Jörg Drews: Geist und Ungeist in Deutschland um 1933
I.
Noch das am reinsten Gedachte, das Höchste ist pervertierbar, und daher stehen sich Geist und Ungeist nicht so säuberlich getrennt gegenüber, wie der Titel meines Vortrags suggeriert. Barbarei ist nicht allein das klare Gegenteil von Zivilisation, sondern kann selbst wieder aus pervertiertem Geist stammen, aus sich selbst verfehlendem, orientierungslosem Geist. Das Jahr 1933 bietet bedenkenswerte Beispiele hierfür, in gewissermaßen ,harmlosen‘, aber auch in gefährlicheren Varianten, die natürlich zurückweisen auf Entwicklungen vor 1933, Entwicklungen des Geistes als Politikum, und das heißt: des Versagens des Geistes vor dem Phänomen des Politischen und vor allem vor dem absoluten Machtwillen. Drei Vignetten aus dem Jahr 1933 zeigen vielleicht etwas anschaulicher, was ich meine.
Im Sommer 1933 trifft Heinrich Fischer, der spätere Herausgeber der Werke von Karl Kraus, in einem Caféhaus in Prag den Erzähler und Aphoristiker Walter Serner, einen Nihilisten von enormem Scharfsinn und tiefer Melancholie, einen pessimistischen Anthropologen, der weder an die Kunst noch an die Verbesserbarkeit der menschlichen Gesellschaft glauben kann. Über Politik scheint er mit Heinrich Fischer gar nicht geredet zu haben – vielleicht war er über die Anfänge dessen, was die Faschisten in Deutschland anzustellen sich anschickten, gar nicht überrascht –, laut Fischer klagte er nur ganz leise und traurig darüber, dass es „keine interessante neue Lyrik“ gäbe, Nun kann man gewiss darüber reden, ob Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre die deutsche Lyrik sich vielleicht wirklich nicht in einer so schöpferischen Phase befand wie 15 oder 20 Jahre vorher inmitten der Talentexplosion von Expressionismus und Dadaismus, und vielleicht posierte Walter Serner auch nur kühl als Verächter der Politik, mit der er sich die Finger demonstrativ gar nicht schmutzig machen wollte. Aber am Ende verschlang eben diese verachtete Politik ihn und seine Frau Dorothea: Im August 1942 wurden sie von Prag nach Osten abtransportiert, in ein Arbeitslager bei Minsk oder – das ist nicht mehr genau feststellbar – in die Wälder um Riga, und der Dr. Serner, der offenbar glaubte, noch viele Jahre lang den europäischen Kontinent als Anarcho-Gentleman durchstreifen zu können, hatte die Augen vor dem Phänomen eines bisher ungekannten kalten Machtwillens und einer absoluten Mordlust verschlossen: Der Spaß der Zwischenkriegsanarchie war vorbei.
Karl Kraus hatte nach der Machtergreifung Hitlers monatelang „Die Fackel“ nicht erscheinen lassen, obwohl doch viele Intellektuelle ein entschiedenes Wort von dem großen Satiriker erwarteten. Schließlich erschien dann im Oktober 1933 die berühmte, nur vier Seiten umfassende Fackel Nr. 888. Sie enthielt drei Seiten mit dem Text der Rede von Kraus am Grab des Architekten Adolf Loos, und auf der vierten Seite stand das folgende Gedicht, ohne Überschrift, ohne weitere Erklärung oder Rechtfertigung, aber deutlich Bezug nehmend auf die Frage, ob denn Kraus nichts zu sagen habe zum Wüten der Nazis in den ersten Monaten ihrer Macht:
Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm,
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
nachher war’s einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.
„Jene Welt“ – das war die Unterwelt des Nationalsozialismus, welche (zumindest zunächst) dem diagnostisch-satirischen Wort alle Kraft zu nehmen schien, jene Brutalität, welche das Wort überwältigte und nutzlos machte, weil das Argument durch einen Faustschlag ersetzt war. Kraus arbeitete in dieser Zeit dann doch an einem Buch, das später „Dritte Walpurgisnacht“ heißen sollte bzw. bei der Erstpublikation 1952 hieß, aber zunächst zu einem hohen Prozentsatz aus Zitaten aus Büchern und anderen Zeugnissen des Jahres 1933 bestehen sollte und der Zeit den Spiegel der in ihr entstandenen Stellungnahmen, Zeitungsartikel, Rezensionen und Gedichte entgegenhielt, in Fortführung jenes Verfahrens, das Kraus schon bei der dramatischen Darstellung jener anderen Ungeheuerlichkeit angewandt hatte, die Erster Weltkrieg hieß, des Zitatverfahrens in „Die letzten Tage der Menschheit“ von 1919; bald allerdings wurde dann doch wieder ein fortlaufend argumentierender Text daraus, der sich auf über 300 Seiten von den Zitaten nur abstieß. Aber zunächst konnte Karl Kraus nur jene zehn Zeilen schreiben, die besagen, dass es ihm die Sprache verschlagen hatte. Das war ja dem Phänomen, der Heraufkunft des Nazismus, in gewissem Sinne ganz adäquat, und zugleich eine Kapitulation, jedenfalls aber nicht einfach persönlich-talentmäßiges Versagen, sondern Ausdruck eines objektiven Dilemmas: Mit welcher Sprache tritt man dem Faschismus entgegen, wie redet man über die sich abzeichnende ungeheuerliche zivilisatorische Katastrophe, die „das werteschaffende Leben selbst“ zu begraben drohte?1
Drittes Bild: Am Sterbebett des Dichters Stefan George ist unter denen, die Wache und dann Totenwache halten, Anfang Dezember der Reichswehrleutnant Claus Graf Schenk von Stauffenberg, der spätere Attentäter des 20. Juli 1944, der 1933 sich von Hitlers Machtergreifung die Wiedererrichtung der deutschen Armee über die kleine Reichswehr hinaus erhofft und den Reichs-Ideen, genauer: den reichlich vage und vieldeutig bleibenden Reichsphantasien des Dichters und Künders George nachträumt, die ihre Attraktivität gerade in jener edlen Vieldeutigkeit zwischen Poesie und Politik hatten.
Die dem politischen Denken und schließlich sogar der Kunst entsagende nihilistische Resignation Walter Serners, der schockartige Sprachverlust Karl Kraus‘ und die idealische Schwärmerei des Grafen Claus von Stauffenberg sind nun nur drei Möglichkeiten der Reaktion auf die Ereignisse, und überall dort, wo etwas weiterräumig und begrifflich gedacht wurde, war das Gefühl, an einer Zeitenwende, in einer Situation der Krisis zu stehen, keineswegs erst 1933 entstanden, sondern zeigt sich in zahlreichen Varianten bereits ungefähr ab dem Ende des Ersten Weltkriegs. Von der Literaturwissenschaft in ihrem Zusammenhang, in ihren Begriffen und ihrer Rhetorik übrigens noch nicht genauer untersucht, könnte man diese Gruppe von Essays, Untersuchungen und Entwürfen „Krisenschriften“ nennen; sie reicht von Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ von 1919/1922 über Ernst Jüngers „Der Arbeiter“ (1932) und Ernst Blochs „Erbschaft dieser Zeit“ von 1935 bis zu Horkheimer/Adornos „Dialektik der Aufklärung“ von 1947, und es wären die zivilisationskritischen Passagen von Martin Heideggers „Sein und Zeit“ (1927) ebenso zu diesen krisendiagnostischen Schriften zu rechnen wie Karl Mannheims „Ideologie und Utopie“ (1930) oder auch Hermann Brochs Essays aus den dreißiger Jahren und Karl Jaspers‘ Buch „Die geistige Situation der Zeit“ von 1931. Alle diese Schriften gehen von dem Gefühl bzw. der (sozusagen) vorwissenschaftlichen Annahme bzw. Erfahrung aus, dass Deutschland, aber nicht nur Deutschland, sondern Europa, der abendländische Kulturkreis, der Okzident – die Bezeichnungen wechseln – sich in einer Krisis im Sinne einer problematischen Lage befinden, die vor allem gekennzeichnet ist durch ein Werte-Vakuum und die eine ,Krisis‘ herausfordere im Sinne einer Entscheidung, wie auf diese Umbruchssituation zu reagieren sei. Die Beschreibung der Lage Europas erfolgt zum Teil eher unter geschichtsmorphologischen Gesichtspunkten – etwa bei Spengler –, zum Teil aber auch unter den Gesichtspunkten einer marxistischen Geschichtsauffassung, wonach die bürgerliche Epoche gewissermaßen unter Wehen in eine sozialistische übergehen werde, oder aber die Krisenschriften wie etwa die Essays Siegfried Kracauers und auch Teile des Jüngerschen „Arbeiters“ verstehen sich als allgemein kulturkritische Einlassungen, die sich Prophezeiungen oder die Dimension geschichtsphilosophischer Diagnosen aus abwartender Distanz versagen. Gemeinsame Erfahrung der Autoren ist – insbesondere nachdem die menschheitserneuernden Hoffnungen der expressionistischen und dann politisch-revolutionären Jahre zwischen etwa 1915 und 1920 zerstoben sind – das Lebensgefühl (gestützt durch zahlreiche, vergleichsweise willkürliche, aber massive Beobachtungen) eines historischen und spirituellen Umbruchs, dessen Symptome erstens die Massenhaftigkeit modernen Lebens bei drohendem Verlust der Möglichkeit echter Individualität ist, die ihren Ausdruck nicht zuletzt in der Großstadt und in der Massendemokratie findet; zweitens wird immer wieder der Verlust einer ,werthaften‘ Kultur und deren Ersatz durch eine oberflächlichere Angestellten- und Klassenkultur beklagt, die authentische Hervorbringungen entweder nicht mehr schafft oder nicht mehr zu schätzen weiß; drittens wird genannt die Uniformierung der Lebensverhältnisse – tendenziell, im Sinne einer frühen Globalisierungsvision, auf der ganzen Welt, nicht nur in Europa –, und viertens ist unter den entscheidenden Signa der Epoche der zunehmende Unglauben, die Abwendung gerade auch weiter Kreise der großstädtischen Bevölkerung Europas vom christlichen Glauben, was zu einer spirituellen Entleerung führe, zu einem Verlust von Substantialität, von nicht hintergehbaren Ressourcen von Sinn und Lebenszuversicht, von Dignität des Kulturlebens und von Bindung an nicht nur alltagstechnische Daseinsvorzüge.
Nimmt man einmal an, dass in dieser großen Kulturkrise im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts jedenfalls ein nicht zu bestreitendes Phänomen erfahren wurde, so stellte sich natürlich das Problem, wie denn dies Phänomen intellektuell bzw. wissenschaftlich zu untersuchen und darzustellen sei. Es war als Phänomen nicht einer einzelnen Disziplin zu übergeben, da es sich in alle Lebensbereiche hinein erstreckte und also nur durch eine Art Addition der Disziplinen zu erfassen war. Geschichtsphilosophie und Kulturkreistheorie vor dem Hintergrund einer Morphologie der Kulturkreise, Soziologie und Sozialpsychologie, Psychoanalyse und marxistische Geschichts- und Gesellschaftstheorie sowie eine existentialistisch angehauchte Kultur- und Zivilisationskritik waren das methodische und oft methodisch auch gar nicht genau reflektierte, sondern versuchsweise und faute de mieux benutzte Rüstzeug, um die Umbruchs- und Krisenphänomene zu beschreiben, in Texten, die daher häufig ,essayistisch‘ zu nennen sind, deren methodische Unsicherheit – bzw. bisweilen auch angemaßte Sicherheit – aber die Größe der ungewohnten und auch gar nicht sauber fachdisziplinär aufzuteilenden Aufgabe spiegelt.
Teils diesen Krisenschriften vorausgehend, teils zeitlich parallel zu ihnen entstehend, sind Texte zu nennen, die sich ebenfalls auf die Benennung des wertemäßigen Hohlraums kaprizieren, der sich vor allem Anfang der zwanziger Jahre auftat. Bert Brechts Notizen aus seiner Phase als Anarchist um 1922 zeigten einen ungezügelt genossenen Nihilismus und Zynismus,2 den er erst eindämmt, als er Ende der zwanziger Jahre den historischen Materialismus zu studieren beginnt; Gottfried Benns Gedichte und Essays der zwanziger Jahre konstatierten einen Zerfall des geschlossenen Ichs und einen Zerfall allen Glaubens und aller Werte, den Benn als Substanzverlust der „weißen Rasse“, als eine Untergangsbestimmtheit des Abendlandes ansieht (wo die Grenzen dieses ,Abendlandes‘ zu sehen wären, ob etwa auch die Weißen Nordamerikas dazuzurechnen wären, lässt er offen), und vom Blickwinkel des Kunsttheoretikers und Kunsthändlers her diagnostiziert Carl Einstein um 1930 den Kunstbetrieb und im Weiteren den gesamten intellektuellen Betrieb der späten Weimarer Republik und auch des Paris der späten zwanziger Jahre als einen Jahrmarkt der Eitelkeiten, auf dem die Produzenten sich durch das Erfinden und Feilbieten nur wenig sich unterscheidenden Kunst- und Theorie-Produkten sich für einen Markt zu qualifizieren suchen, der weitgehend in sich selbst kreist und keinen Konnex mehr hat zu einem übergreifenden gesellschaftlichen Projekt; „Die Fabrikation der Fiktionen“ wurde zwar leider erst in den frühen siebziger Jahren aus Einsteins Nachlass ediert, entstand aber als außerordentlich scharfsichtige und aussagekräftige polemische Analyse bereits in den Jahren um 1930. Schließlich sind sowohl die Formulierungen in Walter Serners Text „Letzte Lockerung. manifest dada“ (entstanden 1918, publiziert in Hannover 1920)3 wie auch die zynischen Aphorismen und Ratschläge seines „Handbreviers für Hochstapler“ von 19274 die literarische Ratifikation einer Existenz im Wertevakuum, die jede Orientierung an metaphysischen, durch Offenbarung oder philosophische Argumentation hergeleiteten Bindungen nicht mehr gegeben sieht. Sowohl bei den stärker philosophisch ausgerichteten Verfassern der Krisenschriften wie auch bei Brecht, Benn, Einstein und Serner steht im Hintergrund als kaum noch zu diskutierende, vielmehr meist schlicht vorausgesetzte und fast nur noch bei Benn pathetisch erlittene Einsicht „Gott ist tot“. Daraus folgte ein Nihilismus, auf den es – da nur dem starken Zyniker eine Existenz vis à vis de rien möglich ist – verschiedene Antworten oder Ausweichmanöver gab, ein Nihilismus, der insgesamt, als mehr oder weniger deutlich gespürter, Angst auslöste. Die kalte Wucht, welche die Wahrnehmung des Todes Gottes entwickelte und welche die Möglichkeit, sinnvolle Kohärenz zu denken, untergrub, formulierte Manfred Frank für die späten zwanziger Jahre so (bis heute ist die Diagnose gültig, nur haben wir inzwischen eine recht sänftigende pragmatische Sozialmoral installiert, die zwar wenig auf ihre Grundlagen befragt wird, aber offenbar praktisch funktioniert): „Unter Berufung auf traditionelle Normen, sprich: auf Gott und die übersinnliche Welt, also die Metaphysik, wurden ethische und soziale Normen beglaubigt und gesellschaftliche Synthesen legitimiert. Fragt man mit den Mitteln der Analyse, was es mit Gott und der übersinnlichen Welt auf sich habe, so antwortet das kritisch-analytische Denken: nichts, bei Licht und in der Wahrheit betrachtet, hat es damit nichts auf sich (…) genau diese Situation hat Nietzsche gesehen, und alle zeitgenössische Philosophie reagiert auf sie.“5
Die Philosophie wie die Literatur vor 1933 sind voll von entsetzten, angsterfüllten, besorgten oder sarkastischen Äußerungen, die auf die krisenhaften Entwicklungen der zehner und zwanziger Jahre, insbesondere das Schwinden von sinnhaften Interpretationen der Welt und der Gesellschaft reagieren. Brechts „Erst kommt das Fressen, / dann kommt die Moral“ spielt mit dem kalten Einverständnis einer moralfreien Welt, aber der Sarkasmus sollte nicht mit Zynismus verwechselt werden; Brecht sagte: So ist es in der Welt, nicht: so soll es sein. Auch ist die Angst vor dem, was damals als „Liberalismus“ ganz pauschal gescholten wurde, die Angst vor einer Gesellschaft voller Beliebigkeit, moralischem Relativismus und schließlichem Nihilismus durchaus eine reale Angst gewesen, die verbreitete Angst einer Gesellschaft, die den Übergang zu einer säkularisierten und demokratischen Welt und Gesellschaft noch nicht geschafft hatte, wie es ja schließlich der Fall war bei der deutschen Gesellschaft der Weimarer Republik, und die in ihrer autoritären Struktur auch die Sinnsetzungen immer noch von oben erwartete. Wenn Bernhard Diebold von der „Zersplitterung der sittlichen Auffassung“ insgesamt warnte, Gottfried Benn 1933 in der Rede auf Stefan George vom „völligen substantiellen und moralischen Kernschwund“6 Deutschlands sprach, welchem George in der Kunst eine höhere Verpflichtung entgegengehalten habe, und Martin Heidegger am Ende seiner berühmten Rektoratsrede 1933 davon spricht, dass „die geistige Kraft des Abendlandes versagt und dieses in seinen Fugen kracht, wenn die abgelebte Scheinkultur in sich zusammenstürzt“,7 so würden wir heute kommentieren, dass der Bankrott dieser Kultur just darin bestand, der Nazi-Barbarei nicht widerstanden zu haben, aber wir müssen sehen, dass dies reale Ängste waren, welche einen großen Teil der Bevölkerung den Nationalsozialisten in die Hände trieben. Die sozusagen ‚edlere‘ Variante des Ausweichens vor der nüchternen Wahrnehmung dessen, was sich da vor 1933 und dann 1933 in Deutschland vollzog bzw. hätte vollziehen müssen, waren die erhabenen Phantasien von einem „lnneren Reich“ bei Stefan George, die rückwärtsgewandten Reichs-Phantasien einer spirituell-kulturellen Variante der konservativen Revolution bei Rudolf Borchardt sowie das Benn’sche Artistenevangelium eines Reiches vollendeter künstlerischer Formen, die fast sakrale „Ausdruckswelt“, die über den Niederungen der Geschichte schwebe. Diese Benn’sche Normenwelt gehört in gewissem Sinn auch zu diesen unpolitischen Reichs-Phantasien als einem Zentrum für Sinngebung, entwickelt vor allem ab 1935, nachdem Benn ähnlich wie Ernst Jünger sich von der proletig-barbarischen Realisation des Neuen Reiches unter den Nazis schaudernd abwenden musste.
II.
Die Intensität des Schreckens über die Sinnleere, die vor allem in bürgerlichen Schichten und übrigens nicht zuletzt auch in den Geisteswissenschaften herrschte, können wir uns kaum groß genug vorstellen; die Desorientierung produzierte einen Hohlraum und eine Anfälligkeit für Sinnversprechungen, in welche der Nationalsozialismus einströmen konnte, mit wieviel Beimengungen von Missverständnissen auch immer, die bald nach 1933 viele erkennen mussten. Die Vieldeutigkeit des Begriffs „Reich“, das man spirituell wie politisch, kulturell wie räumlich verstehen konnte, gehört zu den Fatalitäten jener Jahre; ein „Reich“ wurde ersehnt mit einer Bereitschaft zu „Idealismus“, zu Opfer und Hintanstellung des Persönlichen – und genau diese unkritische Sehnsucht war ausbeutbar, denn in den Hohlraum eines undeutlich umrissenen „Neuen Reiches“ konnte Stefan George treten, es konnte aber auch ein anderer „Führer“ den Hohlraum füllen.
Von einer ähnlichen Erneuerungsphantasie ist übrigens auch Martin Heideggers berüchtigte Rektoratsrede erfüllt; es ist der Traum von einer Rückbindung der Universität an das Leben der Nation bzw. des Volkes, der Versuch, die Entfernung und Ausgliederung von Tätigkeitsbereichen innerhalb eines modernen Gemeinwesens rückgängig zu machen. Liest man die Rede unter diesem Aspekt einer Ermahnung, die Universität und die Studentenschaft mögen über das Wesen der Universität, der Wissenschaft und der Erkenntnis überhaupt nachdenken, muss sie keineswegs nur Entsetzen hervorrufen, sondern gehört in eine historische Theorie des akademischen Studiums in Deutschland. Sie bindet dann allerdings die Universität auf eine so kurzatmige und kurzschlüssige Weise an die Volksgemeinschaft, dass sie die geforderte „Selbstbehauptung der deutschen Universität“8 selbst wieder drangibt. Zu einem Zeitpunkt, da der höchste Ehrgeiz der Bildungspolitiker offenbar darin besteht, eine möglichst große Anzahl von Abiturienten, koste es, was es wolle, durch ein sechssemestriges Studium mit BA-Abschluss zu peitschen und dies dann als berufsqualifizierendes akademisches Studium zu bezeichnen, ist es fast schon wieder lehrreich, sich in die Heideggersche Rektoratsrede zu versenken. Was einen an dieser stören muss, ist – neben dem besonders hässlichen Professorendeutsch von Martin Heidegger – die sprachliche und wohl mehr als nur sprachliche Tendenz zum Aggressiven und Superlativischen, zum verklemmt Militaristischen, der Tenor einer leeren, bösen Radikalität; martialisch und Gewalt akzeptierend und sie indirekt befürwortend ist da die Rede von der „Kampfgemeinschaft der Lehrer und Schüler“, von der „eigentlichen“ Wahrheit, von „Sendung“ und „Richtung“, mehrfach vom „Kämpferischen“, von der „größten Strenge“, der „Härte“, der „äußersten Not“, davon, dass dies und jenes „unbedingt notwendig“ sei, vor allem eine „Bereitschaft bis zum Äußersten“, denn es bestehe da die „Unerbittlichkeit des geistigen Auftrags“, welche „ständigste und härteste Selbstbesinnung“ erfordere; ja, es sei eben „das ganze studentische Dasein als Wehrdienst“9 aufzufassen. Überhaupt ist „die deutsche Studentenschaft auf dem Marsch. Und wen sie sucht, das sind jene Führer, durch die sie ihre eigene Bestimmung zur gegründeten, wissenden Wahrheit erheben und in die Klarheit des deutend-wirkenden Wortes und Werkes stellen will.“10 Das binnenreimt und stabt, dass es nur so seine Art hat, und es ist insgesamt kein Wunder, dass Heideggers Schüler Karl Löwith nach der Lektüre der Rektoratsrede spottete, man wisse hinterher nicht so recht, ob man nun die Vorsokratiker lesen oder in die SA eintreten solle.
George ebenso wie Benn und Heidegger scheinen 1933 noch die Illusion gehegt zu haben, dass man noch leicht korrigierend, zähmend, gewissermaßen ,sittigend‘ auf den Nationalsozialismus würde einwirken können, wobei im Falle von Benn und Heidegger dies ungut mit der Hoffnung oder dem Ehrgeiz verknüpft gewesen scheint, innerhalb von Nazi-Institutionen bzw. der Dichterakademie Karriere zu machen. George hielt sich da noch am vornehmsten zurück; als im Mai 1933 das nationalsozialistische Kultusministerium vorfühlte, ob er bereit sei, einen Ehrenposten in der Deutschen Dichterakademie anzunehmen, lehnte er dies mit den Worten ab:
„die ahnherrschaft der neuen nationalen bewegung leugne ich durchaus nicht ab und schiebe auch meine geistige mitwirkung nicht beiseite. was ich dafür tun konnte habe ich getan. die jugend die sich heut um mich schart ist mit mir gleicher meinung … das märchen vom abseitsstehn hat mich das ganze leben begleitet – es gilt nur fürs unbewaffnete auge. die gesetze des geistigen und des politischen sind gewiß sehr verschieden – wo sie sich treffen und wo geist herabsteigt zum allgemeinblut das ist ein äusserst verwickelter Vorgang.“11
Das darf man wohl eine vornehm gewundene Erklärung nennen, aus der aber deutlich wird, dass er selbst anerkannte, für die Vorbereitung jener Geistesverfassung, die den Nazismus möglich machte, durchaus etwas getan zu haben, dass er aber zugleich spürte, dass die politischen Verwirklichungsformen des Geistigen vielleicht doch sehr prekär und auch schon im Mai 1933 als prekär erkennbar waren. Bei Gottfried Benn dauerte die Täuschung, mit Argumenten und mit historischem Wissen die Bewertung auf ein anderes Niveau heben und zum Beispiel billige Angriffe auf den Expressionismus als literarische Bewegung gewissermaßen ‚aufklärend‘ abbiegen zu können, wesentlich länger, und peinlich sind gerade bei ihm auch Äquivokationen wie die, „Form“ als ein künstlerisches Positivum, ja als einen höchsten ästhetischen, der disziplinierten geistigen Tätigkeit entstammenden Wert plötzlich einer anderen, ebenfalls disziplinierten „Form“, nämlich dem Marschtritt der braunen Bataillone gleichzusetzen.12 „Form“ und „Zucht“ werden barsch so gebraucht, dass sich sowohl militärische Disziplin und Selbstdisziplin wie auch künstlerisches Form-Ethos und strenge künstlerische Arbeit bzw. ihr Resultat darunter vorstellen lassen – mindestens drei von Gottfried Benns Arbeiten von 1933 argumentieren so, nämlich „Geist und Seele künftiger Geschlechter“, „Zucht und Zukunft“ und die „Rede auf Stefan George“ von Ende 1933. Aber sowohl George wie auch Benn und Heidegger – und, muss man hinzuzufügen, viele andere, bis hin zu Theodor W. Adorno – haben 1933 den eiskalten, barbarischen und vulgären Machtwillen der Nazis verkannt und unterschätzt, glaubten an die Beeinflussbarkeit und eine allmähliche Mäßigung dieser Bewegung oder meinten, einmal an der Regierung würden die Nationalsozialisten sich in einigen Monaten so blamieren, dass sie die Regierungsgewalt wieder verlören; Martin Heidegger selbst hat zu Protokoll gegeben, es habe ihn 1933 auch der Wunsch, die Bewegung zu „läutern“ und zu „mäßigen“, bei seinen beiden Reden und bei einigen Aktionen getrieben. Wieviel Heidegger am Nationalsozialismus wirklich über die Jahre erkannt und eingesehen hat, ist bis heute nicht deutlich erkennbar; bei Gottfried Renn aber, der sich 1933/34 besonders weit vorgewagt hatte und über dessen pronazistische Essays und Offene Briefe und Reden schon Karl Kraus in der „Dritten Walpurgisnacht“ spottete: „Eine solidere geistige Basis und eine schmuckere feuilletonistische Form für das, was die Männer der Tat einstweilen verrichten, wird sich kaum auftreiben lassen“,13 ist die Beflissenheit, den Nazi-Kulturfunktionären ein Stück weit entgegenzukommen, besonders peinlich; da faselt er von dem „Maß an Interesse, das die Führung des neuen Deutschlands den Fragen der Kunst entgegenbringt“,14 kanzelt Klaus Mann in dem „Brief an die literarischen Emigranten“ auf eine Weise ab, die noch heute beschämend zu lesen ist, und erst spät erkennt er an den neuen Herrschern „die Fresse von Cäsaren und das Gehirn von Troglodyten“,15 nennt die Deutschen in einem Gedicht fast mitleidig als „Den Darm mit Rotz genährt, das Hirn mit Lügen, / Erwählte Völker Narren eines Clowns …“16 und muss in einer Revokation des Briefes an Klaus Mann gestehen, dass dieser junge Autor „klug und weitsichtig“ war: „dieser 27-jährige hatte die Situation richtiger beurteilt, die Entwicklung der Dinge genau vorausgesehen, er war klarerdenkend als ich.“17 Benn bietet 1933/1934 das Bild eines Mannes mit einem totalen moralischen Zusammenbruch, mit einer geradezu krankhaften Störung seiner intellektuellen Orientierungsfähigkeit und einer völlig ausgefallenen Realitätswahrnehmung, was weit über das bekannte Phänomen hinausgeht, dass Paul Valéry und Sigmund Freud, Rudolf Borchardt und Max Rychner von dem Autokrator Benito Mussolini mit Respekt oder gar Begeisterung sprachen, ihm Bücher widmeten oder ihn aufsuchen. Auch wenn man gegenüber der bis heute fortwirkenden Thomas Mann-Idolatrie Vorbehalte der verschiedensten Art anmelden muss – es bleibt festzuhalten, dass der Verfasser des bedeutenden kulturkonservativen Manifests „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von 1918 in den zwanziger Jahren politisch schon einen klaren Kopf behielt, also imstande war, seine Position nicht nur in der Rede „Von deutscher Republik“ 1922 zu revidieren, sondern dem deutschen bürgerlichen Publikum in einer Rede von 1930 den Rat geben konnte, die Sozialdemokratie als Verbündeten zur Abwehr des Nationalsozialismus zu akzeptieren, und aus der Zeit nach 1933 gehören Thomas Manns Brief an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn von 1937 sowie der scharfsinnige Essay „Bruder Hitler“ von 1938 zu den bedeutendsten Zeugnissen dafür, dass hier einer von der konservativen Seite Fähigkeit und Mut aufbrachte, das Wesen des Dritten Reiches, die erbärmliche Rolle vieler deutscher Professoren und das Wesen des „Führers“ vernichtend zu kennzeichnen. Insgesamt übrigens war die intellektuelle Rechte in den dreißiger Jahren weniger scharfsichtig, was Hitler anging, und wesentlich kompromissbereiter als die Linke, von Heinrich Mann bis Bert Brecht, Ernst Bloch und Lion Feuchtwagner18 – die allerdings auch schon wussten, dass sie auf den Fahndungslisten der Nazis standen – und die dann allerdings ihr intellektuell-politisches Versagen wenige Jahre später angesichts Stalins und des Stalinismus erlebten, den etwa Heinrich Mann noch in seinem Erinnerungsbuch „Ein Zeitalter wird besichtigt“, das in den vierziger Jahren entstand und erstmals 1946 in Stockholm publiziert wurde,19 so enkomiastisch beschreibt, dass es eine wahre Schande ist, die jener des Sich-Andienens Gottfried Benns an die Nazis im Jahr 1933 fast gleichkommt.
III.
Der rasche politische und moralische Kollaps Deutschlands in jenem Jahr 1933, in dem es den Nationalsozialisten gelang, blitzschnell ihre Macht zu etablieren, ohne auf größeren Widerstand zu stoßen, leitet sich aus Versäumnissen der Vergangenheit her und nur zum Teil aus den sich verschlechternden ökonomischen Bedingungen Ende der zwanziger Jahre. Eine Fatalität ersten Ranges bestand darin, dass Deutschland nicht akzeptierte, den Ersten Weltkrieg verloren zu haben; eine Einsicht darein hätte die Aufgabe von Weltmachtambitionen nach sich ziehen müssen, was übrigens die Regierungen der Weimarer Republik viel eher einsahen als die Masse der Bevölkerung, es fehlte aber die notwendige Ernüchterung nach der Hybris. Es erfolgte eine Flucht ins Ressentiment, auf dem dann die Nazis spielen konnten; ganz unähnlich der Entwicklung in England entstand in Deutschland auch nicht aus dem Entsetzen über den Krieg eine breite pazifistische Bewegung. Zweitens erlaubte die fortdauernde politische Mentalität der Deutschen keine stabile Etablierung demokratisch-liberalen Denkens; der untergründige Monarchismus, das Denken in Hierarchien, die Autoritätsgläubigkeit hatten das Kriegsende von 1918 überlebt – kein Wunder, dass dann in einer größeren Krise die Leerstelle an der Spitze mit Figuren wie Hindenburg und dann mit Adolf Hitler, einer – in vieler Hinsicht – Karikatur und Billigausgabe von Wilhelm II. besetzt wurde, weil man das Heil von oben und in einer Person erwartete. Drittens war da die ungelöste sog. „soziale Frage“, die misslungene Heranführung der Arbeiterschaft an den parlamentarisch-demokratischen Staat, in dem aber in vieler Hinsicht nicht nur die Mentalität des Wilhelminismus (und nicht nur in verdeckten Wunschphantasien) fortlebte, sondern auch der antidemokratische fatale Einfluss des Adels und ostelbischen Junkertums. Viertens hatte es nur für eine kurze Zeit eine Chance für die Etablierung einer Demokratie gegeben, nämlich in der Zeit der wirtschaftlichen Erholung zwischen 1924 und 1929, als die Einführung der Demokratie nach westlichem Muster gekoppelt war an beginnende wirtschaftliche Prosperität; diese Koppelung ist ja eines der Erfolgsgeheimnisse der deutschen Demokratie nach 1949. Als die vielversprechende Verbindung von ökonomischer Erholung und neuem staatlichem System ab 1929 nicht mehr gelang, nahm das antidemokratische Ressentiment wieder überhand. Und schließlich nahm nach Beobachtung vieler Autoren seit dem Ersten Weltkrieg eine diffuse Gewaltbereitschaft in der gesamten Gesellschaft in Deutschland zu. Es ist dies eine Beobachtung, die ich nicht systematisch und mit statistischem Material belegen kann, doch jeder, der Lebenserinnerungen aus den zehner, zwanziger und dreißiger Jahren liest, von den Erinnerungen von Thea Sternheim bis zur Autobiographie und den Tagebüchern von Viktor Klemperer, kennt die unzähligen Zeugnisse von einer Gewaltbereitschaft und weitverbreiteten Neigung zu kleinlichen Quälereien und Gehässigkeiten – die wiederum sozialpsychologisch mit der Bereitschaft zusammenhängen, ohne viel Wenn und Aber Gewalt und auch den Mord als politisches Mittel zu billigen –, was einerseits auf eine verbreitete Haltlosigkeit und moralische Unsicherheit deutet und andererseits auf eine latente oder offene Bürgerkriegssituation, in der dann auch in den dreißiger Jahren jene Gewaltbereitschaft und aggressive Gemeinheit bereitlagen, von denen etwa Viktor Klemperer in seinen Tagebüchern aus der Kriegszeit in Dresden berichtet und von der wir auch erschreckende Zeugnisse in Doron Rabinovicis historischer Darstellung der nationalsozialistischen Politik und Praxis der Vertreibung der Juden aus Wien20 finden: Die Bereitschaft, so zu handeln, wurde schon weit vor 1933 in der deutschen und auch in der österreichischen Bevölkerung angelegt, und ein Teil der entsetztesten Äußerungen über das neue Deutschland von 1933 und danach verdanken sich der Wahrnehmung, dass jene ungehobelten, unzivilisierten und oft genug totschlägerischen Handlungsweisen, die man seit Jahren in Deutschland wahrnehmen konnte, nun nicht mehr als Entgleisungen passierten, sondern staatlicherseits erwünscht waren, gebündelt und benutzt wurden, ja den Kern eines neuen Staatsverständnisses bildeten. Was wir heute als die Kultur der Weimarer Republik in Deutschland und bis in die Lehrpläne jener ausländischen Universitätsinstitute hinein, die noch Germanistik lehren, feiern, war eine Sache von 300 000 Leuten in ganz Deutschland, von denen ein großer Teil in Berlin saß und von denen ein großer Teil jüdisch war.
Der orientierungslose konservative Idealismus, mit dem bei manchen Autoren zunächst der nationalsozialistischen Regierung, von der man sich eine Beendigung der bürgerkriegsähnlichen Zustände in Deutschland erwartete, zugestimmt wurde, wich, wie gesagt, oft erst nach und nach der Ernüchterung; die Hoffnung auf einen Erfolg der nationalen Bewegung konnte sogar so weit führen, dass Juden das Opfer eigener Interessen zu bringen anboten, falls es Diskriminierungen von Juden durch die neuen NS-Gesetze geben werde, da die Interessen der Nation natürlich über den persönlichen Interessen stehen müssten. Bevor man den Vorwurf eines geradezu masochistischen Zurückstehens einem Menschen gegenüber erhebt, der doch als deutscher Bürger auf seine Bürgerrechte würde pochen können, ja darauf gar nicht verzichten darf, muss man als psychologisch-politischen Mechanismus wahrnehmen, dass die Orientierungslosigkeit und die Verzweiflung über das richtungslose Dahintreiben der deutschen Nation, wie sie von vielen Bürgerlichen bis 1933 wahrgenommen wurden, so groß waren, dass offenbar auch Willkürmaßnahmen hingenommen wurden, wenn sie nur als Teil eines Gesundungsprozesses Deutschland würden interpretiert werden können.
Das atemberaubende Beispiel für ein solches deutsch nationales bzw. kulturnationalistisches Sich-klein-Machen im Jahr 1933 ist das des Dichters Rudolf Borchardt. Ihm war nicht möglich, wie Gottfried Benn als Arzt in den Medizinischen Dienst des Heeres auszuweichen, als ihm die Fortführung seiner Praxis in Berlin nicht mehr möglich schien, und die Armee als die „aristokratische Form der Emigration“21 zu bezeichnen – was seinerseits eine gedankliche Verdrehtheit ganz eigener Art darstellt –, und nach seiner politischen Einstellung konnte Benn auch nicht die Emigration nach Paris und dann dort den Austritt aus dem Kunst- und Theoriebetrieb der französischen Hauptstadt wählen, um 1936 der anarchistischen Kampfgruppe Kolonne Durruti im Kampf gegen den Faschismus beizutreten, wie dies sein Freund Carl Einstein tat, der als Linker konsequent die Kunst zugunsten des aktiven militärischen Kampfes aufgab. Der Kulturnationalist Borchardt verwahrte sich, als ihm Werner Kraft, zum 7. April 1933 aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des deutschen Berufsbeamtentums als Jude vom Hannoverschen Bibliotheksdienst suspendiert, vorhielt, wie er, Borchardt, sich in Rom weiter zu deutschen kulturellen Repräsentationsaufgaben hergebe, obwohl er doch als Jude selbst schon beginne, unter der Diskriminierung der Juden zu leiden, in einem barschen Schreiben an Kraft gegen dessen Vorhaltungen: Er, Borchardt, stamme aus einer schon vor hundert Jahren vom Judentum zum Protestantismus konvertierten Königsberger Familie, so dass er – dies die Implikation – gar kein Jude mehr sei, was aber, wenn die Nazis ihn fälschlicherweise dennoch als solchen rubrizieren, nur als die Tat von „überreizten Leuten“ in „verworrenen Zeiten“ gelten könne. Seine Beurteilung der nationalsozialistischen Bewegung aber werde er nicht von seinem „persönlichen Vorteil oder Nachteil abhängig (machen), sondern ausschließlich von meinem Gewissen, und ihre Bekundung ausschließlich von meinen Pflichten gegen mein Vaterland.“22 Es dauerte zwei Jahre, bis Rudolf Borchardt, ohnehin seit Jahrzehnten, nicht aus politischen Gründen, in der Toskana lebend, in vollem Umfang des Ungeistes gewahr wurde, der in Deutschland 1933 an die Macht gekommen war; dann entstanden die Zeitgedichte, die Zorn- und Schmähgedichte nach dem – sehr frei gehandhabten – Vorbild der Archilochischen und Horazischen ,,Wilden Jamben“, welche erst 1967 publiziert wurden,23 Gedichte ungeheurer Sprachmacht und zugleich Sprachnot, da dem Nationalsozialismus als neuer deutscher Realität nur noch ein bis ins Fäkalische reichendes Zornespathos entsprach, das aber die Dichtung zu sprengen drohte. Als Zeuge der Kriegsgräuel, welche die deutsche Besatzung in Italien anrichtete und auf der beginnenden Einsicht. in die nicht mehr zu heilende Zäsur, welche die Naziherrschaft in der Kontinuität der Geschichte der deutschen Nation unterlassen würde, schrieb Rudolf Borchardt dann 1943 den Text, dessen Titel lapidar seine Diagnose zur Geschichte Deutschlands enthält: „Der Untergang der deutschen Nation“.24
IV.
Es gehört wohl zu den Lebenserfahrungen vieler, welche die neue, endlich an westliche Gesellschafts- und Demokratieverständnis orientierte politische Zivilisation der alten Bundesrepublik sehr wohl erleichternd registrierten und sehr zu schätzen wissen, dass unsere nationale Existenz in diesen ganzen letzten 55 Jahren überschattet blieb von den Verbrechen des Dritten Reiches, von denen man sich manchmal fragt, wie so viel an Mord und Barbarei überhaupt in den wenigen Jahren von 1933 bis 1945 unterzubringen war. Und zu den Erfahrungen, die man notieren muss, wenn man als 1938 Geborener allmählich mehr zurück als vorwärts blickt, gehört, dass das Entsetzen über die Geschehnisse in den 12 Jahren der Naziherrschaft in Deutschland keineswegs verblasst, sondern eher stärker wird. Vieles an Geschehnissen und Verhalten kann man psychologisch rekonstruieren, auch bezüglich der – gewissermaßen unzureichenden – Reaktion der deutschen Intellektuellen und Künstler im Jahre 1933 und danach, doch es bleibt genügend an völlig Rätselhaftem. Was ging zum Beispiel in Heidegger vor, als die Universität Freiburg im Breisgau Edmund Husserl und Else Blochmann aus der Universität ausschloss und in die Emigration zwang, zwei Kollegen, die ihm sehr nahe standen; in keinem seiner Briefe an die Pädagogin Blochmann, die nach England emigrierte, hat er je ein Wort des Bedauerns geschrieben. Und was ging in Gottfried Benn vor, als er sich 1933 auf die Seite des neuen Staates schlug, während seine Kollegen, bis hin zu jenem Heinrich Mann, zu dessen 60. Geburtstag er gerade, 1932, eine große Preisrede gehalten hatte, schon unter Lebensgefahr fliehen mussten bzw. nicht mehr nach Deutschland zurückkehren durften wie seine frühere Geliebte Else Lasker-Schüler, die er doch die größte Dichterin deutscher Sprache seit der Droste genannt hatte? Und was ging vor in den Kollegen der Philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt am Main, als sie sich im Mai 1933 zur ersten Fakultätskonferenz des Sommersemesters versammelten und ein Drittel der Kollegen fehlten, weil sie unter das oben angeführte „Gesetz zur Wiederherstellung des deutschen Berufsbeamtentums“ fielen? Dass die Sitzung nicht sofort beendet wurde, sagt auf seine Art alles über Geist und Ungeist des Jahres 1933 und das Deutschland der Jahre um 1933.
Anmerkungen
1 Die Fackel, Nr. 876-884, S. 17 f.
2 Bertolt Brecht: Tagebücher 1920-1922. Autobiografische Aufzeichnungen 1920-1954. Hrsg. von Herta Ramthun. Franfurt / M. Suhrkamp 1975.
3 Walter Serner: Letzte Lockerung. manifest dada. Reihe ,Die Silbergäule‘ Nr. 62/64. Hannover: Steegemann, 1920.
4 Walter Serner: Handbrevier für Hochstapler und solche die es werden wollen. In: W. S.: Werke. Bd. 7. Hannover: Steegemann 1927. Neudruck: Berlin: Gerhardt 1964.
5 Manfred Frank: Tübinger Antrittsvorlesung. In: Frankfurter Rundschau. 5. März 1988.
6 Gottfried Benn: Rede auf Stefan George:. In: G.B., Sämtliche Werke. Band IV / Prosa 2. Hrsg. von Gerhard Schuster. Stuttgart: Klett-Cotta 1989, S. 100-112, hier S. 105.
7 Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. In: /M.H., Gesamtausgabe. 1. Abteilung, Band 16: Reden und andere Zeugnisse eines Lebenswegs 1910-1976. Frankfurt/ M.: Vittorio Klostermann 2000, S. 107-117, hier S. 117.
8 Titel der Rektoratsrede vom 27. Mai 1933,
9 Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung, S. 113.
10 Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung, S. 112.
11 Zitiert nach Stefan Breuer; Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988, S. 233.
12 Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Bd. IV/Prosa 2, S. 59-112.
13 Karl Kraus: Dritte Walpurgisnacht. In: K. K., Schriften, Band 12. Hrsg. von Christian Wagenknecht. Frankfurt/Main; suhrkamp taschenbuch verlag 1989, S. 79 (= st 1322).
14 Gottfried Benn; Expressionismus. In: G.B., Sämtliche Werke. Band IV/Prosa 2, S. 76-92, hier S. 76.
15 G. H., Brief an F.W. Oelze vom 24. November 1934.
16 G. B: Monolog. In: G.B., Gedichte. In der Fassung der Erstdrucke. Hrsg. von Bruno Hillebrand. Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 295-297, hier S. 295.
17 Doppelleben. In: G.B.: Sämtliche Werke. Band V/Prosa 3, S. 83-176, hier S. 87.
18 Vgl. Lion Feuchtwagner: Moskau 1937. Fin Reisebericht für meine Freunde. Nachdruck Bahn 1993 (= AtV Aufbau Taschenbücher Nr. 158.).
19 Heinrich Mann: Fin Zeitalter wird besichtigt. Frankfurt /M: Fischer Taschenbuch Verlag 2003 (= Fischer-Taschenbuch 50617).
20 Doron Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938- 1945. Der Weg zum Judenrat. Frankfurt: Jüdischer Verlag 2000.
21 Doppelleben (wie Anm. 17), S. 106.
22 Rudolf Borchardt: Brief an Werner Kraft vom 13. April 1933, in: Rudolf Borchardt: Briefe 1931-1935. München: 1996, S. 239-241, hier S. 240.
23 Rudolf Borchardt: Jamben. Hrsg. von Marie Luise Borchardt. Stuttgart: Ernst Klett 1967.
24 Rudolf Borchardt: Der Untergang der deutschen Nation. In: R.B.: Prosa V. Stuttgart: Klett-Cotta 1979. S. 503-526.
Jörg Drews: Geist und Ungeist in Deutschland um 1933. In: Die Anfänge der Braunen Barbarei. Hg. von der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. München 2004, S. 187-197.