Jörg Drews: Ein Jahrhundert-Werk wird besichtigt. Zu Walter Kempowskis literarischem Memorial: „Das Echolot“.
Picasso soll im Zweiten Weltkrieg in seinem Pariser Atelier von einem deutschen Offizier aufgesucht worden sein, der nicht nur Photos von den im Atelier befindlichen Bildern Picassos machte, sondern auch mit Picasso ins Gespräch zu kommen versuchte. Insbesondere habe der Offizier sich länger Picassos Guernica-Gemälde angesehen und Picasso schließlich gefragt: „Haben Sie das gemacht?“ – „Nein, Sie!“, sei Picassos kurze Antwort gewesen. Im Sinne dieser Anekdote könnte man sagen, daß Walter Kempowskis Buch „Das Echolot“ gar nicht von ihm stammt, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn von ihm ‚gemacht’ wurde, keines seiner ‚Werke’ ist, sondern von denen, die damals lebten, damals – Anfang 1943 – Aufzeichnungen irgendwelcher Art machten, die Walter Kempowski in seiner 3000 Seiten umfassenden Zitat-Montage zu Wort kommen läßt. Was wir lesen in den vier Bänden, ist ein „kollektives Tagebuch“ – wie der Untertitel von „Das Echolot“ die Gattung definiert – aus der Zeit zwischen dem 1. Januar 1943 und dem 28. Februar 1943, samt einigen als Epilog fungierenden Texten aus dem März 1943. Für wen und an wen auch immer die Zitierten damals ihre Tagebucheintragungen, Briefe und Gedichte schrieben, in welchem dienstlichen oder privaten Rahmen die Notizen verfaßten oder Verwaltungsdokumente anfertigten, für sich selbst, ihre Nächsten, die Vorgesetzten, die Nachwelt – indem sie zitiert werden, verwandelt sich das Privateste ins Öffentliche, das Besondere zum Zeichen für Allgemeineres; beiläufige Sätze werden aussagekräftig, Marginales wird symptomatisch, und vieles Absichtslose bekommt literarische, fast dichterische Qualität. Es entsteht ein deutsches Lesebuch zur Epoche, ein Memorial von monumentalem Umfang aber ohne Monumentalität, eine Komposition mit allen Möglichkeiten der Vox humana, und das heißt eben auch: der Vox inhumana.
Von Hitlers Leibarzt bis zum Obergefreiten in Stalingrad, von der Fließbandarbeiterin in einer US-Bomber-Fabrik bis zum KZ-Insassen, aus den Memoiren alliierter Militärs aus dem Umkreis von Eisenhower und Churchill bis zu Berichten von deutschen Sylvester- und Weihnachtsfeiern zwischen Berlin und irgendwo im Osten, von den Verhaftungs- und Abschiebeverfügungen (sprich: den bürokratischen Mordbefehlen) des Reichssicherheitshauptamtes bis zu den Briefen, in denen deutsche Schriftsteller im Exil um Hilfe ersuchen oder um Aufnahme in den PEN betteln, reicht die Skala der Quellen, die Walter Kempowski ausgewertet hat. Die Vergangenheit steht noch einmal auf mit und in ihren authentischen Stimmen; die (inzwischen meist schon) Toten dürfen noch einmal sprechen. Und wir müssen zuhören, im doppelten Sinn: im Sinne des Schmerzes dabei, und im Sinne der Verpflichtung für die Toten, auf deren sinnloses Sterben wir erst das Siegel drückten, wenn wir ihnen nicht mehr zuhörten.
Man hat Walter Kempowskis Unternehmen einer wahrhaft gigantischen historischen Montage in Verbindung gebracht mit seinem in den letzten zwanzig Jahren unermüdlich angereicherten Privatarchiv für Lebensläufe und Lebenszeugnisse, von Briefen über Tagebücher bis zu Familienfotoalben aus diesem Jahrhundert. Nun zeigen Photographien aus den letzten Jahren in der Tat Walter Kempowski vorzugsweise vor den Schränken, Schubladen und Kästen seines Archivs für Lebensläufe, und man fragt sich natürlich, ob er dies Material in schrulliger Manie einfach nur anhäufe oder wie er es einmal vielleicht in Literatur würde umschlagen lassen können. „Das Echolot“ gibt hierauf eine erste Antwort; es ist aber zu betonen, daß er für diese Zitatmontage nicht nur Quellen aus seinem Archiv verwandte (wenn auch etwa die Hälfte der zitierten Texte aus Dokumenten privaten Charakters, und meist unveröffentlichten, stammt), sondern auch auf schon Veröffentlichtes zurückgreift, auf Dokumentationen, Memoiren, Autobiographien usw. Die Lebensdokumente Nichtprominenter aus Kempowskis Sammlung von historischen Sozialdaten aller Art verhält er gewissermaßen zum Sprechen, und sie garantieren besonders das Intime, das Authentische, auch im Sinne des Unbeobachteten und Ungelenken, doch zeigt, wie gesagt, ein Blick in das Register des Bandes IV, wie intensiv er auch bereits gedrucktes Material verwendete; unter strikt methodischen Gesichtspunkten hätte er sein Buch also fast aus schon publizierten Quellen zusammenstellen können. Doch durch das pointierte Zitieren von kurzen Abschnitten zeigt sich unter der Hand auch, an wie weniges an aussagestarkem Material man sich aus der Lektüre solcher Memoiren und Dokumentationen noch erinnert und wie klug es von Kempowski war, auch schon Publiziertes durch überlegtes Zitieren erneut zu verlebendigen bzw. aus der Masse des Erinnerten, aber eben nur Gedruckten, zu erneuter Schärfung unseres Gedächtnisses zu retten.
Zum zweiten besagte das Gerücht, das der Publikation von „Das Echolot“ vorausging, das Buch sei sehr stark auf Stalingrad und das Ende der dort eingeschlossenen 6. Armee bezogen, deren Reste Ende Januar 1943 kapitulierten. Doch das Massensterben im Kessel von Stalingrad und die Reaktion Deutschlands und der Welt auf die Kapitulation des Feldmarschalls Paulus ist nur eines der Ereignisse in dem von Kempowski gewählten Zeitraum, und erst in Kombination mit den anderen Daten ist die Wahl dieses Zeitraums zu verstehen und erweist sich als – wenn man das sagen kann: – klug und sprechend. Am 30. Januar 1943 jährte sich die Machtergreifung von 1933 zum zehnten Mal; Anfang Februar ordnete Goebbels die sogenannte „Fabrikaktion“ an, bei der Tausende von Juden, die noch in Berlin geduldet waren, aufgesammelt und in die Vernichtungslager abtransportiert wurden; am 18. Februar wurden die Mitglieder der „Weißen Rose“ in München verhaftet, und Goebbels hielt in Berlin seine berühmte Sportpalast-Rede, in der er die legendäre Frage „Wollt ihr den totalen Krieg?“ stellte, und in Casablanca tagte im Februar jene Konferenz der Alliierten, auf der Roosevelt und Churchill zum ersten Mal als Kriegsziel – kühn, vielleicht psychologisch unklug – die bedingungslose Kapitulation Deutschlands („unconditional surrender“) formulierten. Stalingrad und das ‚sinnlose’ Massensterben dort wird von Kempowski also nicht isoliert und damit mythisiert – als wäre nur Stalingrad evident ‚sinnlos’, während die sonstige Kriegsführung denn doch noch irgendwie sinnvoller gewesen wäre – ; Stalingrad ist in Kempowskis Buch nur die besonders greifbare Erscheinungsweise nicht gutzumachender Verluste, das Anzeichen für den Anfang vom Ende, man könnte fast sagen: nur das Modell dessen, was im Krieg insgesamt an ‚Sinnlosem’ geschah: daß Menschen zu Tausenden ermordet wurden oder verreckten und zugleich „das Leben weiterging“, wie man so unmenschlich wie ratlos sagen mußte und muß, weil die Schrecknisse des Krieges und der Naziherrschaft so maßlos waren, daß sie eine im wahrsten Sinne ‚angemessene’ Reaktion ja ohnehin nicht möglich machte. Die zwei Monate vom 1. Januar bis zum 28. Februar 1943 können aber gewiß im alten Sinn des Wortes als ‚Epoche’ gelten, als Zeitenwende.
Walter Kempowski ist kein analytischer Erzähler, der begrifflich-diagnostische Fähigkeiten oder Absichten ausstellt; ihn interessiert nicht, wie Alexander Kluge, den – sozusagen – Generalstabsoffizier mit linker gesellschaftstheoretisch-politischer Schulung, der „organisatorische Aufbau eines Unglücks“, wie der Untertitel seines 1964 erstmals publizierten Stalingrad-Buches „Schlachtbeschreibung“ lautete. Kempowski fingiert nicht Zitate, verschleift auch nicht echte mit erfundenen Zitaten, sondern er versteckt seine analytischen Fähigkeiten hinter der Auswahl, der Konstellation, der Sequenzierung seiner Zitate. Er be-redet sie nicht, er vertraut darauf, daß sie selbst sprechen, daß sie ohne jede weitere Zutat die Abgründe zeigen, die sich zwischen ihnen auftun, und die Reibungen, die sich ergeben. Erzähltechnisch und wirkungsökonomisch scheint mir dabei wichtig, daß die zitierten Texte, in der Länge von 2 Zeilen bis zu 12 Zeilen reichend, meistens aber zwischen 15 und 50 Zeilen lang, nicht zu kurz, die Textstücke nicht von einer hastigen Kürze sind, die den Effekt vielleicht zunächst erhöhen, insgesamt aber zu schrillen Pointen, ostentativen Kontrasten, sensationellen Kollisionen von Zitaten führen würde. Man entwickelt dadurch, daß Kempowski über die Länge der Zitate das Lesetempo steuert und es nicht zu hoch werden läßt, mehr Ruhe und Fähigkeit zur Versenkung ins Einzelstück, welches die Entsprechung zur Würde des Textauszuges ist, der ja ein Recht darauf hat, nicht auf einen Effekt hin verkürzt zu werden. Und wenn Kempowski am Ende der Eintragungen zu einem Tag jeweils einen längeren „Zwischentext“ einschiebt, sei es einen gänzlich (schriftstellerisch) anspruchslosen Gefechtsbericht oder etwa einen funkelnd intelligenten Brief Friedrich Torbergs an Richard Révy zur Klärung der Begriffe „deutsch“ und „österreichisch“, dann hat man eine Art Ruhepunkt beim Lesen, ehe das Feuer des nächsten Tages wieder auf einen niedergeht …
Eine ordnende, menschliches Maß stiftende kompositorische Maßnahme Kempowskis ist auch, daß die Zahl der Stimmen, die wir nach und nach hören, nicht unendlich, nicht einmal sehr groß ist; vielmehr gibt es eine gewisse Anzahl von Schreibenden bzw. Sprechenden, die quer durch die 60 Tage des vom „Echolot“ abgelauschten, abgetasteten Zeitraums immer wiederkehren und vom Fortgang ihres Lebens in diesen zwei Monaten berichten, von seinem Alltag und seinen Katastrophen. Wir haben also eine Chance, ähnlich wie in einem Roman, uns mit einigen Personen vertraut zu machen, Perspektiven, aus denen berichtet wird, wiederzuerkennen, Schicksale verfolgen zu können, die Stimmenvielfalt in Ansätzen zu strukturieren und zugleich das Gefühl zu behalten, daß in dem Raum, den man da lesend betritt, die Dimensionen groß, die Menschen zahlreich und der Atem lang ist, der da weht und den man auch braucht, um sich in dem Hallraum zu bewegen, den Walter Kempowski aus Zitaten errichtet hat.
Wichtig für die Gliederung der Materialmenge ist überdies, daß die jeweils zu einem Tag zusammengestellten Zitate in einer gewissen Ordnung in einer Art halbstarrer Anordnung hintereinandergesetzt sind – beginnend jeweils mit einem statistischen Eintrag aus dem KZ, die Toten des Tages in schnöder Trockenheit beziffernd –, woraus sich auch für den Lesevorgang eine Rhythmisierung, eine Mischung aus der Ahnung von Erwartbarem und dann wieder Unvermutetem ergibt.
Melitta Gräfin von Stauffenberg, Testfliegerin, notiert am 29. Januar 1943 über den Ausklang eines Besuches beim Reichsmarschall Hermann Göring, in dessen Verlauf ihr das eiserne Kreuz und das Militärfliegerabzeichen in Gold mit Brillanten verliehen wurde:
Der Reichsmarschall fragte mich, ob er mich irgendwohin mit dem Wagen bringen könnte. Frau Göring drängte mir rührenderweise ein Päckchen Kaffee und Tee auf und lud mich dringend ein, jederzeit in einem ihrer Gastzimmer zu übernachten, auch mit meinem Mann, und so oft ich wollte in ihre Theaterloge zu kommen. Es war urgemütlich, der Ton vergnügt und humorvoll, und man hatte das Gefühl von einer aufrichtigen und rührenden Herzlichkeit.
Wem da zu warm werden sollte ums Herz angesichts dieses reizenden Nachmittags in Görings Villa, drei Tage vor der Kapitulation von 95 000 halberfrorenen und halbverhungerten deutschen Soldaten, dem Überrest von über 200 000, und angesichts anderer, ähnlicher Berichte aus jenen Tagen, etwa über den „reizenden“ General Keitel (Verfasser: Sven Hedin) etc., der braucht nur zu der jeweils letzten Eintragung eines Tages, ans Ende der jeweils ca. 50 Seiten zu blättern; da wird immer zitiert, was Danuta Czech in Auschwitz zu notieren hatte. Man parlierte also beim Reichsmarschall; es war, wie gesagt, „urgemütlich“, und zwar eben deshalb, weil nur wenigen bekannt war, was die Totenstatistiken so jeden Tag zu vermelden hatten:
Die Lagerleitung führte eine Selektion unter den Häftlingen in den Quarantäneblöcken 2 und 8 des Stammlagers durch, wobei etwa 500 Häftlinge ausgesucht werden. Sie werden am selben Tag nach Birkenau gebracht und dort in den Gaskammern getötet. – Mit einem Transport des RSHA aus dem Durchgangslager Lomza sind etwa 2000 polnische Juden – Männer, Frauen und Kinder – eingetroffen. Nach der Selektion werden 255 Männer, die die Nummern 88751 bis 89005 erhalten, als Häftlinge in das Lager eingewiesen, die übrigen etwa 1745 Menschen werden in den Gaskammern getötet. (Text vom 17. Januar 1943)
Der Schriftsteller Hans Friedrich Blunck macht im Januar/Februar 1943 eine offenbar etwas strapaziöse Lesereise, opfert sich also vortragenderweise auch ein bißchen für Großdeutschland, versäumt es aber nicht zu erwähnen, daß man ihn irgendwo nicht so richtig ästimiert habe (es kamen nur ca. 120 Zuhörer). Er sprach übrigens fast allabendlich über „Grundlagen und Bereich einer geistigen Einheit Europas“. Man wüßte doch gerne, was er da wohl so gesagt hat. Derweil wird einem Adepten von Hans Grimm doch etwas ängstlich zumute, und er fragt brieflich bei Grimm an:
Was geht nur vor? Dringen wirklich die Gewalten des Feuers und des Eises, dringt Loki mit Mitgardschlange und Fenriswolf wirklich gegen unsere Väterburg, gegen das äußere und das innere Reich zugleich an? Wird der ‚Seherin Gesicht’ Wirklichkeit?
Der Briefschreiber holt sich dann „Bestätigung der Schau“ aus Ernst Jüngers Buch „Der Arbeiter“ – was da „Bestätigung“ wäre oder war, erfahren wir leider nicht. Ernst Jünger seinerseits schwelgt natürlich nicht in solchen vergleichsweise vulgären germanistischen Mythologemen; er notiert nur einen seiner hochinteressanten Träume und eine sehr feine Beobachtung:
Schlaflose Nacht. Dazwischen Augenblicke des Dämmerns mit Träumen – zunächst ein Alpdruck, bei dem Gras gemäht wurde, dann Szenen wie aus dem Marionettenspiel. Auch Melodien, die sich zu drohenden Blitzen steigerten. – Nach den Gesetzen einer geheimen moralischen Ästhetik erscheint es würdiger, wenn man beim Stürzen auf das Gesicht statt auf den Rücken fällt. (IV, 495)
Die Soldaten in Stalingrad dürften da leider nicht viel Wahl gehabt haben, sich nach den „Gesetzen einer geheimen moralischen Ästhetik“ zu richten, wenn sie fielen. Zur Ehre Bluncks sei übrigens gesagt, daß er doch einmal aus seiner Trunkenheit vor lauter Eitelkeit aufwacht und tief erschrickt, als er von unmenschlicher Behandlung der Juden erfährt (in welchem Maße er die ganze Wahrheit kannte oder ahnte, bleibt offen). Es bleibt dabei, daß neben den Aufzeichnungen, deren Urheber wenigstens Verblendung oder Unwissenheit für sich ins Feld führen können, viel unangenehmer die sind, welche in irgendeiner Art ‚ästhetisch’ argumentieren, bei denen also Autoren- und Künstlereitelkeit alles färbt, von Gerhart Hauptmann bis zu irgendeinem namenlosen Sonett-auf-Stalingrad-Verfasser:
Stalingrad
Ihr seid die Brücke über Fahrt und Fluten,
ihr seid die Brücke in das neue Land.
Und über Tod und Tiefe bleibt Bestand,
was ihr geprägt im Feuer größter Gluten.
Und eure Tat zählt schon zum ewig Guten –
vielleicht bleibt unser Tun nur Tanz und Tand.
Denn dies ist einer Leistung letzter Rand:
Nicht weichend, ganz im Wissen willig bluten.
Ihr seid die Brücke, die wir dann beschreiten,
wenn wir uns heben über Tag und Spiel
und wenn wir einsam, einsam nächtens reiten,
wenn uns umweht der Wind von Gott und Ziel.
Und wenn die Stunde stöhnt: Es ist zuviel:
Ihr, ihr seid da. Ihr werdet uns geleiten.
Nach diesem Vorspiel zu den „Zonen kämpferischer Bewährung“, in die der Verfasser kurz darauf berufen wurde (keine Angst, er starb erst 1968) dann noch als Zugabe die selbstgefälligen Notizen des Asienforschers Sven Hedin, der nazistischer als die Nazis sich gebärdet. Wie gesagt, der ideologische Schmonzes, wenn er literarisch aufgefärbt ist, schmerzt deshalb am ärgsten und ist am wenigsten verzeihlich, weil der Narzißmus zusätzlich zum Nazismus so peinlich greifbar wird und zugleich keinerlei Unschuld zur Verteidigung angeführt werden kann. Merkwürdigerweise haben dies zutiefst Falsche nicht jene Schriftstellerbriefe, die im Exil geschrieben werden, auch wenn sie sich ebenfalls – wie sollte es bei Schriftstellern anders sein – mit Auflagenhöhen, Abdruckrechten und Honoraren beschäftigen. Es ist halt doch was dran an der Feststellung Thomas Manns, daß jedes in Deutschland nach 1933 veröffentlichte Buch nichts wert sei und jedenfalls einen unauslöschlichen Makel trage.
Man liest und liest in den vier Bänden und es ist in der Tat so, wie Walter Kempowski, im Vorwort-statt-eines-Vorworts des ersten Bandes schreibt. Man gerät in einen Raum, in dem man unzählige Stimmen hört. Einfach besserwisserisches Kichern über den häufig so total verblendeten Blödsinn, den man da zu lesen hat, kommt kaum auf; es stellt sich eher so etwas wie gleichschwebende Aufmerksamkeit, eine Art intensive gleichbleibende Distanz zu all den Zeugnissen ein, ein Hinhören, das nicht rechtbehalten, sondern den Stimmen etwas abhören will, etwas gewinnen will: Einsichten, denen gegenüber Rechtbehaltenwollen kleinkariert wäre. Man durchschreitet die sechzig Tage dieses Buches lesend, liest von den Direktiven des Propagandaministeriums zur Pressesteuerung, von der Verhaftung der Studenten und Professoren der „Weißen Rose“, von Eheschließungen per Kriegstrauung, von den Großraum-Phantasmen des belgischen SS-Führers Leon Degrelle, der vom Nordkap bis Indien über die Kontinente tagträumerisch faselnd verfügt wie ein zweiter Hitler, und direkt danach liest man davon, dass KZ-Insassen vor Hunger den Schorf ihrer Wunden fraßen. Und schier endlos geht das Wechselbad weiter, das einen aber auf ganz einmalige Weise erfahren läßt, was damals alles nebeneinander existierte, wie – annäherungsweise – so etwas wie die ‚Totalität’ von Narzissmus und Krieg zu diesem Zeitpunkt aussah. Gerade weil man vieles nur im Ausschnitt, nur kurz aufblitzend wahrnahm, ist der Eindruck bisweilen schärfer, bisweilen auch der melancholische Stich, den man bekommt, schmerzhafter, etwa wenn einer aus der Umgebung Winston Churchills beschreibt, wie Churchills Flugzeug in Adana/Türkei beim Start mit einem Rad von der Startbahn abkommt, steckenbleibt und dann unter Geschrei von 70 türkischen Arbeitern versucht wird, die Kiste flottzumachen, wobei der Prime Minister – der am nächsten Morgen um 7.40 Uhr verkündet, es gehe ihm prächtig, er habe schon zwei Whisky-Sodas gekippt, ein Glas Wein draufgegeben und zwei dicke Zigarren geraucht, gleich nach der Ankunft in Kairo – mit Bowlerhut und Zigarre in der Hand mit den Türken um das Flugzeug herumsteht, wenig hilfreiche Kommentare zur Lage von sich gibt und sich so unfreiwillig komisch und ziemlich sympathisch aufführt: mit welcher Unfähigkeit zur Selbstdistanz, mit welcher Ironielosigkeit, mit welch verkniffenem Bedacht auf die eigene – soldatische oder staatsmännische – Würde hätte da sein deutscher Gegenspieler agiert! Über den notiert der Dirigent Fritz Lehmann verzweifelt am 20. Januar 1943:
Der Marotte eines pathologischen Mannes zuliebe verschwendet Deutschland das Blut von 200 000 seiner besten Söhne.
Man gerät in eine vor den Zeugnissen gewissermaßen resignierende stoische Bewegungslosigkeit, in eine stumme Starrheit, in eine hellwache Betäubung und Beschämung. Fast jede zitierte Eintragung in Walter Kempowskis Buch ist ein Fundstück, das man aufs komplizierteste ausdeuten und bewerten kann, das in mentalitätsgeschichtliche Tiefen führt und vor allem immer wieder Überlegungen herausfordert bezüglich seines (oder seines Verfassers) Verhältnis zu Wahrheit und Verblendung – wobei wir noch gar nicht gesprochen haben über das, was die Sprache in den Texten uns eigentlich verrät, welche kritische Terminologie den Kritikfähigen zur Verfügung stand: Wie ist zum Beispiel der oben angeführte Satz Fritz Lehmanns eigentlich zu bewerten? Welche Implikationen hat er trotz seiner Kritik an Hitler und seines Entsetzens, das den Autor ehrt? Und dann man ja nicht nur mit dem Kopf, historisch, ideologiekritisch, stilkritisch reagiert, überkommt einen auch immer wieder das blanke Mitleid mit Verblendeten, Opfern, jämmerlichen Dummköpfen; man gerät in einen Stupor, in eine Art depressives Verstummen. In einem anderen Buch über Stalingrad, in Alexander Kluges schon erwähnter „Schlachtbeschreibung“ wird von einem Offizier berichtet, der Stalingrad überlebte, später aber bei den nichtigsten Gelegenheiten plötzlich in Tränen ausbrach und fassungslos weinte. Der Mann „nahm sich zusammen“, auf Ermahnung seiner Kameraden; er war schließlich ein deutscher Offizier. Aber untergründig passierte etwas in ihm, durchschlug seine Panzerung, das er nicht kontrollieren konnte. Es wird wohl keiner weinen bei der Lektüre von Walter Kempowskis „Das Echolot“, aber die Lektüre ist kein reines und vor allem auch kein rein literarisches Vergnügen, weiß Gott nicht. Das Wort, mit dem die Distanz und zugleich Bewegtheit zu bezeichnen wäre, in die man bei der Lektüre dieses Mosaiks von unzähligen Einzeltexten, dieses Textbildes aus lauter Bildfragmenten gerät, heißt vielleicht: Pietät, Pietät vor allem den unzähligen Einzelnen und ihrem Leid gegenüber. Man könnte auch sagen: Das Buch könnte ein differenziertes Eingedenken befördern, nicht ein summarisches, sondern eines, das Täter und Opfer so weit wie möglich und so genau wie möglich auseinanderhält und zugleich einer großen Zahl von Deutschen mindestens ihre Verblendung als ein überindividuelles Schicksal gewissermaßen zugutehält … Kempowski Buch bestärkt mich in der Überzeugung, daß einer großen Zahl von Zeitgenossen und insbesondere von Tätern nicht vergeben werden kann, daß aber viele zumindest ein Recht auf Erbarmen haben, da sie aus den Bann, der durch Erziehung und Propaganda auf ihnen lag, sich zu lösen nie eine Chance hatten. Diese Haltung würde eben das Bewußtsein einschließen, dass bei der Lektüre der Texte unabweisbar ist, daß nämlich viele der Aufzeichnungen ihr Gespenstisches, Abstoßendes, Absurdes erst später bekamen, zumindest in ihrer Absurdität erst später erkennbar geworden sind, spätestens jetzt nämlich, da wir Leser nicht mehr im Dunkel der Uninformiertheit der Schreibenden, nicht mehr im Dunkel des damals gelebten Augenblicks leben, sondern den Vorteil der Kenntnis der ganzen Epoche und damit einer Perspektive auf diese Zeit haben.
„Das Echolot“ ist die Krönung von Walter Kempowskis Buchreihe, die von „Aus großer Zeit“ bis „Herzlich willkommen!“ den Versuch einer literarischen Chronik des deutschen Bürgertums von 1850 bis in die fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts macht. Kempowski faßt in den vier Bänden des „Echolot“ nun einen kürzeren Zeitraum, nur zwei Monate; zugleich sind diese Bände aber weiter, haben mehr Raum und mehr Tiefe, mehr Töne und mehr Schauplätze. Aus dem Problem, wie denn die ‚Totalität’ von etwas so Umfangreichem, so Überwältigendem wie „Drittes Reich“ und Zweiter Weltkrieg überhaupt literarisch anzugehen wäre und sicher nicht mehr als auf zwei Augen gestellt erzählt werden kann, daß sich zugleich aber die ‚fiction’, das Erfinden von Lebensschicksalen verbietet, wo so ungezählte Leben dokumentiert sind – aus diesem Dilemma macht Walter Kempowski eine Tugend. Sein Blick fällt auf mehr und weiteres als nur das Bürgertum, und damit löst er sich auch von gewissen Ergötzlichkeiten des bürgerlichen Jargons; vor allem aber besteht seine Leistung darin, daß er verantwortlich und uneitel reagiert auf die Schwierigkeit, daß die Epoche des Dritten Reiches einerseits in ihrer Gänze unfaßbar und zugleich überdokumentiert ist, und daß andererseits das freie literarisch-ästhetische Erfinden von Schicksalen etwas Frivoles haben, harmlos, zynisch, beliebig wirken könnte, vielleicht sogar wirken muß. Kempowski nimmt sich wissentlich und planmäßig, ich finde: geradezu demütig und souverän zurück. Als Urheber, als „Originalgenie“, das mit eigener Sprache schöpfergleich Welt schafft oder gestaltet, ist er nicht mehr da, aber als Arrangeur und als Hirn. Das vielbeschworene „Verschwinden des Autors“ ist hier nicht ein theoretisches Postulat bzw. die Beobachtung von etwas, was der Literatur halt zustieß in den letzten Jahrzehnten, sondern dies ist hier eine bewußt ergriffene Möglichkeit, eine problematische Instanz zurückzunehmen, aus der Schöpferrolle in die Indirektheit und Bescheidenheit hinüberzuwechseln, welche auch mit der Einsicht zusammenhängt, daß vielleicht gar nicht mehr ausgedacht werden kann, was als Formulierung(en) ja schon bereitliegt, in Dokumenten aller Art aufbewahrt ist.
Mir scheint, daß eine der großen Leistungen von „Das Echolot“ ist, daß hier die Menschen nicht bevormundet werden, sondern ihnen erlaubt wird, sich selbst zu ihren Chronisten zu machen und dabei stellvertretend eine große Zahl von unbekannten Namen aus der Anonymität hervortreten zu lassen. Kempowskis Buch ist nicht im alten Sinn als ‚Dichtung’ zu nehmen: sei’s drum. Es ist aber große Literatur, und als Literatur nicht mehr mit verstaubten Definitionen dessen, was Autorschaft oder was Literarizität sei, einzuholen. Nachzumachen ist das wohl durch keinen anderen Autor, vielleicht als Verfahren noch nicht einmal durch Walter Kempowski selbst; man darf gespannt sein, wie das Pendant zu „Das Echolot“, eine Textmontage zu den Monaten April und Mai 1945, die Kempowski bereits plant, ausfallen wird. Zugleich aber steht „Das Echolot“ nicht nur in der Perspektive von Kempowskis bisherigen eigenen Büchern, die auf diffizile Weise Dokument und Zitat zu einem Kempowskischen Text einschmolzen; jetzt erst wird vielmehr von ihm mit einem kühnen, puren Zynismus ernstgemacht. Walter Kempowski, der ungerechterweise nicht gerade im Verdacht stand und steht, mit künstlerisch progressiven Zirkeln der Bundesrepublik in Verbindung gebracht werden zu können, realisiert etwas, das seinem Werk eine überraschende Radikalität der Methode sichert. Auf eine verblüffende Weise gelangt „Das Echolot“ in die Nähe der radikalen Konzeptionen eines Autors, den man noch nie in einem Atemzug mit Walter Kempowski nennen mußte. Walter Benjamin träumte in den dreißiger Jahren davon – erwog zumindest auf einer bestimmten Stufe der Konzeption –, sein Buch über die Pariser Passagen nicht mehr durchzukomponieren, nicht mehr (sozusagen) zu verfassen, sondern die Materialmassen als eine reine Zitat-Montage anzuordnen, das Material so zu arrangieren, daß kommentarlos herausspringe, was er sagen wollte, wozu er sich verhalten wollte. Angesichts einer Trümmerlandschaft, die hundert Jahre nach Walter Benjamins Sujet und fünf Jahre nach dem Zeitpunkt entstand, da Benjamin sein Passagen-Projekt als Trümmerlandschaft, als „Niederlage im Großen“ zurücklassen mußte, erfüllt Walter Kempowski das künstlerische Vermächtnis Walter Benjamins. Wie Peter Weiss’ dreiteiliges Buch „Die Ästhetik des Widerstands“ bei seinem Abschluß 1982 sogleich erkennbar in den Rang einer großen abschließenden Chronik der deutschen Arbeiterbewegung gehörte, so ist Kempowskis Beschwörung des Chors der Stimmen aus der entscheidenden Phase des Zweiten Weltkriegs das zweite große literarische Monument jener Epoche, die wir Deutschen nie ganz werden abschließen können und die wir gerade deshalb gewissermaßen offensiv den Beständen und Arbeitsmaterialien unserer Nation zuschlagen sollten. Walter Kempowski hat in dem seinem Buch vorangestellten „Statt eines Vorworts“ davon gesprochen, daß er, „als er den großen Chor beisammen hatte und das Ganze auf mich wirken ließ“, plötzlich das Gefühl hatte, unter ihnen, den Stimmen des Chors zu stehen, „und es überwog das, was wir mit dem Wort ‚Liebe’ nur unzulänglich bezeichnen können.“ Vielleicht könnte dieses Wort ‚Liebe’ nüchtern und vorsichtig umschrieben werden als das so schmerzhafte wie gelassene Akzeptieren eines Kapitels, dieses Kapitels unserer Geschichte. Kempowski versucht in etwas gewagten Formulierungen auch anzudeuten, daß aus „Das Echolot“ als einem Ganzen eine Figur, ein Wort hervorspringen könnte, ein „Zauberwort, mit dem wir unsere Epoche bezeichnen und versiegeln könnten“. Ich fürchte, daß uns dies dann doch nicht gelingen wird, aber ich respektiere Walter Kempowskis Hoffnung.
Jedenfalls hat er mit „Das Echolot“ das zu achtende historische Material nicht so plump und quasi-künstlerisch überformt, wie dies jüngst die deutsche Bundesregierung mit der Errichtung der in jeder Hinsicht dubiosen Berliner „Zentralen Gedenkstätte“ tat; schon das Adjektiv „Zentrale …“ in der verwaltungsmäßigen Bezeichnung der zur Gedenkstätte dekretierten Gedenkstätte reizt ja den aufmerksamen Zeitgenossen nur zum Erbrechen, und wie sollte es auch anders sein bei einem Gebäude, welches dem Geschmacksdiktat des Herrn Kohl entsprang. Lassen wir für Walter Kempowskis „Das Echolot“ das besagte Adjektiv weg und sagen wir, daß sein großes Buch eine humane, eine reiche, eine gedankenreiche Gedenkstätte ist.
Jörg Drews: Ein Meisterwerk wird besichtigt. „Das Echolot“: Walter Kempowskis literarische Jahrhundertcollage. In: SZ, 4./.5.12.1993, hier die erweiterte Fassung in: Jörg Drews (Hg.): Luftgeister und Erdenschwere. Rezensionen zur deutschen Literatur 1967 – 1999. Frankfurt/M. 1999, S. 204 – 216. Zu: Walter Kempowski: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch Januar und Februar 1943, Albrecht Knaus Verlag, München 1993