten Band des Petz’schen Drei-Bänders über Arno Schmidt: Wie liest er ihn heute? Wo revidiert er sich? Welche Sachen Schmidts mag er jetzt weniger, welche sind in den Vordergrund gerückt? Oder ist intensive Schmidt-Lektüre eine vergangene Epoche seines Lebens? Insgesamt verhält er sich bis heute zu Schmidt paraphrastisch, enthusiastisch, apologetisch, und so sollte es sein. Aber über Veränderungen in seiner Einschätzung würde man auch gerne hören, samt Begründungen; die bräuchten ja nicht gemessen und abgewogen sein, sondern selbst wieder von Ungeduld, Spott und Selbstironie durchwachsen. Ein deutlicheres Wörtlein wäre inzwischen wohl auch möglich bei und zu May und seinem Editor. Abgesehen davon, daß Petz mir aus der Seele spricht, wenn er von vergeblicher großflächiger May-Lektüre im Erwachsenenalter (bei sich selbst) spricht – der Stand der einstmals geplanten May-Edition (– Editionen, muß man nach der Wanderschaft des Projekts von Greno über Haffmans und Wiedenroth bis – tja, bis Wallstein oder gar bis zum Karl-May-Verlag?) wäre mal kurz und böse (kürzest und bösest) zu kommentieren: bei werden ja gutherzigerweise Wollschläger noch editorische Leistungen zugetraut, die wir jetzt nicht mehr von ihm erwarten.
Es bleibt ein nachdenkliches Faktum, daß der Wilhelm-Reichianer Hans Wollschläger, ein Laienanalytiker von Gnaden, damals nicht erkannte, wo – wir reden von der Entstehung von „Sitara und der Weg dorthin“ – bzw. wann da Arno Schmidt ein Halt! bei seinen Projektionen hätte zugerufen werden müssen. Und wie – um auf Petz selbst zu kommen – erklärt er sich denn die Idee, es könnte noch 1999 zu etwas Weltkriegerischem kommen? Never say never, natürlich, und es könnte ja demnächst mal wieder irgendwas Übles losgehen; wer weiß, was das nächste Jahrtausend bringt. Aber vom Apokalyptiker Schmidt hat was abgefärbt auf Petz, und davon will er offensichtlich nicht lassen, bringt er es doch fertig, vom „Dritten Weltkrieg (gegen Jugoslawien) anno 1999“ zu schreiben – da war und wurde aber gar keiner, und der da war, ging auch gar nicht gegen „Jugoslawien“. Auch einer, der, wie Schmidt laut Petz, „das Erkennen und Denken noch nicht verlernt hat“, kann sich irren. Oder versteh’ ich ihn da falsch? Bitte um Aufklärung, wie gesagt vielleicht in einem mit drive & Schmackes hingelegten Stück im dritten Band seiner Gesammelten Schmidtiana.
700 000 Leser habe Schmidt, sagt Petz. Wahrscheinlich hat er vorne in die Fischer-Taschenbücher hineingeschaut, die ja Auflagen bzw. Auflagenhöhe verzeichnen: die Zahlen kann man dann zusammenzählen und noch die Auflagen der Hardcover-Bände usw. addieren – dann kommt man in die Nähe von 700 000, inzwischen vielleicht sogar auf mehr. Aber daraus auf Leser zu schließen, ist doch wohl prekär; zwar hat sicher mancher sein AS-Taschenbuch weitergereicht oder ausgeliehen, aber bei Taschenbüchern ist das Zahlenverhältnis zwischen gekauften und gelesenen Exemplaren besonders ungünstig … Ich habe mich immer schon über die vielen angeblichen Käufer und Leser Schmidts gewundert: wenn es die wirklich gibt, müßte er im literarischen Bewußtsein stärker vorhanden sein und viel mehr Menschen immunisiert haben gegen die Lektüre der vielen ungeheuer langweiligen Autoren, von deren Verkaufserfolgen wir immer wieder hören. Die Leser müßten doch erkannt haben, daß die Übertreibungen Schmidts und die Bizarrerien etwa von „Titanic“ (des sog. Satire-Magazins), Schmidts angeblich so ressentiment-geladenes Gekeife und der Irrwitz der „Titanic“ – Stories die Wirklichkeit ganz exakt beschrieben haben bzw. noch beschreiben. „Was ist Satire? Die genauere Wirklichkeit.“ Stimmt, aber die Wirklichkeit sieht inzwischen selbst schon so aus, wie „Titanic“ sie darstellt und wie Schmidt sie an den wildesten stellenseiner Suadas aus den fünfziger Jahren darstellte. Fritz J. Raddatz hat mal Tucholsky betreffend die Unterscheidung getroffen zwischen Erfolg und Wirkung; Tucholsky habe großen Erfolg gehabt, aber keine Wirkung. Ein bißchen sieht’s mir auch bei Arno Schmidt so aus. Studenten, die noch vor kurzem auf der Schule waren, erzählen, daß sie auf der Oberstufe eines Gymnasiums bis heute noch Hermann Hesse, Heinrich Böll oder den parfümierten Erzlangweiler und behäbigen Architekten Max Frisch lesen. Was ja bedeutet, daß die Studienräte seit 30 Jahren auch nicht ihre Lektüre geändert haben. Es ist zum Auswachsen.
Mit dem Temperament steht es allerdings bei den Kritikern und allgemein den Kulturjournalisten im Moment auch nicht viel besser. Stellenweise hat Peter Rühmkorf noch einen respektlos-lebendigen Klang in seinem Tagebuch „Tabu I“; manchmal plaudert Benedikt Erenz in der ZEIT kühn und flink und gelehrt über eine kurze Strecke – ein Salut von Jakobinermütze zu Jakobinermütze!– und hält die linkslinksbürgerlichen Maßstäbe hoch und den Ton des Citoyen durch, und dann ist da zum Beispiel noch Thomas Kling, der eben seine schnarrende und fetzige Reaktion auf das verbreitete Avantgarde-Bashing abgeliefert hat (vgl. TEXT+ KRITIK, Sonderband, XI/99), doch sonst geht’s ganz staatserhaltend zu, zu staatserhaltend, und es werden Autoren wie Sten Nadolny, Barbara Honigmann oder Ralf Rothmann ernsthaft diskutiert. Schwamm drüber.
Weil dieses Buch in Österreich erscheint: Schmidt hat sich ja mehrfach voller Vorurteile über Österreich bzw. Österreicher geäußert. Das muß man außerliterarisch sowieso nicht ernstnehmen; wie soll jemand, der sein ganzes Leben – nach dem schönen Ausdruck, den John E. Woods gebrauchte – „tight-assed“ war, etwas von südlicherer Lebensweise verstehen und etwa auch Speis’ und Trank zu schätzen wissen? Nein, da ist er einfach nicht zuständig; sein Spott klingt übrigens wie aus dem preußischen Unteroffizierskasino: sehr unangenehm. (Mein Freund Thomas Taterka war einmal ein paar Tage in Graz und äußerte sich danach so böse-befremdet über die Mentalität der Steirer, daß ich sehr versucht war, ihm zu sagen, was ich von der Mentalität der Leute – Verzeihung, der Mehrzahl der Leute – in seiner Heimatregion Mecklenburg-Vorpommern halte: die sind nie richtig christianisiert worden, und das ist ja doch die unabdingbare Vorstufe zur Zivilisierung. Zurück zu Arno Schmidt:) Sein Ressentiment brachte ihn dann aber auch um den Genuß österreichischer Autoren. Damit meine ich nicht den Edlen von Hofmannsthal, und erst recht nicht Grillparzer, diesen Unglückswurm, dessen „Armer Spielmann“ zwar tiefsinnig, dessen Dramen aber fade und dessen Autobiographie die blanke Katastrophe ist, die ihn zwischen lächerlich und jämmerlich pendelnd zeigt. Aber ich meine den größten Johann Nestroy, dem er doch etwas hätte abgewinnen können, und wenn er mal etwas genauer sich Peter Altenberg angeschaut hätte (ohne gleich puritanisch-moralistisch zu reagieren bzw. die Abwehr zu mobilisieren) oder auch Herzmanowsky-Orlando – das hätte ihm nicht schaden können. Wenn er schon über Friedrich Achleitner mal eine blöde spöttelnde Bemerkung machen mußte – einem, der Sprache so abschmecken konnte wie Schmidt, hätten doch viele Gedichte H.C. Artmanns oder Prosa wie „Unter der Bedeckung des Hutes“ zu größtem Entzücken gereichen können! Aber nein, er mußte seine Vorurteile pflegen und sich um Genüsse bringen, die so groß gewesen wären wie die, welche er bei Francis Ponge hatte.
Im übrigen kann er sich über qualifizierte Resonanz in Österreich nicht beklagen; Otto Breicha hat jahrzehntelang von und über Schmidt in den „Protokollen“ berichtet, Till Mairhofer propagiert ihn noch heute wild, der Maler Gerald Brettschuh ist ein Schmidt-Fan und hat wunderbare sowohl Cooperiana wie auch Erotica aus dem Schmidt-Umkreis aufs Blatt gebracht, Reinhard Prießnitz, der unvergessene, war ein subtiler Bewunderer Arno Schmidts, und dann war da in der Vergangenheit die von Schmidt angetörnte Friederike Mayröcker und in der Gegenwart die „Zettel’s Traum“ erforschende Doris Plöschberger, und vergessen wir auch nicht die wahrhaft und wunderbar verstörenden Schmidt-Inszenierungen des Wiener Theaters „echoraum“ – und dazu also ernst Petz, versteht sich. Da hat Schmidt doch nichts zu klagen über die Österreicher.
Iam satis est. Geschrieben an dem Tag, da bekannt wird, daß Ulrich Wildgruber aus dem Leben geschieden ist. Wie hat der Mann Arno Schmidt gelesen, Arno Schmidt vorgelesen! (Ernst Petz nennt in einem seiner Essays die „Hörbuch“-Kassette von 1998, auf der Wildgruber in einer Quasi-Hörspielform „Nobodaddys Kinder“ liest, aber Wildgruber selbst nennt er nicht; das sei hier nachgeholt.) Als ich hörte, daß Wildgruber seine Stimme den Erzählern Düring, Schmidt und X (in „Schwarze Spiegel“) leihen würde, leuchtete mir die Besetzung erst gar nicht ein; ich dachte: der ist zu alt für diese Rollen, die Stimme müßte quicker, jünger, nicht so tief klingen. Dann hörte ich ihn auf den Tonbändern, da war die Sache doch sehr lebendig, und dann las er bei der Vorstellung der Kassette Anfang September 1998 im Münchner Literaturhaus. Ich saß neben ihm, ich konnte ihn körperlich reagieren, mit dem Text mitgehen, atmen, schwitzen sehen und hören; die Stimme war viel nuancierter, leichter, quicker noch als auf der Band-Aufnahme, alle waren wir hingerissen, Arno Schmidt lebte, Ulrich Wildgruber hatte ihn präsent gemacht und seine Sätze leuchten und leben lassen. Es war ein großer Moment, und Sie, Herr Leser Irgendein/Frau Leserin Irgendeine, sollten sich diese Hörbuchkassette bzw. CD nicht entgehen lassen!
Geschrieben in den Tagen, da Günter Grass den Nobelpreis in Stockholm entgegennehmen wird und alle Kanäle voll von ihm sind. Vor 40 Jahren hat er ein Buch veröffentlicht, das wahrhaft befreiend wirkte, und danach gibt’s noch die „Hundejahre“ und „Katz und Maus“, und obendrein war Grass vor Jahren ein ganz vorzüglicher Lyriker. Dies alles wollen wir nicht vergessen. Aber wenn man bedenkt, daß das 40 bzw. 35 Jahre zurückliegt und Grass inzwischen ein unglaublich biederer Erzähler geworden ist, daß die deutschsprachige Literatur seit 1945 beim Nobelpreis mit Hermann Hesse, Heinrich Böll, Elias Canetti und Günter Grass vertreten ist (und man sich unter streng qualitativen Gesichtspunkten doch nur vor Elias Canetti tief verneigen kann), wenn man schließlich resümiert, daß also weder Alfred Döblin noch Robert Musil noch Hermann Broch den Nobelpreis erhielten und die vernagelte Akademie in Stockholm auch weder Juan Carlos Onetti noch Imre Kertesz, weder Cortázar noch Giorgio Manganelli noch Thomas Pynchon auszeichnete, und eben auch nicht Arno Schmidt, dann blicke ich schon ziemlich grämlich in den kaltgrauen Dezembertag hinaus, Schmidts Wort von 1963 über die literarischen „Rappelerfolge“, die manche Autoren erzielten, wenn sie „die Trommel sehr künstlich schlagen“, und die dann aber auch nur zwei, drei, höchstens fünf Jahre anhielten, ist wohl auf Günter Grass gemünzt; da es sich nur auf die „Blechtrommel“ bezieht, ist es etwas ungerecht, und im übrigen hat er sich geirrt: Viele „Produktlein“ lassen ewig und ewig das Geld im Kasten erklingen, es nimmt gar kein Ende damit. Und eine Instanz, vor der man sich da beklagen könnte, gibt es nicht; auch die Weltgeschichte ist nicht das Weltgericht.
Arno Schmidt aber? –: Ladies und gentlemen, wir erheben uns von den Plätzen!
Jörg Drews: Die Antwort auf den Aberwitz der Welt. Nachwort. In Ernst Petz: Galgenbett mit Arno Schmidt. Assoziatives Gedränge. Wien (Arachne Verlag) 2000