Jörg Drews: Ein Mann verwirklicht seine »Lieblingsträumerey«. Beobachtungen zu Details von Seumes »Spaziergang« nach Syrakus
Zuerst scheint die Sache ganz einfach und eindeutig; bei näherem Hinsehen aber wird’s dann kompliziert und wesentlich undeutlicher. Johann Gottfried Seume wurde im Sommer 1781 bei Vacha von hessischen Werbern zum Militär gepreßt und mußte 1782/83 mit dem vom Landgrafen von Hessen-Kassel an die Engländer vermieteten Kontingent in die Neue Weltreisen, um dort gegen die aufständischen Kolonialisten eingesetzt zu werden. Später machte er dann seine berühmte Italienreise; er brach am 6. Dezember 1801 in Grimma auf und war Ende August 1802 aus Syrakus wieder in Leipzig zurück – zu Fuß, was neben seiner Reisebeschreibung Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 seinen Ruhm begründete. Das Motiv dieser Reise war die Sehnsucht nach „Roma aeterna“1 und die launige Anmutung, den Theokrit »auf der Landspitze von Syrakus zu lesen«.2
So will es die Überlieferung. Aber schon die Geschichte vom armen Seume, der von Werbern hereingelegt wurde, ist ja eigentlich eher eine Legende. Seume verrät nicht nur an keiner Stelle, wie denn die Anwerbung im Wirtshaus von Vacha vor sich ging, und geht über die Szene, die doch sein Leben entscheidend prägte, mit einem Witzwort hinweg:
Den dritten Abend übernachtete ich in Vacha, und hier übernahm trotz allem Protest der Landgraf von Kassel, der damalige große Menschenmäkler, durch seine Werber die Besorgung meiner ferneren Nachtquartiere nach Ziegenhayn, Kassel, und weiter nach der neuen Welt.3
Was war passiert? Hatte man ihn betrunken gemacht? Hatte er Handgeld genommen und auf das Wohl des Landesherrn getrunken? Oder hatten ihm die Werber vor Augen gehalten, daß in keiner deutschen Armee die Zahl der bürgerlichen Offiziere größer war als in der hessischen und er also nicht nach Paris und Metz zu laufen brauche, um Artillerieoffizier zu werden, sondern die Chancen für ihn auch ganz gut in der Armee des Landgrafen von Hessen-Kassel standen? Seume hat sich hierüber nie genauer ausgelassen, und wenn man seine Briefe aus jenen Jahren und seine erste Publikation, das Schreiben aus America nach Deutschland konsultiert, so wird die Sache auch nicht viel klarer. Einerseits scheint er seinen Weggang aus Leipzig im Sommer 1781 sehr bald für eine Eselei gehalten zu haben, andererseits hat gerade der Brief aus Amerika einen durchaus flotten und zuversichtlichen Ton, als habe der Zwangsrekrutierte sich doch zumindest guten Mutes in sein Schicksal gefügt, genieße die Sache vielleicht sogar als Abenteuer. Und von den auf die englischen Dienste folgenden vier Jahre in preußischen Diensten in Emden von 1783 bis 1787 heißt es dann bei ihm, er müsse ehrlich zugeben, ein geradezu privilegiertes Leben in der Garnison in Emden geführt zu haben – er war z.T. vom Dienst freigestellt, um den Hauslehrer von Generälen und Bürgern spielen zu können, und obendrein hatte Seume sich offenbar auch schon wieder Hoffnung auf eine Offiziersstelle gemacht, wäre also wahrscheinlich freiwillig beim Militär geblieben; jedenfalls berichtet er davon, daß ihm leider zwei junge preußische Adelige vorgezogen worden seien.4 Seume das Objekt übelster deutscher Fürstenwillkür? Ganz so einfach ist die Sache nicht; zu denken geben muß einem schließlich auch, daß er schon wenige Jahre nach dem Entkommen aus dem preußischen Militärdienst sich einen neuen suchte: diesmal den russischen, wo er zuerst im Range eines Sergeanten, dann eines Lieutenants stand. Was nun Seumes Fußreise von Grimma nach Syrakus und zurück angeht, so ist natürlich am Faktum nicht zu zweifeln. Am 6. Dezember 1801 verläßt er Grimma, am 16. Dezember kommt er in Prag an; am 18. Dezember ist er noch in Prag, am 31. Dezember auf jeden Fall schon in Wien, von wo er am 10. Januar abgeht, umso viel ist sicher – am 2. Februar in Venedig einzutreffen, das er am 11. Februar wieder verläßt. Am 2. März ist er in Rom, bleibt dort aber (sehr wahrscheinlich) nur drei Tage, geht nach Neapel, setzt mit günstigen Winden in 36 Stunden nach Palermo über, beginnt wenige Tage später seinen Fußmarsch um die Insel herum, kommt am 1. April in Syrakus an und verläßt Sizilien wieder via Palermo am 21. April. Am 25. Mai ist er wieder in Rom, am 31. Mai in Florenz; am 18. Juni finden wir ihn auf dem St. Gotthardt und am 22. Juni in Zürich. Spätestens am 6. Juli sehen wir ihn in Paris, das er am 21. Juli wieder verläßt; über Nancy, Straßburg und Landau gelangt er nach Frankfurt am Main; ungefähr am 8. August ist er bei seinem alten Freund Karl Heino Freiherr von Münchhausen in Schmalkalden, ungefähr am 18./19. August in Weimar und Ende August wieder in Leipzig. Gleim gegenüber konstatiert er in seinem Brief vom 3. September 1802 nicht ohne Stolz:
Wenn ich zusammen rechne, habe ich in 81/2 Monath doch wohl über 800 Meilen zu Fuße gemacht, außer dem, was ich zu Wasser und zu Lande gefahren bin; [ … ].5
Nimmt man ihn nun beim Wort – und wer wollte den berühmten ,ehrlichen Mann’ Seume nicht beim Wort nehmen? –, so hat Seume zu Fuß 6000 Kilometer zurückgelegt: die damalige deutsche Meile hatte 7420 m, die preußische Meile 7532 m, die – Seume vielleicht besonders naheliegende – sächsische Meile 7500 m. 6000 Kilometer – das klingt enorm; wohlgemerkt ist dies die zu Fuß zurückgelegte Strecke, der also zur Ermittlung der gesamten Reisestrecke noch die in Kutsche und Schiff zurückgelegten Strecken hinzuzufügen wären, womit wir – wie gleich zu sehen sein wird – auf gut 7000 km kämen. Seume war 260 Tage unterwegs, ging aber nicht täglich, sondern unterbrach seinen Gang immer wieder, um in einer Reihe von Städten Aufenthalte einzulegen. Räumen wir ihm 60 Rast- und Besuchs- und Sightseeing-Tage ein, so bliebe immer noch eine durchschnittliche Marschleistung von 30 Kilometer pro Tag, vielleicht gerade noch zu bewältigen, wenn man bedenkt, daß er auf dem Weg von Wien nach Graz wegen des hohen Schnees doch sehr langsam vorwärtsgekommen sein muß, also eine entsprechend größere Tagesleistung bei günstigerem Gelände gefordert werden muß, damit die Rechnung stimmt. Obendrein dürften in der südlichen Frühjahrs- und Sommerhitze und bei den auch von ihm selbst als schwierig beschriebenen Wegverhältnissen auf vielen Strecken in Sizilien Tagesleistungen von 30 Kilometer als bemerkenswert bis an der Grenze des Möglichen liegend zu bezeichnen sein.
Worauf deuten die Zahlen hin? Zunächst einmal auf eine enorme physische Leistung. Schaut man sich den Text des Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 auf Daten und Ortsangaben an und kombiniert die dortigen Angaben mit den Daten und Ortsangaben in den 13 aus der Zeit der Reise erhaltenen Briefen (vor allem an Georg Joachim Göschen und Böttiger), so muß man vielleicht die Zahl der Tage, an denen Seume wirklich auf Schusters Rappen ,on the road’ war, also wirklich tippelte, vielleicht doch etwas herabsetzen: In Prag und Zürich, in Florenz und Offenbach/Main hat er doch immer wieder kürzere Pausen eingelegt. Dann aber stiege die Tagesleistung noch mehr, massiver gesagt: sie würde etwas unwahrscheinlicher. Zweitens deutet die Zahlenangabe vielleicht doch auch darauf hin, daß Seume sich hier verschätzt hat. Selbst zugestanden, daß alle Wege der damaligen Zeit sich noch viel weiter von der Luftlinie zwischen zwei Orten bzw. Punkten entfernt haben dürften als heute und daß Seume im letzten Teil der Reise noch einmal einen großen ,Umweg’ über Paris nahm, so scheint mir die Zahl von 6000 Kilometern immer noch zu hoch gegriffen. Schauen wir einmal alle Angaben über Strecken an, die Seume nach eigener Angabe nicht zu Fuß zurückgelegt hat:
Von Venedig nach Padua: mit dem Schiff.
Von Ferrara nach Bologna: mit der Kutsche.
Von Monterosi bis Rom: mit der Kutsche.
Von Neapel nach Rom: mit der Kutsche.
Von Rom nach Mailand: „halb im Wagen, halb zu Fuße“.6
Von Dijon nach Paris: mit der Kutsche.
Von Straßburg nach Frankfurt: mit der Kutsche.
Von Vacha nach Schmalkalden: mit der Kutsche.
Und es versteht sich, daß die Strecken Neapel-Palermo und Palermo-Neapel mit dem Paketboot gefahren wurden. Nimmt man Seumes Angabe ernst, daß 800 Meilen bzw. 6000 Kilometer die Strecke bezeichnen, die er zu Fuß bewältigt habe, und rechnet man also die Strecken in der Kutsche und auf dem Schiff hinzu, so kommt man insgesamt auf eine Strecke von 7000 Kilometer mindestens. Prüft man dies an der Geographie, so zeigt schon eine überschlägige Rechnung, daß Seume die Strecke und damit sich und seine Leistung entweder überschätzt haben oder doch mehr Rasttage eingelegt haben muß, als dem Spaziergang zu entnehmen ist.
In diesem Zusammenhang ist interessant, was über die Dauer seiner Aufenthalte an diversen Orten zu ermitteln ist. Wieviele Tage er in Prag sich aufhielt, ist nicht zu ermitteln; in Wien war er offenbar 11 Tage, in Venedig 9 Tage und in Paris 15 Tage. Die Anzahl der Tage in Rom ist schwer zu bestimmen; es deutet aber alles darauf hin, daß er nur kurz in Rom war, wahrscheinlich einmal drei und einmal vier Tage, und was Neapel angeht, so scheint er sich mehr in der Umgebung, in Richtung des Vesuvs und in Pompeji bewegt zu haben als in Neapel selbst, das er offenbar mit Verzögerung erreichte, da zwischen Palermo und Neapel ungünstige bzw. gar keine Winde wehten. Rechnet man aber alle Tage zusammen, an denen Seume am Ort jeweils Besuche machte und von Besichtigungen berichtet sowie von Theateraufführungen etc., so steigt die Wahrscheinlichkeit, daß ihm weniger als 200 wirkliche Wander- bzw. Marschtage zur Verfügung standen, was wiederum seine Marschleistung pro Tag erhöhen würde – wenn er nicht, ja wenn er nicht doch noch mehr mit der Kutsche gefahren ist als er einräumt. Wie wörtlich sollen wir etwa seinen Bescheid nehmen, von Rom nach Mailand sei er „halb im Wagen, halb zu Fuße“ gereist? Da wir wahrscheinlich kaum – etwa durch das Auffinden weiterer Briefe oder durch Berichte Dritter – weitere Daten in die Hand bekommen werden, die uns präzisere Einsicht in seinen Aufenthalt an ganz bestimmten Orten zu ganz bestimmten Daten geben, bliebe wohl nur, anhand sehr detaillierter Karten (auch alter Karten, die über alte Straßen und Wege vielleicht Auskunft geben) den wahrscheinlichen Fußweg und die wahrscheinlichen Entfernungen damals zu ermitteln und damit etwas von dem Mißtrauen abzubauen, das ich gegenüber den Leistungsangaben Seumes habe.
Die überaus kurzen Aufenthalte in Rom sprechen übrigens gegen den Satz Inge Stephans: „Roma aeterna war das Ziel seiner Reise.“7 Es scheint, daß er Rom trotz der Freunde dort, Reinhart, Fernow, Duvau, wegen des Papstes, dessen territoriale Macht er auf empörende Weise durch Napoleon im Konkordat vom Februar 1801 wiederhergestellt sah, nicht ertragen konnte.8 Was immer man über seine saloppen, fast bizarren Angaben über Zweck und Ziel seiner Reise denkt – es gibt keine Äußerung von ihm, aus der sich schließen ließe, daß ihm je ‚Rom leuchtete’, um Thomas Mann zu variieren, so, wie wir wissen, daß es Goethe schon lange vor seiner Italienreise leuchtete. Drei Buchseiten gönnt er Rom auf der Hinreise, Seiten, die einen recht geschäftsmäßigen Ton haben und mit dem mäßig festlichen Satz beginnen: „So bin ich denn also unwidersprechlich hier an der gelben Tiber“,9 und kaum mehr als drei Tage können es gewesen sein; er schreibt auch gleich in diesem ersten Rom-Bericht von der Richtung, in der er „in einigen Tagen“10 weitergehen werde. Und wie feiert er, im Gegensatz hierzu, die Ankunft in Syrakus, seinem nicht nur geographischen Ziel – es liegt am allersüdlichsten und am weitesten weg von Zuhause! Sein Eintrag ist voll närrischer Freude und Bewegung:
Heute will ich fröhlich, fröhlich sein,
Keine Weise, keine Sitte hören;
Will mich wälzen und vor Freude schrein:
Und der König soll mir das nicht wehren.
So singt Asmus den ersten Mai in Wandsbeck; so kann ich ja wohl vier Wochen früher den ersten April in Syrakus singen: so froh bin ich; ob ich gleich vor einigen Stunden beinahe in dem Syrakasumpfe ersoffen oder erstickt wäre. Wo fange ich an? Wo höre ich auf? Wenn man in Syrakus nicht weit von der Arethuse sitzt und einem Freunde im Vaterlande schreibt, so stürmen die Gegenstände auf den Geist: vergib mir also ein Bißchen Unordnung.11
Von dieser „Unordnung“ schreibt er erst mindestens sieben Monate später; er hätte also genug Zeit gehabt, in seine Freude Ordnung zu bringen, doch er will diese freudige Verwirrung über die Ankunft am ersehnten Ziel offenbar absichtlich ganz konkret werden lassen. Wie äußert er sich nun vor der Reise und während der Reise über Ziel und Motiv seiner Unternehmung? „Der Gang ist lange Zeit eine meiner Lieblingsträumereyen gewesen“,12 schreibt er am 31. Dezember 1801 aus Wien an Böttiger – der „Gang“ selbst, hier ohne jede nähere Bestimmung und Inhalt: weder Rom noch Syrakus, weder Landschaft noch Antike werden genannt. Halb kokett und halb trotzig gibt Seume in der Vorrede zu seinen Gedichten (1801) zu oder stilisiert sich so:
Freilich habe ich in Italien nichts zu tun, als vielleicht nur der Mediceerin ein wenig auf und in die Händchen und dem Vater Aetna in den Mund zu sehen, und eine Idylle Theokrits auf der Landspitze von Syrakus zu lesen: aber ich sehe nicht, warum mir diese Grille nicht eben so lieb sein soll, als einem anderen die seinige.13
Eine Laune also, eine fixe Idee ist dieser ganze Spaziergang, und so launig wie an dieser Stelle formuliert er seine Gründe für die lange Fußreise noch öfter. „Waß wüll Ähr da machchen?“, wird er in Wien gefragt, als er einen Paß nach Oberitalien bzw. Venedig – „Vor der Hand nach Venedig, und sodann weiter“ – beantragt.
,Wu wüll Ähr weiter hünn?’
Vorzüglich nach Sicilien.
Er glotzte von neuem, und fragte:
,Waß wüll Ähr da machchen?’
Hätte ich ihm nun die reine Wahrheit gesagt, daß ich bloß spazierengehen wollte, um mir das Zwerchfell auseinander zu wandeln, das ich mir über dem Druck von Klopstocks Oden etwas zusammen gesessen hatte, so hätte der Mann höchstwahrscheinlich gar keinen Begriff davon gehabt, und geglaubt. ich sei irgendeinem Bedlam entlaufen. Ich will den Theokrit dort studieren, sagte ich.14
Die ganze Stelle deutet einmal auf die Absicht einer psychophysischen Therapie, auf den Wunsch nach Erholung von einer sitzenden, drückenden Tätigkeit, die dem Lektor/Korrektor gerade im Umgang mit dem Autor Klopstock allerlei Ärger gebracht hatte, und zum zweiten entwirft Seume das Traum-Bild einer Lektüre Theokrits an seinem Geburtsort. Wiederum redet er nicht spezifisch von Italien oder Rom, sondern eben nur von „Sicilien“ und von (als erstes Ziel jenseits der Alpen und damals österreichisches Gebiet) Venedig. Bemerkenswert ist das Ziel Syrakus noch in einem anderen Zusammenhang. Zum Zeitpunkt seines Abmarsches von Grimma hatte Seume als letzte Arbeit für Göschen gerade das Lektorat und die Korrektur und Druckbeaufsichtigung von Christoph Martin Wielands Roman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen abgeschlossen; am 8. November 1801, dem Sterbetag von Wielands Frau, war der Rest des Manuskriptes des 4. Buchs des Romans an Göschen abgegangen, zehn Tage später ist Seume in Weimar und sieht auch Wieland, und 14 Tage später bricht er nach Sizilien auf, nach Syrakus. Und wie hatte Wieland schon im Sommer 1801 an Göschen geschrieben: „Im vierten Buch kann ich ihn Aristipp nicht weiter bringen als bis zum Tode seiner Kleone und zu seinem Entschluß, Cyrene wieder zu verlassen und sich zu seinem Freund Filistus nach Syracus zu begeben.“15
Einigermaßen merkwürdig: Der Lektor schließt die Herstellung dieses vierten Buches des Aristipp ab und begibt sich an denselben Ort wie Aristipp: nach Syrakus. Spielte die Arbeit an Wielands Aristipp eine Rolle bei der Wahl des Zielortes Syrakus?
Bei solchem Gemenge von präzisen und launischen Angaben über die Reisemotivation wird man mißtrauisch gegenüber eindeutigen Diagnosen wie der folgenden: „Das Altertum lebendig, sinnlich zu erfahren, darin ist ohne Frage der eigentliche Antrieb für den gefährlichen Spaziergang nach Syrakus zu sehen.“16 Ohne Frage? Den Homer im Schatten des Aetna und den Theokrit in Syrakus zu lesen ist wohl in gewissem Sinn wirklich eine ,lebendige’, ,sinnliche’ Altertumserfahrung – aber warum gönnte Seume sich dann so wenig von dieser Erfahrung? Das Tempo, in dem er Italien und Sizilien durchmaß, erlaubte wenig solcher Erfahrung, und was heißt das eigentlich konkret: „Das Altertum [ … ) erfahren“? Die Landschaft kennenlernen, in Zusammenhang mit Bauwerken und der Lektüre von antiken Autoren in ihrer ,authentischen’ Umgebung? Das spielte sicher eine Rolle, doch die Beobachtungen Seumes verschieben sich im Lauf der Reise immer mehr auf den gegenwärtigen ökonomischen und politischen Zustand Italiens, auf den Stand der Kultivierung der Landschaft, und die aufgesuchten Altertümer scheinen mehr dem Prinzip Laune als dem Prinzip Bildung oder Wunsch nach einer auch nur halbwegs systematischen Erfahrung des Altertums zu gehorchen. Zwischendrin beklagt Seume sogar, daß er solche Erfahrung des Altertums eigentlich gar nicht machen könne, weil er viel zu wenig antike Bildung habe (und, muß man hinzufügen) offenbar vor allem auch gar keine Zeit gehabt hatte, sich auf die Reise vorzubereiten: „Wer nur ein Kerl wäre, der etwas ordentliches gelernt hätte! Hier komme ich nun schon in das Land, wo kein Stein ohne Namen ist.“17
Seume, der sich in künstlerischen Dingen für einen Banausen hält, der zwar schwärmt – etwa für Canova –, sich aber eigentlich nicht ins „Heiligtum der Göttin“18 (nämlich der Göttin seines Freundes Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld: der Kunst) wagte, wirft auf Italien weder einen eindeutig gelehrten noch einen ästhetischen Blick (weder auf Landschaft noch auf Kunstwerke), sondern einen – wenn man so sagen kann – Mischblick, keinen Blick des Schautriebs, eher einen Blick, der Blick der Erkenntnis sein will, dies aber nur sehr sprunghaft und intermittierend ist: als politischer Blick, manchmal sogar als militärischer Blick, als agronomischer Blick. Bisweilen sucht er so etwas wie eine antikisch religiöse Ortserfahrung bei Quellen, Tempeln und Grotten, und noch seltener gelingt es ihm, sich auch einmal von einer Landschaft stimmungshaft überwältigen zu lassen – für den charaktergepanzerten Seume offenbar eine schwierige Sache. Seumes Italien-Reise und ihre Beschreibung scheinen mir das Produkt eines unaufgelösten Konflikts zwischen traditioneller Antiken-Verehrung und einsetzender politischer und aufgeklärter Profanisierung der Weltsicht. Ganz wendet er sich von den antiken Monumenten nicht ab, aber an vielen Stellen, bei denen man denkt, er werde hinsehen, schaut er gar nicht hin oder spottet sogar über Bildungsprogramme, die auf Reisen realisiert werden.
Kurios übrigens, welche Namen Seume seiner Fortbewegungsweise während seiner Fußreise gibt: Er spricht von „pilgern“, „wandeln“, „tornistern“, davon, eine Strecke „abzutornistem“, von „gehen“, „schlendern“, von „gemächlich einen Fuß vor den andern setzen“, und, er sagt, aus den immer wiederkehrenden Tätigkeitsbezeichnungen herausfallend: „Wenn man nicht mit Extrapost fährt, sondern zu Fuße trotzig vor sich hinstapelt, muß man sich sehr oft huronisch behelfen.“19 Sein Stolz ist also offenbar, eben nicht mit der „Extrapost“ zu fahren, sondern aus Trotz gegen die Leute des Standes, der sich das leisten kann, zu Fuß zu gehen, zu „stapeln“ – im Sinne von stapfen, wandern, und dies „vor sich hin“, also mit einem Schuß von Eigenbrötelei und mit der Bereitschaft, sich mit Umständen abzufinden – vor allem in Gasthäusern – deren Primitivität „huronisch“ ist, also an die nordamerikanischen Indianer erinnert, worin aber auch wieder ein Stück Selbstbewußtsein anklingt à la ,edler Wilder’. Die Ausdrücke suggerieren, daß er’s aus Trotz nicht eilig hatte und eine nicht-privilegierte Reiseweise wählte, daß die Reise eher als Spaziergang denn als Reise angelegt war und schlendernd vollbracht wurde – mit der Implikation, daß jeder, der sich vom Zeitrahmen und den Entfernungen Rechnung gibt, darauf kommen muß, daß „Spaziergang“ ein understatement ist und die Marschleistung in Wirklichkeit eine enorme war: umgekehrte Angeberei, rhetorisch gesprochen: eine Litotes, die recht ostentativ wirkt. Wenn das alles ein Spaziergang war und darauf angelegt, warum beeilte er sich dann doch so, warum verweilte er so wenig, warum mußte er Mitte August 1802 bereits zurück sein? Bei wem war er im Wort? Seine Autobiographie zu schreiben hatte er vor Antritt der Reise abgelehnt, und eine Verpflichtung, seine Italienreise zu beschreiben, war er, soweit wir wissen, nicht eingegangen. Wollte er durch rasche Rückkunft Geld sparen, oder war er aus anderen Gründen gehetzt und daher gewissermaßen genußunfähig? Er selbst wußte, daß er in bemerkenswertem Tempo sich durch die Gegend bewegt hatte: „Sie werden mir das Zeugniß geben, daß ich wenn auch nicht sehr aufmerksam doch wenigstens sehr expedit gewesen bin.“20 „Sie begreifen leicht, daß das alles sehr schnell gegangen ist, weit schneller als einem gelehrten Manne geziemt.“21 Ein „gelehrter Mann“ hätte sich gerade wegen der Würde dessen, was da in Italien zu sehen war, mehr Zeit nehmen müssen. Schreibt Seume also halb entschuldigend, halb prahlend von seiner bemerkenswerten Beeilung bei der Reise, um Göschen, den er eben um einen Kredit von 100 Reichstalern gebeten hat, günstig zu stimmen à la: ich muß mir etwas leihen; ich tat aber mein Möglichstes, mich zu beeilen mit meiner Reise und damit die Schuldensumme niedrig zu halten? Oder war es ihm vor allem wichtig, durch diese Befreiungstat seiner selbst und für sich selbst, als die er ja die Reise empfand, nicht erneut in Verbindlichkeiten, also Unfreiheit zu geraten? Oder haben wir hier noch einmal einen ungeschlichteten Konflikt im Innern Seumes vor uns? Einer könnte sich die Freiheit gönnen, etwas länger von zu Hause wegzubleiben, und er würde auch gerne einen entspannteren Blick auf die Welt und vor allem die Welt südlich der Alpen werfen, aber wir haben dann eben doch einen Puritaner vor uns, der sich unterdrückerisch seinen Lüsten gegenüber verhält und immer für Selbstdisziplin argumentiert, einen Mann aus dem 12ten preußischen Grenadierregiment des Generals L’Homme de Courbière, Standort Emden, der gewohnt ist, Entfernungen nicht zu verbummeln, sondern in Eilmärschen rasch zu überwinden?
Wie diese Zeugnisse belegen, ist es schwierig, sich ein Bild vom Geisteszustand Seumes gegen Ende seiner Reise zu machen, doch schwieriger noch ist es festzustellen, welche Vorstellungen und Absichten er zu Beginn der Reise hatte. Die Syrakus-Phantasien und Sizilien-Zielvorstellungen hatten wir schon angeführt, doch scheint bei der Vielfalt der Wünsche, Motive und Zwänge erst im Laufe der Reise und vielleicht sogar erst bei der Niederschrift des Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 vom Herbst 1802 bis Februar 1803 sich so etwas wie eine bestimmte Art von Erfahrungen und Gruppe von Darstellungsschwerpunkten herausgebildet zu haben, und von den Schwerpunkten der Darstellung ist eventuell auch nur mit Vorbehalten rückzuschließen auf die vor- und außer-literarischen Erfahrungen vor und während der Reise. Sieht man sich im Licht unserer Kenntnis der Biographie und insbesondere der Briefe Seumes den Abschnitt über Seumes zweiten Aufenthalt in Palermo genauer an, so scheint das wie getriebene Weglaufen von Deutschland nach Syrakus etwas zu tun zu haben mit dem Fliehen vor und der Bewältigung – Distanzierung; Bemeistern durch eine physische Leistung, die das Selbstwertgefühl wieder herstellt – der unglücklichen Liebesbeziehung zu Wilhelmine Röder.22 Das Grübeln über diese gescheiterte Beziehung und die Träume in die Ferne während der erzwungenen Seßhaftigkeit als Lektor bei Göschen in Grimma wurden durch die Fußreise nach Syrakus sozusagen gewaltsam beendet; Seume wurde wieder ,tätig’ in einem Sinn, der nicht nur intellektuelle Tätigkeit meint, sondern in einem andern und höheren Maß seine ganze Person erfaßte:
[ … ] an meiner Personalität ist nicht sonderlich viel gelegen. Es gibt sogar Perioden, wo es mir vorkommt, daß ich auf der Welt wenig Gutes mehr zu tun und zu genießen habe. Doch wahrscheinlich brauche ich nur Tätigkeit; denn zum spekulativen Menschen bin ich, wie Sie wohl finden werden, nicht gemacht.23
Wenn dies eine Facette von Seumes Stimmung zur Zeit des Aufbruchs nach Italien war, so versteht man eher, warum er sogar die Gefahren, die mit einer einsamen Fußwanderung durch bestimmte Teile Italiens für sein Leben drohten, in Kauf zu nehmen bereit war: Bestand er die Reise, so war er wieder ,tätig’ gewesen und hatte sich etwas bewiesen; fiel er in die Hände von mörderischen Räubern in den Abruzzen oder in Sizilien, so war es auch nicht schade um ihn: er hatte mit dem Leben abgeschlossen. Dies ist vielleicht die psychologische Erklärung für das Akzeptieren der ,selbstmörderischen’ Gefahren auf bestimmten Etappen der Reise. Die Leistung der Fußreise hätte dann für Seume darin bestanden, gezeigt zu haben, daß er ein todesverachtend braver Mann war, und zugleich sich innerlich von Wilhelmine Röder befreit zu haben:
Aber wenn ich einst mein Herz entwöhne,
Ohne dich mit meinem Los versöhne,
Dann hab ich ein Männerwerk getan.24
Lassen wir dahingestellt, ob Seume sich dieses Aspektes seiner Reise schon an deren Beginn bewußt war; die Darstellung des zweiten Aufenthaltes in Palermo mit dem dramatischen Höhepunkt der Zerstörung des Bildes von Wilhelmine Röder und der Besudelung des Bildes der Heiligen Rosalie deutet darauf hin, daß er die Vollendung seiner Reise nach Sizilien und die Umrundung der Insel Sizilien auch als Lösung von einer unglücklichen Liebe empfand und verstand. Unklar ist, ob Seume schon zu Beginn seiner Reise plante, nach der Rückkehr über die Alpen noch einmal einen großen Umweg nach Westen zu machen, um Paris zu sehen; aus den vorliegenden Äußerungen ist nicht zu ersehen, wie fest seine Verabredung mit Schnorr von Carolsfeld war, sich in Paris zu treffen. Schnorr reiste ca. eine Woche vor Seumes Ankunft aus Paris wieder ab; ganz fest war die Verabredung also offenbar nicht. Das Entscheidende am Aufenthalt in Paris muß das Erlebnis der Atmosphäre um Napoleon gewesen sein. Wenn man Seumes Briefen aus seiner Zeit als Lektor in Grimma glauben kann, so hatte er sich eine Zeitlang, von 1797 bis 1801, ziemlich von der Politik bzw. von politischen Interessen entfernt. Während der Monate in Italien muß er sich aber wieder politisiert haben, insbesondere angesichts des Napoleonischen Konkordats mit dem Papst und der Wiedererrichtung des Kirchenstaates samt Stärkung der alten Feudalverhältnisse in Italien und Sizilien. Die italienischen Mißstände und die restaurative und autokratische Wendung der Herrschaft Napoleons müssen Illusionen zerstört haben, die sich Seume offenbar bezüglich Napoleon gemacht hatte, den er für einen möglichen Friedensstifter in Frankreich und Stabilisator der Errungenschaften der Revolution hielt. Nach Tische liest man’s nun anders; Böttiger schreibt Ende August 1802 an Gleim: „Seume war vorige Woche zwei Tage hier, von Sizilianischer Sonne gebräunt, voll Ingrimms gegen Napoleons Täuschungskünste.“25
Napoleon hatte wohl auch Seume selbst getäuscht; Böttiger ist nicht der einzige, der diese Änderung der Einstellung Seumes just zu diesem Zeitpunkt notiert. In seinen Aufzeichnungen Rückblick auf verlebte Tage schreibt Seumes alter Kamerad Münchhausen, den er in Schmalkalden Anfang August 1802 besuchte, Seume sei „zwar von der Idee der Größe Bonapartes ziemlich kuriert, aber noch nicht so von der des Phylantropins und des Welt-Beglückens“.26
Seume muß also Münchhausen gegenüber einstige Hoffnungen auf Napoleon eingestanden oder ihm solche schon früher mitgeteilt haben, scheint aber Münchhausen gegenüber an seinen Hoffnungen auf die Erziehbarkeit der Menschen und auf Möglichkeiten der Veränderung der politischen Verhältnisse festgehalten zu haben. Schließlich bestätigt auch eine Formulierung in einem Brief Seumes an Gleim, daß in den Gesprächen zwischen Seume und Gleim das Thema Napoleon eine Rolle gespielt hatte und daß Gleim hier eine sehr viel skeptischere Haltung einnahm als Seume, der sich nun beeilt zu versichern, er selbst sei natürlich auch auf der Hut gewesen, Napoleon nicht zu idealisieren: „Sie haben eine prophetische Seele über den Mann in Paris gehabt, und es freut mich, daß auch ich mit meinem Urteil nicht übereilend und mit meiner Seele auf Schildwache gewesen bin.“27
Zwölf Seiten umfaßt das Resümee, das Seume dann bezüglich der etablierten Herrschaft des Ersten Konsuls am Ende seines Paris-Aufenthaltes zieht, das längste politische, einer einzigen politischen Gestalt oder einem einzelnen Thema gewidmete Fazit des ganzen Buches. Und während dies Fazit sich schon in der 1. Auflage des Spaziergang von 1803 findet, kommt dann in der zweiten Auflage eine umfangreiche Fußnote hinzu an der Stelle, wo – passenderweise beim Eintrag „Mainz“, dem Ort der ersten deutschen Republik – von dem Wortspiel mit „Moreau grand consul“ und „Mort au grand consul“ die Rede ist, das Seume in Frankreich gehört hat.28 Seume referiert und kommentiert die diagnostische Kraft des inzwischen anonym publizierten Buches Napoleon Bonaparte und das französische Volk unter seinem Consulate29 und begräbt mit seiner Zustimmung zu den Feststellungen dieses Buches endgültig seine Hoffnungen auf Napoleon: dieser habe die Militärherrschaft wieder installiert, und obwohl er „ein Heiland eines großen Teils der Menschheit [hätte] werden können“, begnüge er sich damit, „der erste geborne Sohn der römischen Kirche zu sein.“30 Offenbar zählt Seume selbst zu denen, die an Napoleon Hoffnungen wie an einen Heiland knüpften, und der Abbau dieser Hoffnungen samt Ratifizierung der Desillusionierung durch den nunmehrigen „Autokrator“ Napoleon ist der wichtigste Subtext im Fortgang des Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Als Seume nach Italien aufbricht, hat Napoleon das Konkordat mit Pius VII. schon geschlossen – von den Folgen macht sich Seume ein Bild in Italien; als er Münchhausen besucht, hat er gerade davon erfahren, daß Napoleon nun – seit dem 2. August 1801 – Konsul auf Lebenszeit ist, und als er die zweite Auflage des Spaziergang vorbereitet, ist Napoleon bereits – am 2. Dezember 1804 – zum französischen Kaiser gekrönt. Eine ganz persönlich motivierte Fußreise ist zur politischen Reise, fast zur Inspektionsreise durch die Verhältnisse in Österreich, Italien und Frankreich geworden, die Seume lustigerweise und bezeichnenderweise seine „Ronde“31 nennt, als habe er wie ein wachthabender Offizier überprüft, ob alle ihre Pflicht tun bzw. was der Zustand der Truppe ist.
Es könnte übrigens sein, daß der Spaziergang im Titel von Seumes Buch auch eine Anspielung auf Schillers Gedicht Der Spaziergang32 von 1795 enthält und damit ein Programm signalisiert, ein Programm konkreter Erfahrung durch Anschauung im Gegensatz zum Spekulativen, bloß Gedanklichen, dem Schreckensbild der Abstraktheit. Seumes Spaziergang und sein realer Spaziergang hätten dann nicht zufällig in jenes Magna Graecia geführt, über dem die Sonne Homers lächelt. Aber nicht nur in einem Sinn der Bildungsreminiszenz, sondern verquickt mit aktueller Politikerfahrung. Unter solchem Aspekt ist der Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 auch zu lesen als eine gewissermaßen populärphilosophische Antwort auf des von Seume ja sehr geschätzten Schiller spekulativen Gedankenflug; daß es eine Fußreise war, die er trotzig-programmatisch machte, ist ein Teil dieser Inszenierung seines Unternehmens als einer Sache des Nahblicks und der authentischen Erfahrung.
Allerdings muß man von dieser Selbstinszenierung Seumes als des unermüdlichen Fußwanderers auch ein bißchen was abziehen. Wie ein genauer Blick auf den Text zeigt, waren es gar nicht so wenige Abschnitte, die er mit Kutsche, Diligence und Kurier zurücklegte, und ironischerweise muß er einige Jahre später just in der Vorrede zu Mein Sommer 1805, wo er seine vielzitierte Äußerung über die Vorteile der Fußreise tut, zugeben, daß er diesmal, d.h. im Sommer 1805, sogar noch mehr als 1802 die Kutsche benutzen mußte:
Diesmahl habe ich nur den kleinsten Teil zu Fuße gemacht; ungefähr nur hundert und funfzig Meilen. Lieber wäre es mir und besser gewesen, wenn meine Zeit mir erlaubt hätte, das Ganze abzuwandeln. Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. […] Ich halte den Gang für das Ehrenvolleste und Selbständigste in dem Manne, und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge.33
Das ist gewissermaßen objektive Ironie, und es soll nicht als Häme verstanden werden, wenn man bestimmte ganz entschiedene und mit taciteischer Kürze vorgebrachte Aussprüche Seumes ein wenig relativiert dadurch, daß man sie in einen Kontext stellt. Der Einsatz von imponierenden, schneidend knappen Apophthegmen gehört zu Seumes Stilisierungsstrategien; schaut man mißtrauisch genauer hin, so verundeutlicht sich, wie gesagt, bei ihm doch manches, von der historischen Wahrheit über seine Anwerbung in die Hessische Armee bis zu seinem Republikanismus, der so eindeutig und aufrecht scheint und doch konterkariert wird von den merkwürdigsten, fast servilen Äußerungen über Adelige. Ein letztes sprechendes Detail seiner Stilisierungstechniken: Zwar gesteht er ein, daß am Anfang seiner Wanderungen sein Freund Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld bis Wien ihn begleitete, aber daß beispielsweise auch der Engländer Crabb Robinson am Anfang des Fußmarsches dabei war und daß in Rom auch der Franzose Auguste Duvau, einer seiner Freunde, zur Gesellschaft gehörte, wird nicht erwähnt, was heißt: Seume war gar nicht ganz so allein wie man bei der Lektüre den Eindruck hat, und wenn zu einem Charakter, der Seume doch nach allgemeiner Beteuerung insbesondere des 19. Jahrhunderts war, Geradheit und Konsequenz gehört, so ist merkwürdig, daß der Erfolg des Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 eher aus der Mischung von scheinbar definitiven Statements und grollenden Urteilen mit launigen Sprüngen in der Plauderei, mit Verschiebungen der Aufmerksamkeit vom Hölzchen aufs Stöckchen zusammenhängt. Sehr anschaulich hat diese Qualität Seumes, die ihn nahe an englische Autoren wie Sterne, Smollett oder Fielding rückt, insbesondere aber an Sterne (obendrein auch an Autoren wie Jens Baggesen), schon der Vorwortschreiber und Herausgeber der Werkausgabe von 1837 bemerkt:
Da ist Seumes zuweilen fast vornehm übermütig und gleichgültig hingleitende, das Fremdländische, besonders Griechische rasch ergreifende, im Drange der Rede nicht immer begrifflich-bestimmte, unverschränkte Sprachnachlässigkeit, sein barsches oder auch schalkisches Abspringen, wo es zuweilen gegolten hätte, wie auf seinem Spaziergange nach Syrakus, wo er oft Mangel an Kunde und Gelehrsamkeit, oder Überlegenheit und Ausführlichkeit seiner Vorgänger rühmt oder augenblicklicher Milzsucht gehorchend abbricht. Diese scheinbare, fast launscherzliehe Selbstlosigkeit im Vordergrunde einer doch gründlichen Charaktergediegenheit machte ihn zum volkstümlichen Schriftsteller.34
Zu überlegen wäre sogar, ob nicht dieser so spontan wirkende, so erfolgreiche Ton des Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 auch ganz grundsätzlich ein Stück Selbstinszenierung ist, ob er nicht sogar von Seume post festum erfunden wurde.
Seume hatte ja vor diesem Buch nur sehr wenig publiziert, und dies waren – abgesehen von den Gedichten – Prosatexte ganz anderer Art und Thematik; wir haben also gar kein Beispiel für seinen Stil in Reisebeschreibungen vor dem Spaziergang, der ihn berühmt machte, außer seinen Briefen. Als er nach dem Spaziergang in Leipzig sich an dessen literarische Darstellung macht, nimmt er sich erst einmal andere Italienreisen vor: „[…] da ich von Cluver und Dorville bis auf Stolberg die Herren in der Eile durchlaufen muß, um zu sehen, ob und wie ich mit ihnen zusammen gehen oder von ihnen abweichen muß.“35
Wie er sich präsentieren will, entscheidet er nach der Lektüre anderer Italien-Autoren. Sicher konnte er nicht völlig über den Schatten seines Temperaments springen, aber die Überlegung, wo und wie er bei der Italienreise eine Marktnische finden könnte, war ihm nicht fremd. Die Kunst geht nach Brot. Was in der Seume-Forschung noch fehlt, ist ein detaillierter Bericht von einer Synchron-Lektüre des Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 mit den Reiseberichten nicht nur von Cluver, D’Orville und Stolberg, sondern auch Bartels und Brydone, Hager, Münter und Küttner; die könnten Aufschluß geben über den Stilisierungsgrad bzw. die Details der Stilisierungsweise Seumes.
Mit der Nennung dieser letzten Frage an den Spaziergang, dieses Desiderats, lassen wir den Fußwanderer sich entfernen. bis er so klein wird wie die Zeichnung, die Reinhart von ihm machte und die das Titelblatt der Erstausgabe zierte. Und da taucht dann plötzlich doch noch wieder eine Frage auf. Das Exemplar, von dem meine Photokopie des Spaziergang gemacht ist, zeigt Seume gar nicht, und es ist auch nicht bei Hartknoch in Braunschweig und Leipzig 1803 publiziert, sondern „Dresden 1803 bei Friedrich Hartknoch“. Publizierte Hartknoch eine Teilauflage in Dresden, eventuell gar eine, die Seume selbst und auch den bisherigen Bibliographen entgangen ist?
Anmerkungen
1 Stephan, Inge, Johann Gottfried Seume. Ein politischer Dichter der deutschen Apätaufklärung. Stuttgart 1973. S. 36.
2 Seume, Johann Gottfried. Gedichte. Leipzig 11801 Vorwort, S. VI; wiederabgedruckt in: ders., Werke in zwei Bänden, Hg. v. Jörg Drews u. Mitarb. v. Sabine Kyora. Frankfurt/M. 1993, hier Bd. 2: Apokryphen. Kleine Schriften. Gedichte. Übersetzungen (Bibliothek deutscher Klassiker 86), S. 808-810. zit. S. 809.
3 Seume, Johann Gottfried, Mein Leben, in: ders., Werke, (wie Anm. 2), hier Bd. 1: Mein Leben. Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Mein Sommer 1805 (Bibliothek deutscher Klassik 85), S. 62.
4 Seume, Leben (Fortsetzung von Göschen u. Clodius), ebd., S. 104. Vgl. auch den Brief Seumes an Korbinsky jun. vom 11. Dezember 1786, abgedruckt in: Planer, Oscar/Reißmann, Camillo, Johann Gottfried Seume. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Leipzig 1898, S.57-59.
5 Seume an Gleim, 3. 9. 1802, zit. nach: Gleimhaus: Briefe von Seume an Gleim, Autograph.
6 Seume, Johann Gottfried, Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, in: ders., Werke, (wie Anm. 2), Bd. 1. S. 457.
7 Stephan, (wie Anm. 1). S. 36.
8 Der Bericht über den ersten Romaufenthalt erfolgt in solcher Kürze und solchem Tempo, daß man den Eindruck hat, Seumes Hauptgeschäft habe darin bestanden, Johann Christian Reinhart im Caffè Greco den mitgebrachten Brief von Thelela Podleska zu übergeben und dann weiterzuziehen. Vgl. Feuchtmayr, lnge, Johann Christian Reinhart 1761-1847. Monographie und Werkverzeichnis. München 1975, S. 31.
9 Seume, Spaziergang, (wie Anm. 6), S. 286.
10 Ebd., S. 288.
11 Ebd., S. 349.
12 Seume an Böttiger, 31. 12. 1801, zit. nach: Sächsische Landesbibliothek Dresden, Autograph.
13 Seume, Gedichte, (wie Anm. 2), Vorwort, S. 809.
14 Seume, Spaziergang, (wie Anm. 6). S. 196.
15 Wieland an Göschen, Sommer 1801, zit. nach: Wieland, Christoph Martin, Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, in: ders., Werke in zwölf Bänden, hg. v. Manfred Fuhrmann u.a. Frankfurt /M. 1986ff.. hier Bd. 4: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen , hg. v. Klaus Manger (1988) (Bibliothek deutscher Klassiker 28), Kommentar, S. 1116.
16 Reinhardt, Volker, Seume und die späte Entdeckung der Revolution, in: Historische Zeitschrift (1991), Nr. 252, S. 319-337. zit. S. 329.
17 Seume, Spaziergang, (wie Anm. 6), S. 272.
18 Ebd., S. 165 u. 169.
19 Ebd., S. 181.
20 Seume an Göschen, 22. 6. 1802, zit. nach: Museum Schloß Lützen, Autograph.
21 Seume an Göschen, Mai 1802, zit. nach: Deutsches Buch- und Schriftmuseum Leipzig, Autograph.
22 Vgl. Drews, Jörg, „Ach, Galatea, Du Schöne. Warum verwirfst Du mein Flehen?“ Seume in Sizilien, oder: Besudelung und Sturz zweier Götterbilder, in: ders. (Hg.), „Wo man aufgehört hat zu handeln, fängt man gewöhnlich an zu schreiben“. Johann Gottfried Seume in seiner Zeit. Vorträge des Bielefelder Seume-Colloquiums 1989 und Materialien zu Seumes Werk und Leben. Bielefeld 1991, S. 97- 115.
23 Seume an Göschen, wahrscheinlich 16. 10.1801, zit. nach: Museum Schloß Lützen, Autograph.
24 Seume, Johann Gottfried, in: ders., Obolen. Zweytes Bändchen. Leipzig 1798, S. 30-35, zit. S. 32.
25 Böttiger an Gleim, Ende August 1802, zit. nach: Planer/Reißmann, (wie Anm. 4), S. 379.
26 Münchhausen, Karl Ludwig August v., Rückblick auf verlebte Tage. Niederschrift von 1822. Zit. nach dem vollständigen Abdruck in: Drews, Jörg (Hg.). Johann Gottfried Seume . Ein politischer Schriftsteller der Spätaufklärung. Katalog zur Seume-Ausstellung, Universitätsbibliothek Bielefeld 1989. Bielefeld 1989, S. 24-34, zit. S. 34.
27 Seume an Gleim, 3. 9.1802. zit. nach: Gleimhaus: Briefe von Seume an Gleim, Autograph.
28 Seume, Spaziergang, (wie Anm. 6), S. 531
29 Vgl. (Schlabrendorf, Gustav v.), Napoleon und das französische Volk unter seinem Consulate. Germanien im Jahr 1804.
30 Seume, Spaziergang, (wie Anm. 6), S. 532.
31 Ebd., Vorrede, S. 163.
32 Vgl. Schiller, Friedrich, Der Spaziergang, in: ders., Werke. Nationalausgabe, begr. v. Julius Petersen. Fortgef. v. Lieselotte Blumenthal. Weimar 1 943ff., hier Bd. 2/1: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1799-1805 – der geplanten Ausgabe letzter Hand (Prachtausgabe) – aus dem Nachlaß (Text), hg. v. Norbert Oellers. Weimar 1983, S. 308- 314; zuerst u.d .T. Elegie, in: ebd., Bd. I: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776-1799, hg. v. Julius Petersen u. Friedlich Beißner (1943). S. 260-266.
33 Seume, Johann Gottfried, Mein Sommer 1805, in: ders ., Werke, (wie Anm. 2), Bd. 1, Vorrede, S. 543f.
34 Seume, Johann Gottfried, Sämmtliche Werke, hg. u. m. e. Vorw. begl. v. Dr. Adolf Wagner. Zweite, rechtmäßige Gesammt-Ausgabe in einem Bande. Leipzig 1837, Vorwort, S. III.
35 Seume an Gleim, Ende September 1802, zit. nach: Gleimhaus: Briefe von Seume an Gleim, Autograph.
Jörg Drews: Ein Mann verwirklicht seine „Lieblingsträumerey“. Beobachtungen zu Details von Seumes „Spaziergang“ nach Syrakus, In: Wanderzwang – Wanderlust. Formen der Raum- und Sozialerfahrung zwischen Aufklärung und Frühindustrialisierung. Herausgegeben von Wolfgang Albrecht und Hans-Joachim Kertscher. Band 11 der Reihe Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung. Max Niemeyer Verlag Tübingen, 1999, S. 200-214.