Jörg Drews: Nachwort zu „Goethe et un de ses admirateurs“
Arno Schmidts Erzählung Goethe und Einer seiner Bewunderer beginnt als freche Herausforderung und endet mit einer versöhnlichen Wendung, die ihrerseits konterkariert mit einer Satire auf Dichterkollegen und Journalisten. Daß dieses außerordentlich rasche und launige Prosastück eine der witzigsten und beweglichsten Erzählungen Arno Schmidts ist, hängt wohl eben damit zusammen, daß Schmidt hier gar keine fiktionale Figur vorschiebt, sondern als Arno Schmidt und pro domo spricht, angetrieben von einem Ressentiment, das tief geht und zugleich im Begriff ist, sich aufzulösen und sich in etwas ganz anderes zu verwandeln, nämlich so etwas wie ironische Wertschätzung.
Die Haltung, die Schmidt in seiner Erzählung Goethe gegenüber einnimmt – halb ressentimentgeladene Aufsässigkeit, halb Verehrungsbereitschaft – , hat ihre Vorgeschichte und ihre Bedingungen in jenen Jahren, da Schmidt Goethe auftreten läßt, in der zweiten Hälfte des Jahres 1956. Soweit wir wissen, war Arno Schmidt in den dreißiger Jahren ein verehrungsvoller Leser Goethes, und noch die fiktiven Briefe an seinen Schwager, den im Krieg gefallenen Werner Murawski, sprechen von begeisterter Goethe-Lektüre in der Vergangenheit. Mit der Verschärfung von Schmidts Kritik an der deutschen Gesellschaft und der Herausbildung seiner verschärften sprachlichen Ausdrucksfähigkeit, der er nach 1945 keine Zügel mehr anlegen muß, geht aber eine wachsende Kritik an der Existenz und dem Werk Goethes einher. Diese Briefe an Werner Murawski, Teil eines Buchprojekts mit dem Titel Die Wundertüte, wurden zwar erst aus dem Nachlaß veröffentlicht, sind aber 1948 geschrieben und zeigen, wie das Erlebnis von Krieg und Nachkriegszeit Schmidt so geprägt hatten, daß er einer privilegierten Existenz wie der Goethes, eines Großbürgersohns ohne die Erfahrung von Armut und Krieg, nur noch voller Ressentiment gegenübertreten konnte. Goethe der Mensch wird in den Anklagestand versetzt; die Anklage lautet aber nicht nur auf den Egoismus des schon bei Geburt Wohlhabenden und also eine unsoziale Existenz, die sich nicht um die sozialen Realitäten seiner Zeit kümmerte, sondern auch darauf, sich beim Adel eingeschmeichelt und trotz rebellischer Jugend als „nobilitierter Teppichwälzer“, als geadelter Aufsteiger geendet zu sein, der behäbig lebte. Und was – sowohl in den übrigens sehr kenntnisreich argumentierenden Briefen an Werner Murawski wie auch in einer kurzen wilden Attacke innerhalb des Romans Aus dem Leben eines Fauns von 1953 – Schmidt fast noch wichtiger scheint, ist das künstlerische, vor allem das prosakünstlerische Versagen Goethes in den Jahren, die gemeinhin als die der „deutschen Klassik“, also ab 1786 und später, gelten; dieser Ausfall gegen den Erzähler bzw. Prosaschreiber Goethe ist zum Teil schon vorformuliert in den Murawski-Briefen und wird, zum Teil mit wörtlichen Übereinstimmungen, zum Teil auch wieder leicht variiert im Dialog Schmidts mit dem kurzfristig von den Toten erweckten Goethe vorgetragen. Goethe wird dem bis heute (und in den fünfziger Jahren erst recht) viel weniger gelesenen Christoph Martin Wieland gegenübergestellt und dieser ob seiner Prosakünste gepriesen, während der klassische Roman Goethes, der kanonische Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre und der Altersroman Wilhelm Meisters Wanderjahre abgekanzelt werden ebenso wie Die Wahlverwandtschaften. Abgesehen davon, daß Schmidt mit seinen Invektiven gegen die Wilhelm Meister-Romane vielen Deutschen, die diese Bücher als Zwangslektüre empfanden und immer schon empfunden hatten, wahrscheinlich aus dem Herzen sprach, steckt doch in solcher Attacke eine starke Provokation, die verstärkt wurde durch den (sozusagen) negativ enthusiastischen, so leidenschaftlichen wie etwas vulgären Ton von Schmidts Schelte.
Damit kommen wir zu der zeitgenössischen Umgebung, in der diese öffentlich bekundete Abneigung Schmidts gegen Goethe zu sehen ist. Denn erstens war Goethe natürlich schon immer eine Aufgabe, eine nicht immer gern getragene Last für deutsche Leser, das Interesse für sein Werk und seine Person eine unbehagliche Bildungsverpflichtung. In dem Moment, da Schmidt sich um 1950 entschieden hatte, eher für bisher zu wenig berühmte und gelesene Deutsche Autoren öffentlich einzutreten – für Wieland also, für Karl Philipp Moritz, auch für Herder und Tieck, für den Lyriker Barthold Heinrich Brockes oder Leopold Schefer – , fühlte er sich der Aufgabe überhoben, einem Dichter gegenüber Gerechtigkeit walten zu lassen, der ja ohnehin schon arriviert, ja geradezu überarriviert schien und dessen gelassene, gesicherte Existenz Schmidt natürlich Anathema sein mußte. Goethe war seit dem späten 19. Jahrhundert in Deutschland eher der Gegenstand von Hagiographien als von nüchternen Biographien, und diese Tendenz zu salbungsvoller und fragloser Goethe-Idolisierung verstärkte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in (West-) Deutschland noch einmal. Goethe war zwar glücklicherweise ungeeignet gewesen, von den Nazis vereinnahmt zu werden; außer aufgeblasener Rhetorik gibt es keinen nazistischen Goethe-Kult, da Goethe nicht auf einen Nenner zu bringen und vor allem ganz offenbar auch kein national zuverlässiger Kantonist war, sondern ein Napoleon-Verehrer und Kosmopolit. Nun aber gab es eine neue Art Goethe-Kult in den Nachkriegsjahren, indem der ideologisch Unverdächtige etwa ab 1946 zum erneut zu verehrenden Inbegriff deutschen Humanismus gemacht wurde, zum Vertreter der unzerstörbaren deutschen klassischen Bildungswerte in dürftiger Zeit. Jubiläen boten genügend Gelegenheit , die neue Kultur zu inszenieren: 1949 wurde in West- wie in Ostdeutschland der 200. Geburtstag Goethes gefeiert und dabei eine Art Goethe-Frömmigkeit zelebriert, die Schmidt, dem Ernüchterten, der nichts an Verklärung mehr durchgehen lassen wollte, zuwider sein mußte. In diesem Zusammenhang, vor diesem Hintergrund muß man wohl sowohl die Briefe an Werner Murawski wie auch die Attacken gegen Goethe im Faun sehen: Schmidt war nun selbst ein nüchterner, ein rabiater, realitätszugewandter Prosaschriftsteller geworden, der die „Nessel Wirklichkeit“ auch unter Schmerzen anfassen und keine feinsinnigen Abschweifungen und Verklärungen mehr dulden wollte. Also legte er los: „(L‘exemple inverse: chez Goethe, la prose n‘est pas une forme artistique, mais un fourre-tout. Sauf dans Werther. Et dans Poésie et Verité où, à vrai dire, le problème de la création d‘une forme ne se pose pas – : Ce ne sont qu‘ébauches d‘intrigues décousues artificiellement accolées, nouvelles laborieusement rattachées au fil de l‘action principale, recueils d‘aphorismes: de sententieuses platitudes – immanquablement placées dans la bouche des personnages les moins aptes à les preférer: Que l‘on songe à toutes les ´maximes´ pédantes et pleine d‘une profonde expérience de la vie qu`il fait écrire Ottilie, dans son Journal intime. L‘exemple le plus caractéristique reste encore son Wilhelm Meister, surtout les Années de voyage: ce qu‘il s‘y permet comme transitions est souvant tellement primitif que n´importe quel élève de première qui se respecte un tant soit peu en rougirait! Une insolente désinvolture dans la forme. Je me fais fort d‘en fournir autant de preuves qu‘on voudra. (Si, du moins je n‘estimais pas devoir consacrer mes forces á des tâches plus sérieuses: Goethe, tiens-t‘en à ta poésie lyrique. Et à ton théâtre!). – “
Gerade bei der Lyrik Goethes kann sich der Erzähler Schmidt innerhalb der Goethe-Erzählung seiner Begeisterung und seiner Tränen nicht erwehren und muß dafür sogar sich selbst verspotten, doch wenn Schmidt gerade die Lyrik des jungen Goethe, die Hymnen aus der Sturm-und-Drang-Epoche wie „Schwager Kronos“ und „Prometeus“ preist (an anderer Stelle auch das shakespearisierende Drama Götz von Berlichingen, den Urfaust und auch den Werther), dann lobt er natürlich den ihm entsprechenden rebellischen, formal kühnen, sprachschöpferischen und affektgetriebenen jungen Goethe und nicht den klassisch Beruhigten, jenen Dichter, der ab 1771 eine neue Epoche der Literatur in Deutschland eröffnete. Der war es, von dem Ludwig Tieck einer Anekdote zufolge sagte, er sei der größte deutsche Dichter gewesen – ehe er Frankfurt verließ; das heißt also im November 1775, als Goethe sich in den Weimarer Fürstendienst begab und den Schmidt so verhaßten Weg in die Klassik antrat. Schmidt versäumt – natürlich nicht, diese Anekdote zu expropriieren und sie nicht nur zu zitieren, sondern die Urheberschaft sich selbst zuzuschreiben. Goethes Dramen sind Schmidt übrigens herzlich egal gewesen; er hatte keinen Sinn fürs Theater, aber er hatte größte Bewunderung für Goethes Faust, sowohl Teil I wie Teil II, und quer durch sein Werk zieht sich eine dichte Kette von Zitaten aus dem Faust, bis hinein in sein letztes vollendetes Buch, den Roman Abend mit Goldrand. Darin gibt es eine Passage von drei Seiten, drei jener typischen großformatigen Seiten seiner letzten vier Bücher, und auf diesen Seiten 206 bis 208 findet eine ätherische und elfenhafte Reise zweier Menschen statt hinauf zu einer silbern bestrahlten Wolke, die bewohnt und belebt ist, und siehe: diese Wolkenfahrt ist gespickt mit Bildern und Formulierungen aus dem 4. Akt von Goethes Faust II, Verse 10035 ff.! Was nicht zuletzt heißt, daß Schmidt seinen Frieden mit Goethe gemacht hatte. Der galt ihm zwar noch immer als einer, der inhumanerweise in seiner Dichtung die Ästhetisierung des Grauens betrieben und zum Beispiel Flüchtlingselend in seiner Dichtung Herrmann und Dorothea in Hexametern beschrieben hatte, aber das galt offenbar nun nichts mehr dagegen, daß eben dieser Goethe hinreißende lyrische Bild- und Wortfälle vor allem in den Szenen der Klassischen Walpurgisnacht gefunden hatte, die zu bewundern, zu beerben und verschämt enthusiastisch zu feiern waren.
Goethe et Un des ses admirateurs muß man Seite an Seite sehen mit der fast zur gleichen Zeit entstandenen Erzählung Tina ou de l’immortalité, die Claude Riehl 2000 übersetzt hat und deren Druck er 2001 für die französischen Leser eine ausgezeichnete, 80 Seiten starke Einleitung in Werk und Leben Arno Schmidts unter dem Titel Arno à tombeau ouvert beigegeben hat. In dieser steigt ein Erzähler namens Arno Schmidt hinab in die Unterwelt, in eine Art Elysium, in die Hölle bzw. Vorhölle des totalen Vergessenwerdens: der Mensch unter den Geistern, eine Lektion auch über den Segen oder den Fluch der Unsterblichkeit, mit der bösartigen Schlußwendung, daß es vielleicht wünschenswerter ist, total vergessen zu werden, weil man dann in das Glück des absoluten Nichts einzugehen eine Chance hat. Goethe und Einer seiner Bewunderer aber spielt das umgekehrte Spielchen: Goethe darf zwar für einen knappen Tag auferstehen, doch erstens ist es für ihn, der Moderne und ihrer Technik ungewohnt, schier lebensgefährlich, sich in der heutigen Welt zu bewegen, die er ganz falsch interpretiert, und zweitens muß er zu seinem Leidwesen erfahren, daß seine Werke und er gar nicht mehr so bekannt, beliebt und verbreitet sind: die Leute haben Gott sei Dank oder leider meist andere Sorgen.
Was kommt heraus bei Goethes oberirdischen Besuch? Vor allem ein temperamentvolles Gespräch mit einem Frechdachs von Dichter namens Arno Schmidt, mit dem er sich gar nicht so schlecht versteht, wenn er auch dessen Erörterungen der Probleme ernsthaften historischen Schreibens – zum Beispiel: welche Metaphern wähle ich, wenn ich einen auf einem Bahnhof geparkten Panzerzug beschreiben will? – nicht mitkriegt. Der Frechdachs Schmidt reibt sich an dem Genius Goethe, dem er sich unverschämterweise einmal sogar gleichstellt mit der Formulierung „Wenn wir Genien unter uns sind …“, aber die beiden Herren haben Spaß, gemeinsam zu lästern: Erstens ist man immer lüstern, zweitens in Maßen frauenfeindlich, drittens feind aller geoffenbarten Religionen (es sei denn, man kann Poesie daraus gewinnen oder sie zur Zähmung der Triebnatur der Menschen einsetzen…), und viertens kann man gemeinsam in einen tiefsinnigen anthropologischen Pessimismus einstimmen.
Am Ende hat Arno Schmidt verdammt viel auf dem Herzen gegen Goethe, läßt ihn dann aber doch respektvoll leben und wird von ihm leben gelassen, jedenfalls nicht komplett als „Arschloch“ tituliert. Und das ist ja schon mal was, denn Schiller, Stifter oder Edgar Allan Poe zum Beispiel werden von dem Kritiker und Psychoanalytiker Arno Schmidt viel gnadenloser heruntergemacht; bei Goethe aber geht es Arno Schmidt dann doch so ähnlich wie kurz danach bei einem Beinahe-Zeitgenossen, der ihm, als er ihn Ende 1956 zu lesen begann, literarisch viel näher kam und eine ganz anders beunruhigende lebendige schöpferische Konkurrenz darstellte: James Joyce. Auch in diesem Fall rang sich Schmidt nur schwer dazu durch, dessen Größe anzuerkennen, und wußte bisweilen unübertrefflich kleinkarierte Attacken zu fahren gegen den Autor des Ulysses, um dann endlich auch zu unzweideutigem Preis fähig zu sein. Was Goethe anging, war es 1973 soweit, daß Arno Schmidt souverän und würdig davon sprechen konnte, daß „Goethes Hand immer noch Segen spendet“. Voilà! Den Titel für sein Buch übrigens aber hat Schmidt nicht von Goethe geliehen, sondern von einem deutschen Dichter hugenottischer Herkunft, nämlich Friedrich de la Motte Fouqué: Goethe und Einer seiner Bewunderer, veröffentlicht 1840, beschreibt auf 50 Seiten eine Handvoll Besuche Fouqués bei Goethe, mit einem ebenfalls ziemlich ambivalenten Resümee. Nochmals: Voilà!
Jörg Drews: Nachwort zu „Goethe et un de ses admirateurs“. Ungedruckte deutsche Fassung der französischen Ausgabe „Arno Schmidt: „Goethe et un de ses admirateurs“, Traduction de l’allemand par Claude Riehl, Postface par Jörg Drews. Éditions Tristram 2006.