Franz Mon: Durchblick und Draufblick. Über das Bielefelder Colloquium Neue Poesie 1978–1997.
Das Bielefelder Colloquium Neue Poesie ist ein unwahrscheinliches Ereignis. 1997 wird es zum zwanzigsten Male stattfinden, doch von den neunzehn vorangegangenen sind kaum Spuren geblieben.1 Die überregionalen Medien haben sich, über die Jahre verstreut, nur sporadisch darauf eingelassen. Die regionale Presse platzierte die Berichte, insbesondere über die öffentlichen Lesungen, die von Anbeginn an unerwartet großen Erfolg hatten, im Lokalteil, und auch diese Spuren sind längst verweht. Das gilt, dem Medium entsprechend, auch für die Einstundensendungen, die der WDR aus den Lesungen zusammengestellt hat.
Zwar kam im Laufe der Jahre immer mal wieder in der Autorengruppe der Gedanke auf, die Tätigkeiten des Colloquiums zu dokumentieren oder eine Anthologie mit den Arbeiten der Teilnehmer zu publizieren, doch er wurde jedes Mal verworfen, vielleicht aus Abneigung gegen Verklumpung durch die eigene Historie, vielleicht auch in der Gewissheit, dass die mentalen Prozesse in ihrer Momentaneität die Sache sind, um die es geht, deren Erträgnisse von jedem Einzelnen zu nutzen oder zu vergessen sind. Jedenfalls sind weder die verwendeten Texte und Materialien archiviert noch die Diskussionen protokolliert, so lesenswert und über den Augenblick hinaus aufschlussreich manche auch gewesen sind. Es existieren nicht einmal einigermaßen vollständige und zutreffende Teilnehmerlisten aller Tagungen.
Die einzige Ausnahme bildet ein Heft der Zeitschrift zweitschrift, deren Nummer 6 im Herbst 1979 unter dem Titel „how to write in Bielefeld und anderswo“ Mitschnitte von Diskussionen des 2. Colloquiums 1979, Interviews mit einzelnen Autoren, am Rande der Tagung wie auch nachträglich noch erstellte, und verbale und visuelle Arbeiten nahezu aller anwesenden Autoren veröffentlichte. Die beiden Herausgeber, Uta Erlhoff-Brandes und Michael Erlhoff, die als Gäste an den internen Gesprächen teilnahmen, waren sich dessen bewusst, wie prekär ihr Vorhaben war. Im Vorspann des Heftes schrieben sie daher: „Die Herausgeber mühen sich, gleichsam im retrospektiven Nachvollzug, Prozesse, Brüche, Kontroversen ein Stück weit auf dem Papier zu dokumentieren, Fragmente und Abfallprodukte auch unterhalb des offiziellen Geschehens zu zeigen. Wir haben nicht geglättet, Widersprüchliches, Unabgeschlossenes blieb bestehen.“¹ Damit ist schon einiges über das tastend-probierende Procedere der Gruppe gesagt.
Der Initiator der ersten Tagung war Siegfried J. Schmidt. Er benutzte ein psychologisches Forschungsvorhaben im „Zentrum für interdisziplinäre Forschung“ an der Universität Bielefeld, gewissermaßen im Huckepackverfahren zwanzig Autoren einzuladen, die für ihn zum Kernbestand der „experimentellen Literatur“ zählten. Wer von den auf einer „vorläufigen Teilnehmerliste“ Genannten tatsächlich dabei war, lässt sich heute mit Sicherheit nicht mehr sagen. Anwesend waren jedenfalls: Chris Bezzel, Pierre Garnier, Jochen Gerz, Eugen Gomringer, Lily Greenham, Bohumila Grögerová, Helmut Heißenbüttel, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Franz Mon, Oskar Pastior, Gerhard Rühm, Konrad Balder Schäuffelen, Siegfried J. Schmidt, Timm Ulrichs, Oswald Wiener. Diese vermutlich nicht vollständige Liste enthält im Wesentlichen die konstanten Teilnehmer der folgenden Jahre.
Zuwahlen wurden, nachdem sich striktere Verfahren als nicht handhabbar erwiesen hatten, formlos, gewissermaßen auf Zuruf vorgenommen und letztlich den Organisatoren anheimgegeben. Von den 61 auf einer jüngst erstellten Liste Genannten2 sind manche nur hin und wieder, einige ganz selten, andere nur in den frühen Jahren erschienen. Die Liste wäre noch um einiges länger, wenn auch der probehalber Eingeladenen gedacht würde, die in den Folgejahren jedoch nicht mehr berücksichtigt wurden oder von sich aus desinteressiert waren. Beträchtlichen Gewinn hatten und haben die internen wie die öffentlichen Veranstaltungen durch die Autoren, die aus nichtdeutschsprachigen Literaturen hinzugebeten wurden. Bereits zum 1. Colloquium kamen Pierre Garnier aus Frankreich, Lily Greenham aus England und Bohumila Grögerová aus der Tschechoslowakei (andere eingeladene Tschechen hatten keine Ausreiseerlaubnis erhalten). Die Franzosen verstärkten sich in den folgenden Jahren durch Ilse Garnier, Henri Chopin, Bernard Heidsieck und Christian Prigent. Jeremy Adler (England), Robert Lax (USA/Griechenland), Jan Faktor (Tschechoslowakei/DDR), Valeri Scherstjanoi (UdSSR/DDR), Harry Mathews (USA) und Inger Christensen (Dänemark) erweiterten und erweitern das poetische Spektrum. Die Absicht, Autoren aus der DDR zu gewinnen, hat nur in beschränktem Umfang Erfolg gehabt. Man kann Scherstjanoi und Faktor auch hier nennen; sie wie auch Olaf Nicolai sind geblieben. Carlfriedrich Claus, Ruth Wolf-Rehfeldt und Elke Erb waren nur einmal anwesend, aus unterschiedlichen Gründen.
Als während des ersten Colloquiums 1978 Wunsch und Gedanke aufkamen, das Begonnene fortzusetzen, stellte sich damit auch die Frage nach dem geeigneten Rahmen. Ernst Jandl trug aus einem vorbereiteten Diskussionspapier, unerwartet für die anderen, den Vorschlag vor, eine „Internationale Gesellschaft für neue Poesie mit Sitz in West-Berlin“ zu gründen. „Zweck der Gesellschaft“, so Jandl, „ist die konsequente und kontinuierliche Förderung der Produktion, Publikation und Distribution sowie der kritischen und wissenschaftlichen Reflexion der neuen Poesie in allen Teilen der Welt.“3 Die Reaktion der Anwesenden war gemischt und eher bedenklich als zustimmend, stellte ihnen Jandl doch eine Herkulesarbeit vor Augen, deren Zielrichtung betont literaturpolitischer und marktstrategischer Art war, während man eigentlich im Sinn hatte, sich bevorzugt mit der eigenen Produktion und ihren Problemen zu beschäftigen, was in Jandls Zweckbestimmung nur unter anderem vorkam. Die Vorstellung der institutionellen, organisatorischen und nicht zuletzt finanziellen Erfordernisse der gedachten überregionalen Vereinigung muss ebenso abgeschreckt haben wie die Aussicht auf Mitgliederrolle und Vereinsmeierei.
In nüchterner Einschätzung der Möglichkeiten wie der waltenden Tendenzen, doch auch aus der eigenen Mentalität heraus, regte Helmut Heißenbüttel als Reaktion auf Jandls Idee an, nichts zu gründen, sondern eine „fluktuierende“ Autorenversammlung einzurichten, die sich bei einem Minimum an äußerem Aufwand einmal jährlich treffen könnte.4 Wohl in bewusstem Gegensatz zur Praxis der Gruppe 47 dachte er an text- und problemzentrierte Dialoge in der Gruppe, deren gewollt heterogene Zusammensetzung die erwünschte Offenheit und Spannweite der Aspekte und Kriterien sichern würde. „Wofür ich spreche“, hatte Heißenbüttel in seinen schriftlich vorliegenden „Thesen zum Kolloquium Literaturentwicklung und Literaturanalyse“ geschrieben, „ist das Nichtfestlegen auf irgend etwas, ist das Offenhalten des Offenen als Selbstzweck, ist das Risiko als Gradmesser für das, was mir unbekannt ist und was ich erst, indem ich riskiere, erhellen kann“.5 Heißenbüttels Impuls, möglichst wenig festzulegen und keine einzwängenden Strukturen zu errichten, hat weithin die Colloquien bestimmt.
Die Textorientierung stand nicht am Anfang des Colloquiums. S.J. Schmidt hatte bei seiner Einladung 1978 als Thematik vorgegeben: „Literaturentwicklung und Literaturanalyse: Entwicklungstendenzen und Beschreibungsmöglichkeiten experimenteller Literaturen“ und zur Verdeutlichung sechs Themenbereiche zur Diskussion angeboten. Sie zielten überwiegend auf die Beschäftigung mit dem externen Umfeld der Literaturproduktion, nicht auf die Aspekte der eigenen Arbeitsmethoden und -ergebnisse. Ernst Jandl war wohl der Einzige, der sich aus Überzeugung die Blickrichtung von S.J. Schmidt zu eigen gemacht hatte. In dem bereits erwähnten Papier versuchte er, die aufgegebenen Themenkomplexe zu füllen, bis zu jener Konsequenz der Gründung einer internationalen Gesellschaft. Trotz gegenläufiger Tendenzen in der Gruppe plädierte Jandl in der Schlussdiskussion des 2. Colloquiums 1979 erneut: „Gerade das, was draußen geschieht, geht uns etwas an, und diese ganze Aktion Bielefeld müßte nach außen gerichtet sein, nämlich auf die Situation der deutschsprachigen Literatur heute.“6 Ihm schwebt offensichtlich eine auf die Öffentlichkeit einwirkende Mittler- und Werbeaktivität durch das Colloquium vor. Doch sie auch nur in bescheidenem Maße auszuführen, fehlten alle Voraussetzungen, wie Geschäftsführung, Sekretariat und Budget. Sie dagegen bloß im Inneren vorzunehmen, hätte bedeutet, es zu einem Forum, einem Kontakthof für Verleger, Kritiker, Medienleute zu machen. Nicht zuletzt die Befürchtung, dass durch solche Teilnehmer die Unbefangenheit des internen Austauschs und der Auseinandersetzung, die bis zur schonungslosen Offenheit sollte reichen können, beeinträchtigt werden und die Kollegialität angesichts einflussreicher Personen in Konkurrenz umschlagen könnte, bewirkte, dass diese ganze Flanke ausgeblendet wurde. Die wenigen Literaturwissenschaftler, Kritiker, Journalisten, die eingeladen oder zugelassen wurden, waren handverlesen und in der Runde als Beiträger, nicht als Vermittler und Vermarkter willkommen.
In einem Bericht über das erste Treffen hat Jörg Drews aus seiner beteiligten Distanz den Lebensnerv aufgewiesen, der sich durch die Auseinandersetzungen gezogen hatte: „Wenn nach den vier Tagen eines Colloquiums über ,Literaturentwicklung und Literaturanalyse‘ 20 Teilnehmer dasitzen, alle Fragen offen, ja zum Teil überhaupt erst formulierbar scheinen und dennoch die Runde über den Verlauf ihrer Gespräche recht glücklich ist, so mag das paradox scheinen. Aber diese Zufriedenheit war keineswegs Selbstzufriedenheit: sie ist vielmehr der Reflex einer Mangelerscheinung. Es fehlt, so könnte man sagen, gerade auch für die Literatur, die man inzwischen ungenau aber mit vager Selbstverständlichkeit die ,experimentelle‘ nennt oder auch die ,avantgardistische‘ (und innerhalb derer die ,Konkrete Poesie‘ wiederum ein Teilbereich ist), ein Forum des Nachdenkens über sich selbst, die Möglichkeit der Standortbestimmung, die Chance der Rechenschaft darüber, was sie erreicht, wie sie sich verwandelt, verhärtet oder geöffnet hat.“7
Bei allem guten Willen war es nicht zu vermeiden, dass in einer Versammlung, die weder Statuten noch verbindliche Richtlinien, noch eine zu verbindlichen Direktiven befugte Hierarchie kannte (und sie auch nicht kennen wollte) und einzig von dem Interesse jedes Einzelnen an dieser Sache zusammengehalten wurde, die Verfahren, wie denn nun vorzugehen, was denn zu behandeln sei, nur in einem allmählichen, ruckenden, oft frustrierenden Prozess geklärt und verabredet werden konnten. Das hat durch die Colloquien hindurch viele Stunden gekostet. Die aus- und durcheinanderlaufenden Tendenzen wie auch die Bemühungen aller, gangbare und annehmbare Wege zu finden, lassen sich am Beispiel des Abschlußgesprächs des 2. Colloquiums nachlesen.8
Über entsprechende Beobachtungen beim 3. Colloquium ein Jahr später berichtete Gisela Lindemann, Redakteurin im Norddeutschen Rundfunk, die als Gast an den Sitzungen teilgenommen hat, in einer Radiosendung: „Tagung einmal im Jahr, mit einer öffentlichen Lesung samt Filmvorführungen, Kunstaktionen und Verwandtem, zweieinhalb Tage Workshops mit Autorenberichten über ihre Arbeit, Lesung und Diskussion von Texten und natürlich, wie bei einer so heterogenen Gruppe von lauter kreativen, sensiblen, auch narzißtischen Autoren unvermeidlich, einem gerüttelten Maß von Zeitaufwendung für Verfahrensfragen, die streckenweise für den auf Effektivität getrimmten und also ungeduldigen Beobachter (ich meine mich) etwas Lähmendes hatten. Versöhnt war ich damit eigentlich erst, als am letzten, dem geselligen Abend die heimliche Königin der Wiener Autorengruppe, Friederike Mayröcker, mir in der ihr eigenen Geduld eines Lammes sehr vorsichtig darlegte, wie sich bei einer solchen Tagung mit so vielen verschiedenen Autoren doch erst allmählich die Nerven aufeinander richteten. Und aus dem Nachhinein betrachtet, stimmte das genau: denn von dem Augenblick an, als einer der Autoren in die Bresche sprang und etwas von sich herzeigte, einen Text nämlich, über den dann im Plenum geredet wurde, wurden die Workshops dann so intensiv, daß man darüber staunen konnte, wieviel in vergleichsweise wenigen Stunden bei solcher Arbeit herauskommen kann. (…) Da wurden auch Schwierigkeiten mit der eigenen Arbeit nicht ausgelassen, wurde von Sackgassen berichtet, aber auch von der Weiterentwicklung der jetzigen Arbeit aus der früheren etc. Zwei der vier Autoren mußten sich harte Kritik aus dem Plenum gefallen lassen, deren Schärfe umgekehrt proportional zu der Vorsicht zu stehen kam, in der sie vorgetragen wurde: hier kannte wirklich jeder genau seine eigenen Idiosynkrasien und seine Kränkbarkeit und äußerte sich entsprechend behutsam zu den Arbeiten anderer, so daß manche Voten fast Kunstwerke waren, aber auch mit deren Anspruch: gemogelt darf nicht werden, weder aus falsch verstandener Höflichkeit noch aus gruppendynamisch erklärlicher Scheu oder Bequemlichkeit.“9
Triebfeder für die bevorzugte Beschäftigung mit den eigenen Texten war, vor allem in den frühen Jahren, das Bedürfnis, in und angesichts einer literaturpolitisch indifferenten und abweisenden bis feindseligen Medienumwelt die eigenen Konzeptverläufe und deren Ergebnisse bei den Freunden und Kollegen zu testen, ihre Tragfähigkeit auszuprobieren und vor allem auch Spielräume ganz divergenter Positionen mit ihren Erfindungspotentialen wahrzunehmen. Zwar erreicht die Heterogenität, die die Zusammensetzung der Gruppe aufweist, immer wieder den kritischen Punkt, wo Verständigung ausbleibt oder sogar desavouiert wird, doch so merkwürdig es klingt, dadurch, dass auch Teilnehmer mit extrem auseinanderliegenden Begriffen beteiligt sind, stellt sich immer wieder eine paradoxe antagonistische Kohärenz her.
Gegenüber der Textarbeit rückte die Beschäftigung mit übergreifenden Themen in den Hintergrund. Wenn sie auftauchten, dann oftmals im Zusammenhang mit Fragen, die bei der Besprechung der Texte aufkamen. Den jährlichen Einladungen ist jedes Mal die Aufforderung angefügt, Themen für die Diskussion zu nennen. Werden welche vorgeschlagen, so gelten sie, im Gegensatz zu der Blickrichtung der Anfangsjahre, inzwischen vorwiegend literaturpsychologischen oder -soziologischen Fragen. Dass auch sie dann nicht aufgegriffen wurden, lag zum Teil daran, dass – mit seltenen Ausnahmen – die Vorschlagenden die inhaltliche Ausfüllung weder als Papier noch als Referat erbrachten, vielmehr der Diskussionsdynamik mehr zutrauten, als sie zu leisten vermochte. Hinzu kam offensichtlich eine allgemeine Abneigung, sich auf Akademisch-Theoretisches ohne unmittelbare Verflechtung mit den Fragestellungen der eigenen Textarbeit einzulassen. Wurde der poetologische Nerv gereizt, so kam es immer wieder auch zu Erörterungen übergreifender Phänomene und Probleme. Beispielhaft dafür war etwa ein Gespräch vor einigen Jahren, an dem die ganze Runde sich lebhaft beteiligte. Ausgelöst wurde es von einem Referat Georg Jappes über die langfristig drohende Gefährdung schriftlicher, also auch literarischer Produktionen durch die chemische Hinfälligkeit industriell gefertigter Papiere (es war dabei bewusst, dass Entsprechendes auch für die elektronisch gespeicherten akustischen oder visuellen Texte gelten dürfte). Da verhakte sich die poetisch-mentale mit der praktischen Dimension, hielt doch das Problem mit seinen Implikationen jeden an, sein und seiner Erzeugnisse Verhältnis zum Phänomen der Zeit zu bedenken: ob er auf Maßnahmen zur materiellen Dauerhaftigkeit seiner Texte sinnen sollte, um durch Generationen überdauernde Zeugnisse seine kleine Ewigkeit zu erlangen, oder ob er das Transitorische als seinem Arbeitsbegriff prinzipiell innewohnendes Moment hinnehmen, gar begrüßen wollte. Es wurden beide Positionen vertreten; dabei konnte Jappe den Anhängern der ,kleinen Ewigkeit‘ nur empfehlen, bei den Verlegern darauf zu dringen, dass ihre Texte auf holzfreiem, chemisch unbedenklichem Papier, am besten auf Bütten, gedruckt würden.
Es versteht sich von selbst, dass eine solche prekäre Mischung von Autoren nur mit aller Behutsamkeit existent gehalten werden kann. Dazu gehört auch, dass Etikettierungen vermieden und Empfindlichkeiten gegenüber jeder Art von Schulbildung oder Gruppenidentifikation berücksichtigt werden. Mit der neutralen und allgemein konsensfähigen Bezeichnung „Neue Poesie“ für das Colloquium wurden ältere und zunächst naheliegende Formeln, wie ,konkrete‘ oder ,experimentelle‘ Poesie, die durchaus dem Selbstverständnis der meisten der anfangs beteiligten Autoren entsprochen hätten, jedoch für andere und vor allem jüngere wegen ihrer historischen Besetztheit nicht mehr brauchbar erschienen, umgangen und der Blick auf noch unbekannte, noch gar nicht existente poetische Arbeitsweisen offengehalten. Dass damit nicht Hinz und Kunz die Tür aufstand, hat Klaus Ramm – zusammen mit Jörg Drews alternierend Mentor und Organisator der Colloquien10– klargemacht, wenn er den umgreifenden poetologischen Horizont des Colloquiums bei verschiedenen Gelegenheiten zu umreißen unternommen hat. So äußerte er sich gelegentlich eines Interviews für den Westdeutschen Rundfunk 1981: „ (…) Die Autoren, die hier sind in Bielefeld, haben alle gemeinsam, daß sie nicht (…) in der Sprache, sondern direkt mit der Sprache arbeiten. Sie beziehen die Sprache, die Wörter, die Satzzeichen, die Syntax, die Grammatik, mit in ihre Arbeit ein. Sie glauben, daß, wenn man auf veränderte Zeitverhältnisse reagiert, (…) sich auch die Schreibtechniken ändern müssen, und daher haben sie eine ganze Reihe verschiedener solcher Schreibtechniken entwickelt. Das geht hin bis zum Bildgedicht oder Plakatgedicht, es geht hin bis zum Lautgedicht, es geht rüber zur Musik. Einige haben sogar Plastiken aus Buchstaben und Wörtern gemacht, andere machen wieder Gedichte, machen wieder Erzählungen, die zwar aussehen wie traditionelle Erzählungen, in Wirklichkeit aber dadurch, daß man die Sprache direkt beim Wort nimmt, sowas wie Handlung im traditionellen Sinne gar nicht mehr haben.“11
In dem oben erwähnten Papier „Thesen zum Colloquium“ von 1978 hat Helmut Heißenbüttel das von Ramm angesprochene Reagieren auf veränderte Zeitverhältnisse als poetologischen Nervpunkt angesprochen. Im Hinblick auf seinen Begriff einer ,offenen‘ Literatur skizziert er die ambivalenten Beziehungen zwischen der Gebrauchssprache, in der sich die gängige gesellschaftliche Praxis artikuliert, und der poetischen Sprache, die mit ihr experimentiert. Ich weiß nicht mehr, ob diese Papier damals in der Runde diskutiert worden ist. Seine Aussagen konnten, jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt, als Orientierungsmomente eines Selbstverständnisses dieser Autorenversammlung nützlich sein. Seine Erörterung führt Heißenbüttel zu der Folgerung: „Dem Kriterium der Störfunktion (sc. der experimentellen Poesie) und der Maxime zur unbedingten Tuchfühlung mit dem, ich will einmal sagen, Zeitgeist, müßte als ein weiteres und absolut zu nehmendes Kriterium hinzutreten das des Risikos im jeweils neuen, jeweils veränderten, jeweils nicht abzuschätzenden Einsatz. (…) Der Rückgriff und das Eingehen auf das Phänomen der Sprache selbst zum Zweck neuen literarischen überschreitenden Sprachgebrauchs würde dann nicht eine Erneuerung und Purifizierung von Sprache bedeuten, eine allgemeine, ideologiefreie, von der Literatur ausgehende radikale Sprachreform. Sondern es müßten einbezogen werden auch alle komplexen historischen wie gesellschaftlichen Vorbildungen der Sprache, die historisch in dieser bestimmten konkreten Form übermittelten Inhalte wie Sonderformen. Die Rückgriffe der Restauration selbst müßten ins Licht der verändernden neuen literarischen Verfahrensweise mit hineingezogen werden. Nur so läßt sich dann die Restauration des Ideologischen durchschauen und abbauen. (…) “12 „Die Frage, die sich heute stellt, müßte lauten, ob nicht diese Rückführung (sc. der konkreten Poesie auf ,Einwortgedichte‘ Gomringers) zuviel ausgelassen hat. Ob nicht gerade die Ambivalenzen in bestimmten Wortgruppierungen, in Satzverbindungen, ja in bestimmten Ausrichtungen von Redeweisen, Erzählweisen insgesamt, ebenso in den Grundcharakter des Phänomens Sprache zu rechnen sind wie die Bedeutungshöfe der Wörter und ihre gleichsam sprachchemischen Koppelungen, wie sie im deutschen Sprachbereich Friederike Mayröcker immer wieder versucht hat. (…) Die Frage lautet hier, wie weit das Gegenbild einer anderen, störenden Sprachverwendung reicht und wo es unmöglich wird, sich einzulassen mit dem, dem man sich entgegenstellt. (…) “13 „Erst wenn ich den Ausschlag des Risikos spüre, habe ich die Vermutung, daß ich vielleicht richtig gehe. Gewiß weiß ich es weder, noch kann ich erkennen oder eine Regel liefern, wo das Risiko liegt. Gleichsam blind soll ich den Sehenden das wahre Land zeigen.“14
Mit diesem Schnitt durch die alltägliche wie die poetisch-experimentelle Sprachverwendung ist zwar nicht die Poetik des Colloquiums umrissen – eine solche Fixierung schließt die Schreibpraxis seiner Autoren aus; doch als eine Art poetologisches Lackmuspapier benutzt, färbt sich Heißenbüttels Thesenpapier bei der Berührung mit erstaunlich vielen Texten aus diesem Kreis.
Bezeichnend für das Colloquium ist es, dass ,Poesie‘ nicht mit Literatur und schon gar nicht mit Lyrik gleichgesetzt, vielmehr zu ihrer Definition ein umfassender Begriff von Sprache verwendet wird, der alle ihre Wirkungsformen im Blick hat: die verbalen, sonoren, gestischen, skripturalen, eidetischen. Es macht übrigens auch einen der Reize der öffentlichen Lesungen aus, dass sich Verbales, Akustisches und Bildliches ablösen, scheinbar unverbunden und doch in weitgespanntem Zusammenhang, der Analoges wahrnehmen lässt. Im internen Colloquium dominiert zwar, auch aus praktischen Gründen, die Beschäftigung mit verbal-sprachlichen Arbeiten, doch bringen Teilnehmer, wie Ilse Garnier, Heinz Gappmayr, Jochen Gerz oder Georg Jappe, bei Bedarf die bildnerischen Parameter mit ins Gespräch.
Auch den zuträglichen äußeren Rahmen für die Tagungen und Veranstaltungen zu finden, hat einige Zeit beansprucht. Die internen Sitzungen der beiden ersten Colloquien fanden jeweils im Februar in den Räumlichkeiten der Universität statt. Es erwies sich alsbald, dass weder die Örtlichkeiten noch die Jahreszeit für den Tagungsverlauf förderlich waren: die Atmosphäre der Massenuniversität, das etwas altertümliche und vom Sitzungsort aus schlecht erreichbare Quartier im Bielefelder Hof, das Kantinenessen, das oft garstige Wetter, die insgesamt wenig einladende Umgebung. Mit der seit dem 3. Colloquium geltenden Einladung in die außerhalb der Stadt gelegene Heimvolkshochschule Haus Neuland, wo Arbeiten und Wohnen unter einem Dach möglich sind, war eine Art Eremitage gefunden, die ohne Ablenkungen und Zeitverluste offizielle Sitzungen und informelles Zusammensein erlaubte. Denn das vermutlich wirksamste Motiv, die Reise nach Bielefeld mit ihren unvermeidlichen Belastungen auf sich zu nehmen, war und ist noch immer die Begegnung mit den Freunden und Kollegen, die sonst oft für den unmittelbaren Kontakt unerreichbar bleiben. Was bei den Spaziergängen in den umgebenden Wäldern, bei Tisch oder an den Abenden angesponnen und ausgetauscht worden ist, lässt sich nur ahnen. Bei den zahllosen Begegnungen, die immer wieder anders gemischt waren, ist sehr viel an Vertrautheit, Zuwendung und Empathie entstanden.
Bereits das 1. Colloquium, das zunächst nur als interne Tagung angesetzt war, hat durch die spontan von Ramm, Drews und Schmidt organisierte öffentliche Lesung im Vortragssaal der Kunsthalle seine Außenseite gehabt. Die als „Fest für neuere Literatur“ angekündigte Veranstaltung lockte mit der Ankündigung der „bekanntesten Vertreter der konkreten und experimentellen Poesie aus ganz Europa“ rund 400 Zuhörer an, die nicht nur den Saal mit seinen 240 Plätzen, sondern anschließende Flure, Treppen und Foyer besetzten. Dass Rühm und Wiener jeweils unter dem Namen des anderen auftraten, ist nur ein Symptom für die Ungewissheit, wer von den Autoren denn dort tatsächlich gelesen hat. Hat sich doch mancher erst während der Veranstaltung zum Auftritt entschlossen, während einige der Angekündigten gar nicht erschienen waren. Anwesend war ein überwiegend seriöses, bürgerliches Publikum.
Als es ein Jahr später – 1979 – um die zweite Lesung ging, wurde eine drastische Alternative erprobt. Die Gesamtschule Schildesche öffnete ihre Räume – Pausenhalle, Wandelgänge, Klassenzimmer, Toilette u.Ä. – zu einem dezentralisierten, zweimaligen Lesedurchgang, an dem sich 21 Autoren beteiligten. Eine solche lockere Veranstaltungsform entsprach dem damaligen Annähern an die Vorstellung einer transitorischen, szenisch-beweglichen, momentbezogenen Literatur. Wegen der Doppelstruktur – nachmittags die eine und in den Abend hinein eine zweite Lesesequenz – dauerte das Ganze insgesamt sechs Stunden. Erreicht wurden, wie mit der Ortswahl beabsichtigt, vor allem auch jüngere Zuhörer, und diese Alterszusammensetzung hat sich bis heute erhalten. Die Lesung fand im Übrigen eines der wenigen überregionalen Presseechos des Colloquiums. Bernd Scheffer schrieb in der Frankfurter Rundschau: „Ein zunehmend größeres Publikum entdeckt die ,Neue Poesie‘ für sich. Immer mehr Leute haben offenkundig Interesse und Spaß gerade auch an dem, was sie sich nicht sogleich erklären können. Der Wunsch, in gewohnter Weise abzuhaken, einzuordnen, schon auf der Stelle abschließende und ausschließende Wertungen vorzunehmen, scheint nun doch erfreulich geringer geworden zu sein. Und andererseits nehmen die Autoren dieser Literatur ihr Publikum verstärkt wahr: die Herausforderungen ihrer Texte, die vordem auf dem Weg zu den Zuhörern und Zuschauern nicht selten im Ansatz stecken blieben, kommen jetzt an. (…) Es geht um Schreibweisen, die das wacklige Verhältnis von Wahrnehmung und Sprache mit sperriger Genauigkeit oder spielerisch eingängiger Schlagartigkeit (…) erproben, es geht also um eine Literatur, die sich etwa aus dem Anlaß, daß die Bedeutung ihrer Wörter eben nicht mit dem Wörterbuch oder der akademischen Interpretation auszumessen ist, selber zum Thema macht, es geht um eine Literatur, die gleichermaßen willkommener wie unliebsamer Widerstand ist.“15
Die Schildesche-Lesung mit ihren leicht chaotischen Zügen wurde so nicht wiederholt. Doch der für die Lesungen solcher Autoren ungewöhnliche Besucherzuspruch – regelmäßig zwischen 400 und 500 Personen – und die extensive Dauer – jetzt zwischen drei und vier Stunden – blieben bestehen, auch als 1982 die Übung dadurch unterbrochen wurde, dass das Colloquium, einer Einladung des Goethe-Instituts folgend, in Athen stattfand und daher in Bielefeld ausfiel. Seit dem 8. Colloquium haben die öffentlichen Lesungen im Sitzungssaal des Neuen Rathauses mit seinem beträchtlichen Fassungsvermögen und seiner dennoch die Konzentration fördernden Atmosphäre eine optimale Örtlichkeit gefunden, obwohl es noch immer vorkommen kann, dass Gruppen von Zuhörern auf dem Boden Platz nehmen müssen. Es lesen jeweils zwischen 18 und 26 Autoren (so die bisherige Praxis), jeder – sieht man von einigen Ausreißern ab – 5 bis 8 Minuten. Für eine weitere Verbreitung sorgt der Westdeutsche Rundfunk durch eine Einstundensendung mit einer Auswahl aus der Lesung.
Der multimedialen Grundeinstellung des Colloquiums zufolge wechseln sich verbale, akustisch-szenische und visuelle Beiträge ab. Im Übrigen wählt jeder Beiträger seinen Platz in der Abfolge nach Gutdünken. Die geplante und zugleich zufallsbedingte Mischung der Medien, die Schwenks der Aufmerksamkeit, die dadurch bewirkt werden, sorgen ebenso für die Erhaltung des enormen, langgezogenen Spannungsbogens wie die Sprünge zwischen den poetischen Konzeptionen. Ein unschätzbares Moment bringen die fremdsprachigen Autoren, vor allem auch im Bereich der poésie sonore (Chopin, Heidsieck, Prigent, Scherstjanoi), in das Textensemble ein.
Die Zusammensetzung der Vortragenden ändert sich von Jahr zu Jahr. Zwar gibt es den stabilen Kern, doch erscheinen jeweils wieder neue Gesichter, auf Zeit oder auf Dauer. Von den 21 Autoren der Lesung anläßlich des 2. Colloquiums 1979 waren noch zehn an der des Jahres 1996 beteiligt; neun Autoren waren inzwischen dazugekommen. – Erwähnt werden soll an dieser Stelle, dass Helmut Heißenbüttel, dem das Colloquium seit seinem Beginn entscheidende inhaltliche und institutionelle Impulse verdankte, nahezu bis zum Erlöschen seiner Kräfte dabeigeblieben ist. In einem Bericht über die Lesung 1993 hieß es: „Helmut Heißenbüttel, einer der herausragenden Vertreter experimenteller Literatur, trug ,Erlebnisgedichte‘ vor. ,Alles aus Dreiviertelhöhe‘ im Rollstuhl sitzend, an den der 72jährige nach mehreren Schlaganfällen gefesselt ist. Seine Selbstbeobachtung des eigenen leidenden Körpers war eindringlich, unerbitterlich, lakonisch, so ganz und gar nicht sentimental und vielleicht gerade deshalb außerordentlich bewegend.“16
Während der Veranstaltung am 5. Mai 1995 las Heißenbüttel zum letzten Mal in der Öffentlichkeit. Welche Texte, Bildsequenzen, akustische Verlautbarungen während der zurückliegenden 19 Lesungen mit ihren weit über 400 Einzelbeiträgen zu hören und zu sehen waren, lässt sich, mangels jeder genaueren Dokumentation, im Nachhinein nur noch punktuell erinnern. Die aufmerksamen Berichterstatter, vor allem der ortsansässigen Zeitungen, haben vielerlei, oft sehr treffend, manchmal auch drastisch verkürzt, festgehalten. Dabei wurde nicht nur das Inhaltlich-Blinkende beachtet, sondern es wurden auch schon mal die verdeckten Arbeitsweisen angesprochen, und manchmal sind auch die Titel der Texte notiert worden. Als ein Beispiel für viele andere sei aus dem Bericht des Westfalen-Blattes über die Lesung zum 13. Colloquiums 1990 zitiert: „Dem so unpoetischen Phänomen Fußball nahm sich Ludwig Harig mit heiter geschliffen formulierten Alexandrinern und Terzinen an. Ferdinand Schmatz trug sechs lautmalend assoziative ,Speisegedichte‘ vor und setzte auch den Titel der Veranstaltung poetisch um. Auf wesentliche Wahrnehmungen konzentrierte Beobachtungen brachte Ralf Thenior ein. Wortkaskaden um die Silbe ,feig‘ und semantisch witzige Silbenpalindrome kamen von Oskar Pastior. Brutale und ordinäre Gesprächsfetzen aus seinem im Zuhälter- und Soldatenmilieu angesiedelten Theaterstück Fleischwolfsetzte dem Werner Fritsch entgegen. Alltägliche Alpträume in suggestiv wiederholten surrealistischen Bildern bot der Schweizer Urs Allemann. Sarkastische Wortreihungen als ,biophysikalischer Nationalgesang‘ trug Paul Wühr vor. Vier Variationen eines Satzgefüges mit jeweils ausgetauschtem Subjekt kamen von Helmut Eisendle. Philosophierende Wortspiele in Satzströmen sprach Bodo Hell. Reisesplitter aus Madrid in gegenübergestellten Sprachen brachte Chris Bezzel mit. Franz Mon variierte im dramatischen Vortrag auch seine Namenssilbe. Monotone Worthäufungen dagegen von Franz Josef Czernin. Mit einem Zähltext setzte Konrad Balder Schäuffelen den Schlußpunkt…“17
Da die Bezeichnung „Neue Poesie“ auch den Begriff einer visuellen Sprache umfasst, gehören zu den Mitgliedern des Colloquiums von Anfang an auch solche, die überwiegend oder ausschließlich skripturale oder bildnerische Texte und Textobjekte herstellen. Sie bringen ihre Arbeiten mit Hilfe von Dias in die Abfolge der Lesungen ein. Ist jedoch die materiale Beschaffenheit der Textbilder, Bildtexte unabdingbar für die zureichende Wahrnehmung, hilft nur die Präsentation der Originale. Dazu haben sich im Laufe der Jahre immer wieder Gelegenheiten ergehen. Zum ersten Mal konnte die Bandbreite der visuell-sprachlichen Konzepte anlässlich des 5. Colloquiums in Athen 1982 in einer Ausstellung Visuelle Poesiegezeigt werden. Vierzehn Autoren waren daran – in zwei aufeinander folgenden Phasen – beteiligt. Seit 1984 gab es entsprechende Ausstellungen in der Kommunalen Galerie im Neuen Rathaus. Dank der räumlichen und zeitlichen Nähe zu den öffentlichen Lesungen wirkten sie unmittelbar als deren Vervollständigung. Einzelausstellungen, als die optimale Präsentationsform, die breitgefächerten Einblick in ein Werk geben konnte, wurden zunächst von der Kunsthalle (Franz Mon, 1988), dann vom Bielefelder Kunstverein im Museum Waldhof (Carlfriedrich Claus, 1991; Josef Bauer, 1994; Heinz Gappmayr, 1996) ausgerichtet. Sie waren jeweils mit öffentlichen Diskussionen verbunden.
Was Ernst Jandl 1978 als wichtigen Programmpunkt angemeldet hatte, für das Verständnis und die Kenntnis experimenteller Poesie in einer breiteren, überregionalen Öffentlichkeit tätig zu werden, haben die beiden Organisatoren Klaus Ramm und Jörg Drews im Laufe der Jahre unprogrammatisch und von Fall zu Fall durch eine ganze Reihe verschiedenartiger Veranstaltungen an anderen Orten, sich bietende Gelegenheiten nutzend oder sie auch mit Geschick herbeiführend, unter dem Label des Bielefelder Colloquiums wenigstens punktuell zu verwirklichen unternommen. Mit wechselnder Besetzung haben sie zwischen Kiel und Zürich Lesungen, szenische Aktionen, Vorträge, ja ganze, dem Thema der experimentellen Poesie gewidmete Tagungen veranstaltet. Der Extrempunkt war gewiss das 5. Colloquium 1982, das auf Initiative von Hartmut Geerken und vom ansässigen Goethe-Institut eingeladen, nach Athen wanderte. An der öffentlichen Veranstaltung waren auch griechische Autoren beteiligt. Zweifellos haben alle diese Ausgriffe an der Fama des Colloquiums, die sich, mehr oder weniger genau konturiert, inzwischen über den deutschen Literaturhorizont hinaus ausgebreitet hat, mitgewirkt.
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Das Bielefelder Colloquium für Neue Poesie war von Anfang an eine durch und durch ,informelle‘ Einrichtung. Es hat keinen schützenden rechtlichen Mantel, ist nicht (was leicht zu machen wäre) als gemeinnütziges Gebilde eingetragen, in jedem Jahr müssen erneut in oftmals mühseligen Gesprächen die verhältnismäßig bescheidenen Finanzen verhandelt werden. Sein Zustandekommen hängt ab von der Überzeugung der beiden organisierenden Literaturprofessoren, dass es sich um eine der deutschen Literatur überaus dienliche, gar notwendige Sache handelt. Noch immer ist es ihnen gelungen, davon auch – und sie seien bewusst hier aufgeführt – das Kulturamt der Stadt Bielefeld, die Leitung von Haus Neuland, den Westdeutschen Rundfunk, die Westfälisch-Lippische Universitätsgesellschaft, das Österreichische und manchmal auch das Nordrhein-Westfälische Kultusministerium sowie neuerdings die Filmstiftung Nordrhein-Westfalen zu überzeugen, damit die Fortsetzung ermöglicht werden kann.
Doch auch das interne Spannungsfeld muss jedes Mal aufs Neue aufgeladen werden. Das ist nicht selbstverständlich, wie sich zeigt, wenn man die gegenwärtige offiziöse Liste mit rund 60 Autorennamen neben die der etwa dreißig tatsächlich und mit einer gewissen Kontinuität Beteiligten hält.18 Die Gründe für die Absenzen halten den Motiven für die Beteiligungen die Waage. Unter Ersteren rangiert vermutlich ganz obenan die Abneigung gegen literarische Gruppenbildung und einfärbende Etikettierung, ein solitäres Bewusstsein also, noch vor der Scheu vor den Mühen, die nun einmal mit der Teilnahme verbunden sind. Diese Abneigung hat ihre Berechtigung und muss geachtet werden. Sie besteht moderat sicher auch bei vielen, die trotzdem zur Anreise motiviert sind. Das Bündel der positiven Impulse mag bei jedem anders gemischt sein. Das Bedürfnis, etwas gegen die Isolation zu tun, in der sich Autoren mit solchem Selbstverständnis im Handumdrehen vorfinden, spielt gewiss eine Rolle. So hat Heißenbüttel schon 1978 in seiner Besprechung des 1. Colloquiums festgestellt, eine „Weiterführung“ dieser Art von Literatur „in den ihr angemessenen Raum der Offenheit“ sei zu finden „nur im Gespräch, in der Gruppe, in der Übereinkunft gegen die übermächtigen Zwänge des geschmacksrestaurativen und kommerziellen Konsensus“.19 Doch hat dieses Bedürfnis nur einen relativen Stellenwert; es vermag das Colloquium nicht zu funktionalisieren, was – wie die frühe Diskussion gezeigt hat – nahegelegen hätte. Wirksamer sind die Impulse, die von der Innenseite der Gruppe ausgehen, wie die Neugier auf andere, fremde Arbeitsprozesse und -ergebnisse, die im selben oder einem analogen Horizont wie die eigenen angelegt sind, die Möglichkeit zu Gesprächen nebenbei, die sich auf die gemeinsamen ,Sachen‘ ebenso wie auf Persönliches beziehen, wobei die ,Sachen‘ unversehens ins Persönliche changieren dürfen; das Mit- und Weiterspinnen eines Literaturgewebes, an dem so viele ,Spinner‘ mit ihren Texturen wirken und gewirkt haben ,inner‘ und außerhalb des aktuellen Kreises von Kollegen und Freunden; das Bewusstsein, damit an einem transitorischen, ungesicherten und zugleich faszinierenden Ereignis teilzuhaben, das – auf welche Weise auch immer, subtil oder markant – den Focus der eigenen Arbeit betrifft, anrührt, ausleuchtet und das doch nur in der Gegenwart der Anwesenden, also auch der meinigen, besteht.
Man verlässt das Colloquium jedes Mal mit der leisen Vibration, ob es nicht vielleicht das letzte gewesen ist, und dem unbestreitbaren Wunsch, dass das gerade abgebrochene nur unterbrochen sein möge.
Anmerkungen
1 uta brandes erlhoff/michael erlhoff (hg.): zweitschrift 6 how to write in bielefeld und anderswo oder das Bielefelder Colloquium Neue Poesie oder Hundschupfen in Bielefeld. Hannover: herbst 1979, S. 5f.
2 Klaus Ramm: Methodischer Ernst und anarchischer Charme. Das Bielefelder Colloquium Neue Poesie. In: Andreas Beaugrand (Hg.): Stadtbuch Bielefeld. Tradition und Fortschritt in der ostwestfälischen Metropole. Bielefeld: Westfalen Verlag 1996, S. 365.
3 Ernst Jandl: Diskussionsbeitrag für das Kolloquium „Literaturentwicklung und Literaturanalyse“ an der Universität Bielefeld vom 10. Bis 13. Februar 1978. Als Manuskript vorgelegt. Ms. S.3.
4Helmut Heißenbüttel: Konkrete Poesie als Alternative? Ein Kolloquium an der Universität Bielefeld. In: Die Zeit, 24.2.1978.
5 Helmut Heißenbüttel: These zum Kolloquium Literaturentwicklung und Literaturanalyse Bielefeld. 10. – 132.1978. Als Manuskript vorgelegt; abgedruckt in Klaus Schöning (Hg.): Spuren des Neuen Hörspiels. Frankfurt: Suhrkamp 1982. S.9ff (mit Ergänzungen zum Hörspiel). Nachweise nach der Buchausgabe.
6 brandes-erlhoff/erlhoff (hg.): zweitschrift 6, S. 10.
7 Jörg Drews: Das Offene offenhalten. Zu einem ‚Colloquium Neue Poesie’ in Bielefeld. In: Süddeutsche Zeitung vom 24.2.1978.
8 brandes-erlhoff/erlhoff (Hg.): zweitschrift 6, S. 108ff.
9 Gisela Lindemann: 3. Bielefelder Colloquium Neue Poesie. In: Journal 3 für Kultur und Kritik. Norddeutscher Rundfunk 3. Programm 12.5.1980. Manuskript S. 3f.
10 Siegfried J. Schmidt hat mit seinem Weggang aus Bielefeld seine organisatorische Mittäterschaft eingestellt.
11 Reinhold W. Vogt: Neue Poesie. In: Mosaik 2. Westdeutscher Rundfunk 3. Programm 18.5.81. Zitiert nach der Transkription S. 2f.
12 Heißenbüttel: These S. 14.
13 Heißenbüttel: These S. 15.
14 Heißenbüttel: These S. 16.
15 Bernd Scheffer: Der Dichter überspringt das Absperrungsseil. Das 2. Colloquium ‚Neue Poesie’ in Bielefeld. In: Frankfurter Rundschau vom 27.2.1979.
16 Alexandra Jacobson: Wo und was sein wir? Zum 16. Mal Colloquium Neue Poesie. In: Neue Westfälische vom 10.5.1993.
17 Heidi Wiese: Sprech-Sprach-Spiele. Die öffentliche Lesung des 13. Colloquiums Neue Poesie. In: Westfalen-Blatt vom 7.5.1990.
18 Ramm: Methodischer Ernst. S. 365.
19 Heißenbüttel: Konkrete Poesie als Alternative?
Nachbemerkung: Das Bielefelder Colloquium Neue Poesie war nach der Gruppe 47, die mit der Tagung 1968 endete, die einzige Gruppierung von Autoren im deutschen Sprachraum, die regelmäßig zusammenkam. Das 20. Treffen wurde mit einem Dokumentatsband, den der folgende Bericht einleitet, und einer Ausstellung begangen. Das Colloquium wurde mit dem 25. Treffen 2003 beendet.
Franz Mon: Durchblick und Draufblick. Über das Bielefelder Colloquium Neue Poesie 1978 – 1997. In: Visuelle Poesie. Katalog Kunsthalle Bielefeld. 1997. S. 9-23.