Axel Dunker, Sabine Kyora, Dirk Sangmeister: Ein biographisches Wörterbuch für Jörg Drews
Arno Schmidt (1914-1979), großer Mann mit kleinem Aktionsradius, ab 1958 in Bargfeld in der Lüneburger Heide hausend, wo ihn Jörg→Drews besuchte. Die „in Bargfeld, Räderloh und anderswo“ (Klaus Podak) bei Gesprächen und Spaziergängen gewonnenen, durch den habituellen Genuß von Bier, Ratzeputz und Rothhändle (→Rauschmittel) nur geringfügig getrübten Erkenntnisse führten in Folge zur Erfindung des A. S. Dechiffriersyndikates und der Gründung des Bargfelder Boten.
Bielefeld, ostwestfälische Stadt am Abhang des Teutoburger Waldes mit mehreren Fußgängerzonen, einer 1969 gegründeten, bis heute etwas randständigen Reformuniversität von einigem Ruf, einer ansehnlichen Kunsthalle sowie einem meist zweit-, mitunter aber auch dritt- oder erstklassigem Fußballverein. Wohn- und Dienstsitz von Jörg →Drews, auch Heimat des Verlages Aisthesis. Vgl. die von Jürgen Roth u. Rayk Wieland herausgegebene Anthologie Öde Orte. Ausgesuchte Stadtkritiken von Aachen bis Zwickau (Leipzig: Reclam2 1998).
Colloquium Neue Poesie (1971-2002), wider Erwarten langjähriger Zusammenschluß von Dichtern, wenigen Dichterinnen und Kritikern (u.a. Jörg →Drews) mit Sitz in →Bielefeld und dem Ziel, Literatur ohne Kompromisse zu machen und der interessierten Öffentlichkeit vorzuführen. Alljährliche Lesung aller DichterInnen mit Kultcharakter: Versammlung einer (gar nicht so) kleinen, vor allem aber radikalen Minderheit.
Drews, Jörg (*1938), in Berlin geborener, in München sich heimisch fühlender, dabei in →Bielefeld lebender, aber immer in Bewegung befindlicher (→Lufthansa) und dadurch phänomenal allgegenwärtiger Literaturwissenschaftler und Kritiker, der nun pensioniert wird und aus diesem Anlaß von Freunden, Weggefährten und Kollegen dieses Buch geschenkt bekommt. Nach Studium der Germanistik, Anglistik und Geschichte in Heidelberg, München und London, 1966 Promotion über Albert Ehrenstein, dann Redakteur der Süddeutschen →Zeitung, seit 1973 Professor für Literaturkritik und Literatur des 20. Jahrhunderts an der →Universität →Bielefeld. Erfinder des →Arno Schmidt Dechiffriersyndikates, Herausgeber des Bargfelder Boten und der Reihe Frühe Texte der Moderne, Mitbegründer des Bielefelder →Colloquiums Neue Poesie und der Johann Gottfried →Seume Gesellschaft zu Leipzig, zeitweise Vorstandsmitglied des deutschen →PEN, auch Juror und Laudator zahlreicher Literaturpreise (→Hörspielpreis der Kriegsblinden).
Expressionismus, besonders in der dtsch. Malerei und Literatur fruchtbare Stilrichtung des frühen 20. Jahrhunderts, die von emphatischen Kennern gern mit den Beiworten .groß und heilig. belegt wird. Im Gefolge der von Paul Raabe konzipierten Ausstellung in →Marbach im Jahre 1960 wurde vor allem München ein Ort der Wiederentdeckungen, wo seit 1976 die von Jörg→Drews, Hartmut Geerken und Klaus Ramm herausgegebene Reihe Frühe Texte der Moderne in der Edition →text + kritik erscheint.
Festschrift, ehemals ehrwürdige, wenn auch etwas steifleinerne, mitunter muffige Textsorte, in der gelehrige Schüler ihren verehrten akademischen Lehrern anläßlich eines Geburtstages oder deren Emeritierung in einem Akt der Reverenz zu demonstrieren versuchten, daß sie bei ihnen etwas gelernt hatten. Seit 1968 zunehmend geringgeschätzt, daher oft nur noch beliebiges Sammelsurium anderweitig unverkäuflicher Miszellen, neuerdings sogar gesunken zum Gegenstand studentischen Schabernackes, vgl. dazu: Alexander Koch (Hg.): Festschrift für Christian Celsen zum Bestehen [zweites Titelblatt abweichend: Nicht-Bestehen] des ersten juristischen Staatsexamens. Münster: Monsenstein & Vannerdat 2001 (= Edition Octopus).
Goethe, Johann Wolfgang von (1749-1832), der große alte Mann der deutschen Literatur, von →Arno Schmidt verschiedentlich demonstrativ geringgeschätzt, von Jörg →Drews hingegen recht eigentlich geliebt, insbesondere als feiner Lyriker und Briefpartner des derben Zelter. Da G.’s Werke von den Literaturwissenschaftlern aller Länder fortwährend aufs neue ediert und interpretiert werden, unternahm es Jörg →Drews dankenswerterweise, jedes Jahr zu G.’s Geburtstag die wichtigsten Neuerscheinungen in einer gewaltigen Sammelrezension in der Süddeutschen →Zeitung vorzustellen.
Hörspielpreis der Kriegsblinden, seit 1952 alljährlich verliehener Preis für den innovativen Umgang mit dem akustischen Medium, renommiert, aber undotiert. Die Jury, der Jörg →Drews seit mehr als 30 Jahren angehört und deren Vorsitzender er seit 2002 ist, berücksichtigte immer wieder Mitglieder des →Bielefelder →Colloquiums Neue Poesie, so 1969 Ernst Jandls und Friederike Mayröckers Hörspiel Fünf Mann Menschen, 1972 Paul Wührs Preislied, Gerhard Rühms Wald. Ein deutsches Requiem (1984), Ludwig Harigs Hörspiel Drei Männer im Feld (1987) und Werner Fritschs Sense (1993).
Italien, Land, in dem kein Stein ohne Namen ist, wie es bei Johann Gottfried →Seume etwas mißmutig heißt. Der ungleich heiterere, mediterranen Lebensfreuden nicht grundsätzlich abgeneigte Jörg →Drews besucht neben dem ewigen Rom (→Goethe) vor allem Passignano am Trasimenischen See, um auch Fragen der Poesie mit dem dort ansässigen Dichter Paul Wühr (→Colloquium Neue Poesie) zu erörtern, sowie Syrakus und Catania.
Joyce, James (1882-1941), bedeutender Schriftsteller des 20. Jahrhunderts; →Arno Schmidt bezeichnete den Ulysses als „Buch des Jahrhunderts“. Schriftsteller mit großer Fan-Gemeinde („mein Herz gehört James Joyce“, A.S.), die sich gerne überall in der Welt trifft (→Lufthansa).
Kraft, Werner (1896-1991), bedeutender, aber lange Zeit kaum wahrgenommener deutscher Dichter und Selbstdenker; Freund von Else Lasker-Schüler und Gershom Scholem. Mußte 1933 vor den Nazis fliehen und emigrierte nach Jerusalem. K. entdeckte das völlig vergessene Werk des Sprachdenkers Carl Gustav Jochmann und publizierte hellsichtige Studien zum Werk von Rudolf Borchardt, Karl Kraus, Franz Kafka, Johann Gottfried →Seume und Johann Wolfgang →Goethe. Viele seiner Werke sind in der Münchner Edition →text + kritik erschienen. 1996 konzipierte sein langjähriger Freund und beredter Fürsprecher Jörg →Drews eine Ausstellung zu Leben und Werk im Deutschen Literaturarchiv in →Marbach.
Lufthansa, deutsche Fluglinie mit gut ausgebautem, weitreichendem Streckennetz, das es Jörg →Drews ermöglicht, an einem geruhsamen Wochenende, in der Nacht von Freitag auf Samstag aus Christchurch/Neuseeland kommend, zunächst morgens in München nach dem rechten zu sehen, mittags über Leipzig (Zwischenstop) nach Berlin zu einem Abendvortrag zu fliegen, am Sonntagmorgen die erste Maschine nach Hannover zu besteigen, um von dort mit der Deutschen Bundesbahn nach →Bielefeld zu eilen, wo kurz Bücher und Kleider gewechselt, auch Briefe und Pakete im Büro gesichtet werden, um dann am Nachmittag mit der Bahn über Baden-Baden (Rundfunk) nach Frankfurt zu fahren, wo am Montagmorgen ein Flugzeug nach St. Louis/Missouri startet (via New York). Sollte die Lufthansa mal irgendwo nicht landen wollen oder können, springt →Drews auch gerne mit dem Fallschirm ab.
Marbach, sehr beschauliche, sehr reinliche Stadt am Neckar, Geburtsort Friedrich Schillers und Sitz des Deutschen Literaturarchivs, das außer den Nachlässen zahlloser Schriftsteller und Gelehrter auch einen Vorlaß von Jörg →Drews beherbergt. Das dem Archiv benachbarte Schiller Nationalmuseum ist berühmt für seine wunderbar anschaulichen, hervorragend aufbereiteten Ausstellungen und Kataloge zur Geschichte der deutschen Literatur, etwa zum →Expressionismus (1960) oder zu Leben und Werk von Werner →Kraft (1996).
Nachkriegsliteratur, wichtiges Betätigungsfeld von Jörg →Drews, verstanden im umfassenden Sinn von Literatur, die sich mit dem Krieg und dem Holocaust auseinandersetzt (Walter Kempowski, W.G. Sebald, →Arno Schmidt), wie auch als Literatur, die seit 1945 entstanden ist, bis hin zur Gegenwartsliteratur, die es kritisch zu begleiten gilt (Süddeutsche →Zeitung).
Ottos Mops, Gedicht von Ernst Jandl mit O als einzigem Vokal; Beispiel für die Literatur, die „im allgemeinen Sprachgebrauch […] ‚experimentell‘ heißt“ und der „grundsätzlich eher“ das Interesse von Jörg →Drews gilt.
PEN, internationale Vereinigung von Dichtern und Schriftstellern (poets, essayists, novellists); weiteres Tätigkeitsfeld von Jörg →Drews.
Queneau, Raymond (1909-1976), französischer Schriftsteller mit spielerischen Neigungen, wie George Perec und Jacques Roubaud Mitglied von OULIPO (Ouvroir de littèrature potentielle, zu deutsch: Werkstatt für eine mögliche Literatur). Autor so bedeutender Werke wie Zazie in der Metro, von Hunderttausend Milliarden Gedichte und Striche, Zeichen und Buchstaben, letzteres erschienen in der von Jörg →Drews herausgegebenen Reihe Frühe Texte der Moderne in der Edition →text + kritik.
Rauschmittel, die, bieten in vielfältiger Form z.B. durch Rothhändle, Marlboro oder Rotwein die Möglichkeit, die Kreativität zu befeuern, sind aber meist ungesund; werden in Form von Ratzeputz, einem „milden Haidelikör“ (Zitat →Drews), in Bargfeld, dem (ehemaligen) Wohnort von →Arno Schmidt, gern zu Initiationsriten verwendet.
Seume, Johann Gottfried (1763-1810), kleiner Mann mit großem Aktionsradius, von Frauen unverstanden; lief angeblich im Jahre 1802 zu Fuß von Sachsen nach Sizilien, was neuerdings von renommierten Literaturwissenschaftlern zunehmend in Zweifel gezogen wird. Der späten Aufklärung seines Werkes widmet sich die J. G. S.-Gesellschaft zu Leipzig e.V., gegründet 1995 von Jörg →Drews, der auch Seumes Werke und Briefe herausgegeben hat.
text + kritik, verdienstvoller Verlag, der die ebenso verdienstvolle Reihe Frühe Texte der Moderne, hg. v. Jörg →Drews, Hartmut Geerken und Klaus Ramm, unter seine Fittiche genommen hat, die sich vergessenen Autoren der Jahrhundertwende und der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts (z.B. Albert Ehrenstein, Otto Nebel, Paul Scheerbart) widmet. Verbreitet ebenso den Bargfelder Boten (→Arno Schmidt) wie das Geburtstagsbuch Wiederholte Spiegelungen für Jörg →Drews.
Valentin, Karl (1882-1948), Münchner Sprachkünstler, dessen lapidare Feststellung: „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“ in nahezu jeder Situation des literaturwissenschaftlichen Alltags zitiert werden kann.
Wörterbuch, vielseitig verwendbares Ordnungsmuster, besonders gut für die Verbreitung von harten Urteilen geeignet, seien sie nun zynischer Natur oder Dichterbeschimpfungen. Beispiele für diese Gattung sind Das zynische Wörterbuch und Dichter beschimpfen Dichter, hg. v. Jörg →Drews & Co.
Xenien, Goethes Variante der moderaten Publikumsbeschimpfung s. „Aufmunterung“: „Deutschland fragt nach Gedichten nicht viel; ihr kleinen Gesellen / Lärmt, bis jeglicher sich wundernd ans Fenster begibt!“ Auch heute muß gelegentlich auf. Die neue Unersetzlichkeit der Lyrik. aufmerksam gemacht werden (vgl. Jörg →Drews, in: Merkur 600).
Yorkshire, abgelegene englische Landschaft, Heimat der Geschwister Brontë, deren Tagträume aus Angria Jörg →Drews herausgegeben und mitübersetzt hat; fängt glücklicherweise mit Ypsilon an.
Zeitung, Süddeutsche, führende deutsche Tageszeitung mit Sitz in München, intellektueller Lichtstreif am südlichen Horizont. Das Feuilleton gewann Anfang der siebziger Jahre Profil durch die Wortmeldungen des Redakteurs Jörg →Drews, der dem Blatt auch nach seinem Wechsel nach →Bielefeld mehr als ein Vierteljahrhundert verbunden blieb und insbesondere in der SZ am Wochenende regelmäßig für Sichtung und Klarheit sorgte.
Mainz, Oldenburg und Nicosia, am 26. August 2003
Axel Dunker, Sabine Kyora, Dirk Sangmeister
Zit. nach: Literatur ohne Kompromisse. ein buch für jörg drews. Hg. von Axel Dunker, Sabine Kyora, Dirk Sangmeister. Aisthesis Verlag Bielefeld 2004, S. 9 – 14.