Jörg Drews: Die Sippe Kempowski betritt die Bühne
„Aus großer Zeit“ – der chronologisch erste Band der Familiensaga von Walter Kempowski
Drei Bilder von Rostock hängen über seinem Schreibtisch: eine Radierung von 1620, der Öldruck eines Gemäldes von 1820 und ein Photo aus dem Jahre 1885. Und indem Walter Kempowski diese Bilder beschreibt, mit historischem Wissen anreichert, szenisch ausphantasiert, führt er uns bedächtig an den Hauptschauplatz und zu dem Zeitpunkt, wo seine Familiensaga beginnt: das Jahrhundert geht auf, die Kempowskis, eigentlich keine alten Rostocker, bewohnen die schöne Villa, die Robert William Kempowski, aus Königsberg zugewandert, dem in Konkurs gegangenen Weinhändler Gütschow abgekauft hat; man besitzt zwei Schiffe und zwei Kinder, und morgens fährt man mit einer Droschke ins Kontor, die gute Zigarre „Principe de la Paz“ rauchend.
Chronologisch gesehen stehen wir also am Anfang der Serie von Romanen, die Walter Kempowski mit „Tadellöser & Wolff“, „Uns geht’s ja noch Gold“ und „Ein Kapitel für sich“ begonnen hat und die er zu einer lückenlosen Chronik der Familie Kempowski ergänzen und bis zur Gegenwart heranführen will. Nachdem jetzt der erste Band, der die Jahre bis 1918 zum Gegenstand rekonstruierenden Erzählens hat, vorliegt, bleiben die Jahre von 1918 bis in die dreißiger und dann ab 1956 noch zu beschreiben. Nimmt man nun „Aus großer Zeit“ zur Hand, befindet man sich in einer paradoxen Situation, denn als Kempowski-Leser kennt man ja seine sehr eng umschreibbare Erzählmethode, dies genüßlich-authentische, das Pathos zum „Schnack“ umbiegende Anordnen der in mehrfachem Sinne „zitierten“ Details der Zeit- und Familiengeschicke zum Mosaik; gespannt sein kann man eigentlich nur auf den Inhalt, denn methodisch hat sich Kempowski ja schon seit „Im Block“, dem Vorläufer des Gefängnisberichts „Ein Kapitel für sich“, ziemlich genau festgelegt, und bis jetzt recht erfolgreich festgelegt. Erfolg hatte er nicht nur, was Verkaufszahlen anging, sondern er verstand es, eine Stadt und seine Sippe zum Mythos zu machen; plötzlich gibt es literarisch Rostock, wie es seit Grass Danzig und seit Schmidt die Lüneburger Heide gibt, und manche Kempowskische Redensart à la „Klare Sache und damit hopp!“ ist fast schon Volksgut geworden.
Aber bei der Kritik und bei manchen Lesern ist auch eine leichte Animosität gegen Kempowskis Literatur festzustellen, benennbar mit den Stichworten „Masche“ und „Harmlosigkeit“. Behält er seine Erzählmethode bei – und anders kann man sich den Autor Kempowski kaum vorstellen, hier liegt ja schließlich seine Stärke, in der bis zur Albernheit, bis zur Zwanghaftigkeit liebevollen Detailrekapitulation -, kippt dann seine Methode nicht zur Masche um, die er weiterstricken kann mit dem verschiedensten Material? Und diese Beschränkung aufs Mosaik, diese Verliebtheit ins Mosaiksteinchen, diese Gliederung des Erzählten ins Mini-Genrebildchen, das authentisch und zugleich kurzatmig wirkt – löst das nicht am Ende Zeit- und Familiengeschichte ins Skurrile, ins Harmlose auf? Bleibt Kempowski nicht ängstlich und oberflächlich? Aus Angst oberflächlich? Aus Angst, er könne sich plötzlich einmal, wenn das ironische Zitieren wegfällt, in vollem Ernst etwas gegenübersehen, dem er kaum standhalten kann?
„Wie isses nur möglich?“, in Frageform, diese allseits bekannte Redewendung von Kempowskis Mutter, verwandelt sich aber nach der Lektüre doch in den fröhlichen Ausruf „Wie isses nur möglich!“ Denn fast scheint Kempowskis Erzählverfahren dem historischen Stoff des ersten Bandes, dem Wilhelminischen Bürgerleben bis in den Ersten Weltkrieg hinein, besonders adäquat; er kann sich’s, ins Bürgertum verliebt, gemütlich machen beim Bericht vom etwas großspurigen Leben der Familie Kempowski in Rostock, und er verliert doch darüber nicht Umsicht und Ironie, zeigt doch Distanz zur Sippe, läßt nicht ungebrochene Nostalgie dominieren. Die fast pampige Sicherheit des Bürgertums jener Jahre, Dünkel und Luxus, Dummheit und Geborgenheit zugleich leben atmosphärisch dicht und sicher auf in Kempowskis Buch; er versteht es eben, zur Kennzeichnung von Rostock als deutscher Kleinstadt hinzuschreiben, es habe das „Hotel de Russie“ gegeben, das annoncierte: „Elektrisches Licht, Zentralheizung; Hausdiener an allen Zügen“, und schon ist mittels Zitat etwas unübertrefflich vergegenwärtigt. Robert Kempowski also fährt mit der Droschke ins Kontor, Frau Anna hat einen Jourfixe, bei dem die Mimen des Rostocker Theaters besonders gern gesehen sind, die Geschäfte gehen gut, Hausrat und Essen sind opulent, die Dienerschaft wird in der Furcht der Herrschaften gehalten, die Kinder haben zuerst Privatunterricht, gehen dann aufs Gymnasium, sonntags fährt man aufs Land mit der ganzen Großfamilie und in den Ferien in einen Badeort, wenn der Kaiser kommt, schreit man Hurra, und der Sedantag hat natürlich auch seinen Ritus – man ist ja schließlich deutschnational gesonnen, ein Liberaler oder gar ein Sozialdemokrat sind verdächtige Existenzen, Armut nimmt man kaum zur Kenntnis, und wenn irgendwelche Armen mal nicht kuschen, dann heißt man sie „Pöpel“.
Die Kraft zu böser Schärfe hat ja Kempowski offenbar grundsätzlich nicht, höchstens die zu lächelnder Boshaftigkeit, und so gibt es keinen kontinuierlichen massiv kritischen Unterton bei der Vorstellung bei Familien Kempowski und de Bonsac (Hamburger Zweig der späteren Kempowskigeneration, denn Kempowskis Mutter ist eine geborene de Bonsac). Jedoch diskret und gar nicht so harmlos wird da öfters hinter die bürgerliche Fassade geschaut, und es wirkt doch recht massiv, wenn man plötzlich erfährt, daß Vater Kempowski an einer Syphilis leidet, die ihm wahrscheinlich seine Frau Anna angehängt hat, die früher mal eine Zeitlang lustig lebte und sich für ihr bei ihrem Mann nun Entgehendes an einem Hausfreund vom Rostocker Theater schadlos hält; der alte Kempowski wird dann in späteren Jahren, ein leicht altersgeiles Wrack, im Rollstuhl herumgefahren, die debile Großmutter taucht auch bisweilen plötzlich aus der Irrenanstalt auf – Peinlichkeiten werden also gar nicht verschwiegen bei der Rekonstruktion der Familiengeschichte aus einer Erzählperspektive, die von Kapitel zu Kapitel wechselt. Es werden sozusagen auch aufschlußreiche, mal liebevolle, mal scheele Blicke von außen, von Nachbarn, Wirtschafterin, Schulfreundin, und Hausfreund auf die Familie geworfen, immer intermittierend zu jenem sich fast überdeutlich ins Kempowskische Familienbewußtsein einfühlenden Haupterzähler. Eine Albernheit und ein Kabinettstückchen seien noch genannt aus den 47 Kapiteln des Buchs: Da läßt Kempowski die Frau von Hans le Bonsac, die dieser sich 1903 aus England geholt hat und die angeblich nie richtig Deutsch lernte, einmal ein Kapitel lang in ihrem gebrochenen Hochdeutsch radebrechend erzählen – das heißt die Authentizität doch um eine unsinnige Spur zu weit treiben. Doch der Bericht von einer typischen Landpartie der Kempowskis an einem Sonntag gehört in jedes Lesebuch über die wilhelminische Zeit und ihr Bürgertum.
Der Prüfstein des Buches von den Mini-Buddenbrooks ist dann das Zusammentreffen von Kempowskis Erzählverfahren mit dem Stoff des Ersten Weltkriegs. Siebzehnjährig meldet sich Karl Kempowski 1914 natürlich zum Militär, rückt dann 1915 ins Feld und erlebt den Krieg bis zum Ende an der Front. Da mögen die Einzelheiten stimmen, aber die Massivität des Kriegserlebnisses kommt zunächst einfach nicht über die Rampe, alles bleibt leicht und oberflächlich, Erschütterung teilt sich kaum mit, es ist, als wüßte der Erzähler mit Affekten, mit dem Furchtbaren überhaupt, nicht umzugehen. Am Ende aber sehen wir den giftgasverwundeten Leutnant Karl, ein frühzeitig hart gewordenes Bürschchen von zwanzig Jahren, auf Urlaub in der Heimatstadt, in der Straßen, Familie und andere Menschen ihm plötzlich fremd geworden sind, auf die er nun einen „erwachsenen“ Blick wirft; kurz darauf ist er an der Front dann Zeuge des Todes seines besten Freundes. Und da schlägt die ganze Furchtbarkeit des Erzählten doch durch; gerade weil das leise und ohne Pathos, ganz kurz gestrichelt und erzählt wird, teilt sich hier die ganze Furchtbarkeit der Szenen mit, das Buch endet, bei allem Andeutenden des Erzählstils, tief verstört und deprimiert. Es bleibt dabei, daß Kempowski kein ausgreifend und scharf reflektierender Erzähler ist, auch kein Psychologe, der mit großen Überraschungen aufwarten könnte, und seine Abwehr gegenüber eindeutigem Ernst, gegenüber Pathos ist so groß, daß er das, was an die Nieren gehen könnte, lieber in einen Beinahe-Jux umbiegt; Musterbeispiel das Wiedersehen mit seiner Mutter nach acht Jahren in DDR-Gefängnissen am Ende von „Ein Kapitel für sich“: „Wir weinten beide, und der Taxifahrer ging um sein Auto rum und sagte: ‚Das ist ja direkt erschütternd’.“ Der Witz ist hier, daß das, wie’s erzählt wird, nur indirekt erschütternd ist, denn der Kempowskigewohnte Leser ist sofort bereit zu lachen, und den Satz „Das ist ja direkt erschütternd“ gleich ins Reservoir der typischen und übernehmbaren Schnacks zu übernehmen. Und von welcher politischen (im weiteren Sinn) und auch lebensgeschichtlichen Position her, von welchem Selbstverständnis aus der Autor Walter Kempowski eigentlich seine Familienchronik teils rekonstruiert, teils typische Züge verstärkend fingiert, ist auch nur zu ahnen; Angst vor dem Verlust der letzten Reste einer ohnehin nicht mehr zu rettenden Bürgerlichkeit mit all ihren Sicherheiten und Tugenden ist da sicher auch im Spiel. Aber nach der Lektüre von „Aus großer Zeit“ ist man doch wieder gespannter auf seine nächsten Bücher.
Walter Kempowski: Aus großer Zeit. Roman. Albrecht Knaus Verlag, München 1978
Jörg Drews: Die Sippe Kempowski betritt die Bühne. „Aus großer Zeit“ – der chronologisch erste Band der Familiensaga von Walter Kempowski. In Luftgeister und Erdenschwere, S. 88 – 92, Erstveröffentlichung SZ, 16./17. September 1978