Jörg Drews: Ein anarchistisches Epos. Paul Wührs Rundgänge durch ein München aus Worten
Gegenmünchen ist kein Buch gegen München. Dem rabiat anarchistischen Geist, der das Buch durchzieht, wäre auch eine solche konstante negative Bindung an die Stadt noch zu viel Bindung; den gängigen München-Mythos von der „Weltstadt mit Herz“ zu attackieren erschiene ihm gewiß als eine viel zu subalterne Aufgabe. Er – oder wie er im Buch heißt und geschrieben wird: ER – bewegt sich vielmehr zusammen mit der zweiten Protagonistin SIE durch ein imaginäres München, ein München aus Worten, ein München der destruktiven, umschaffenden, willkürlich schaltenden Phantasie; er durchstreift dieses München in zehn „Stadtrundgänge“ betitelten Textsequenzen, die wieder untergliedert sind in Szenen, Passagen, „Gedichte“, die Stationen auf einem imaginären Stadtrundgang markieren. Und jede Station macht deutlich, daß die beiden Bewußtseine nicht daran denken, ihr Verhältnis zu München und Gegenmünchen eindeutig festlegen zu lassen; sie verändern die Elemente der Stadt, lassen sie zu neuen Figurationen zusammenschießen, betreten die von ihnen selbst geschaffene Phantasie-Szene in immer neuen Metamorphosen, als Comics-Figuren Minimann und Minifrau, als Haar-Insassen, als Zuhörer bei einer Grabrede, nächtliche Herumtreiber, als Tote, als Acidhead und als Dozentin, je nach dem, in welches Gravitationsfeld von Gegenmünchen sie kommen.
Denn dies Phantasiegebilde hat mehrere imaginäre Zentren: Stellt man sich die Stadt unter dem Aspekt des Mülls vor, so ist Großlappen das Zentrum, vom Westfriedhof aus herrscht der Tod, vom Nockherberg legt sich im Suff der Kombinatoriker seinen Stadtplan zurecht, vom Monopteros durchdringt der Guru mit transzendentaler Meditation das Menschengewimmel, in der Universität sitzt der imaginäre Geist des Dolmetschers, der das Chaos der Welt in wissenschaftlichen Klartext zu übersetzen versucht – und so weiter.
Das Epos vom phantastischen Umbau einer Stadt kann nur auf einen konstanten Nenner gebracht werden: es ist der organisierte Widerspruch, der in dem Buch wütet und nur vor dem einzelnen Wort haltmacht; das bleibt noch intakt. Dieser Geist des Widerspruchs geht so weit, daß das diese Phantasie-Stadt schaffende Bewußtsein sich weigert, den Bauplatz der Imagination zu säubern: es wird Unsinn, Schlacke, Müll, Schutt – und das heißt: unklares Wortmaterial, sprachlicher Abfall – im Buch belassen, irgendwo deponiert, eingebaut, vergessen. Insofern ist Gegenmünchen realistisch, als das Gegenstadtbild nicht ästhetisch verschönert, auf Gefälligkeit und Stromlinienform getrimmt wird, die ja schließlich auch keine Kennzeichen der Realität sind. Und wie das Bewußtsein Unsinniges und Sinnvolles enthält, so auch Gegenwärtiges und Vergangenes; SIE und ER bauen in die Wörter-Stadt, durch die sie dann ihre „trips“ machen, auch die Nazivergangenheit der „Stadt der Bewegung“, die katholische Vergangenheit, die revolutionäre Vergangenheit von 1919 ein und die Vorgänge an Ostern 1968.
Die abstrakte Konzeption dieses Gegenentwurfs, die Prinzipien der Organisation dieser halluzinierten Stadt, die noch durch trügerische Stadtpläne pseudo-kartographisch ergänzt wird, bekommen nach kurzer Lektüre durchaus Kontur. Man fühlt sich beflügelt von diesem Projekt der literarischen Abschaffung der realen Stadt, ihres rücksichtslosen Umbaus; das Ergebnis könnte kühner, freier, wahrer sein, man könnte sich mit grimmigem Vergnügen über das Abgerissene darin bewegen, unbekümmerten Geistes errichtete Neubauten darin bewundern.
Aber beim Lesen stolpert man dann doch über zuviel Schutt, und man wird frustriert vom Unsinnlichen, Grauen, Niederdrückenden der sprachlichen „Neubauten“. Kein Leser, der weiß, was es in der sprachästhetisch radikalen zeitgenössischen Literatur geschlagen hat, wird erwarten, daß man sich gleich beim ersten Lesen umstandslos zurechtfinden kann. Was aber geschieht, wenn man sich den Aufbau von immer neuen Passagen klargemacht hat, wenn man sieht, wie sie organisiert sind, wenn man erkannt hat, wie der Textverlauf auf der Seite von ferne noch an Verse eines Epos erinnern soll, aber natürlich sich in komplexere Gebilde, in zersplitterte Kolumnen oder gar in zwei Kolumnen auflösen muß – und wenn sich dann nach der Erkenntnis gar kein sinnliches Vergnügen einstellt, wenn man dauernd das Gefühl hat, es sei Sprache hier ganz abstrakt, von außen, nach Prinzipien organisiert worden, die keine Rücksicht darauf nehmen, daß Sprache sich nicht arrangieren läßt wie Schutt, weil das Einzelwort so etwas wie Eigenleben, Eigenrecht und Eigengesetzlichkeit hat, die es in schwieriger Dialektik in Einklang zu bringen gilt mit dem, was man die Intention des Textes nennen könnte? Es gibt enttäuschend viele Passagen in Wührs Buch, bei denen man vage ihre übergeordnete Idee und sehr genau die sprachliche Organisation erkennen kann, die aber dennoch brüchig und beliebig bleiben, die Mühsal des lesenden Nachvollzugs ihres Aufbaus nicht belohnen.
Die Kritiker-Feststellung, ein Buch sei in sich „ungleichmäßig“, ist inzwischen fast zum Klischee geworden, aber die Qualität des Wührschen Textes ist in erstaunlichem Maße eben dies: ungleichmäßig. Daß ganze Absätze einfach zerfleddern, andere wieder nur Worthaufen sind, wird gerade dadurch erkennbar, daß manche Passagen plötzlich von böser Evidenz, grimmiger Klarheit sind und einem die Sprache dann überraschend scharf im Ohr klingt – und nicht nur vom Blatt wegbuchstabiert werden muß. Da gibt es ein „Dokumentarspiel“ von vier Seiten, in dem Pater Rupert Mayer eine Grabrede auf 21 Opfer des weißen Terrors hält, belauscht von IHM und IHR; das ist ein hinterfotziges politisches Lehrstück in der Kunst, den die nicht an einem Mord schuldig sind, die doch in die Schuhe zu schieben und dann großmütig zu vergeben. Oder: SIE und ER streifen als „zwoa liabe Scheindode“ durch die Stadt und geraten in den Hauptbahnhof, wo sie ihr Gespräch auf das Thema Verlust des Glaubens bringen – aber das klingt viel zu steif und abstrakt: sie räsonieren in Mundart wie zwei Angetrunkene, die, über den Fässern vor dem Bierausschank der Bahnhofshalle hängend, sich plötzlich fragen: „… warums ihran God nimi möng de Guatn?“, und da bekommt der Text plötzlich Wahrheit und Leuchtkraft: man erkennt etwas darin wieder, ohne daß da Realität abgeschildert wäre. Auch aus den Demonstrationen von 1968 werden helle Funken geschlagen; eine Montage aus dem Vokabular und den politisch-taktischen Argumenten der APO und des Innenministers Merk gerät zur kühlen Demonstration von absurdem sprachlichen Leerlauf und haarsträubendem Aneinandervorbeireden, und auch die „Staatsakt“ betitelten Passagen, in denen „A der Richtige“, der Prototyp des Angepaßten, mit kalter Konsequenz die Entschlossenheit bekundet, seine Angepaßtheit notfalls brutal zu verteidigen, führt Wühr mit ganzer Schärfe bis zu dem Punkt, wo A ganz unvermittelt „der Cocktailwerfer“ ist und die imaginierte Figur also sozusagen in ihr Gegenteil stürzt. Und wie Wühr eine sprachliche „Okkupation“ eines Supermarkts vorführt, in deren Verlauf dann plötzlich die verdinglichte Sexualität der Sex als Ware die Regale füllt – das ist ätzend und rabiat und präzise imaginiert, das verändert die Wirklichkeit bis zur Kenntlichkeit.
Wie gesagt: ein „ungleichmäßiges“ Buch, ein „neurotisches“ Buch. Sein Blick auf die Welt, wie sich’s in einer Neurose gehört, unheimlich verzerrt, gestört, zugleich aber auch von böser Hellsichtigkeit. Es verärgert einen bis zur blanken Wut. An anderen Stellen macht es einen hellwach und ist so aufregend, daß man die Augen aufreißt.
Jörg Drews: Ein anarchisches Epos. Paul Wührs Rundgänge durch ein München aus Worten. Erstveröffentlichung in: Süddeutsche Zeitung, 30./31. Januar 1971. Wiederabgedruckt in: Jörg Drews: Lob des krummen Holzes. Über Paul Wühr. Hg. von Thomas Combrink. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2016, S. 17-20.