Jörg Drews: Laudatio für Steven Marcus
Jörg Drews: Laudatio für Steven Marcus
Meine Damen und Herren,
verehrter Steven Marcus,
Zunächst bedanken wir uns sehr herzlich bei einem namentlich unbekannten College-Lehrer, der dem etwa zwanzigjährigen Studenten Steven Marcus ungefähr 1948 eine Lektüre-Liste in die Hand drückte, auf der auch der Name Freud stand; damit hat das angefangen; Steven Marcus wird Ihnen wohl gleich mehr darüber sagen. Und: Der S. Fischer Verlag brachte 1960 eine sehr schöne und zugleich preiswerte Ausgabe von Sigmund Freuds Traumdeutung auf den Markt, die ich mir knapp leisten konnte; wenn man nun noch hinzufügt, daß in der berühmten edition suhrkamp dann als Nummer 903 im Jahr 1979 ein Buch mit dem etwas umständlichen Titel »Umkehrung der Moral.
Sexualität und Pornographie im viktorianischen England« erschien, dann hat man die Vorgeschichte der heutigen Personenkonstellation beisammen. Der englische Haupttitel von Steven Marcus‘ Buch, »The Other Victorians«, klingt übrigens viel lustig-spöttischer als der deutsche; die »anderen« Viktorianer jedenfalls sind diejenigen, bei denen man einmal mehr die Regel bestätigt finden kann, daß wenn einer besonders unnachgiebig öffentlich auf law, order und Moralität besteht, er sehr wahrscheinlich eine moralische »backside« in Taten oder in Buchform zu verdecken trachtet. Mit den »Other Victorians« waren ein Name und ein Buch in unseren Gesichtskreis getreten, die begeistern konnten; das Buch, nach 29 Jahren sogar immer noch bei Suhrkamp zu haben, ist ein Stück Literaturgeschichtsschreibung, sozusagen eine »andere« Geschichte der Literatur des 19. Jahrhunderts, außerdem eine Definition einer Gattung der Literatur, nämlich der Gattung und der – gewissermaßen – Denkfigur »Pornotopia«, die Marcus als Begriff geprägt hat, und eine Gesellschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts in England; Psychoanalyse bzw. psychoanalytisches Vorgehen stehen dabei nicht im Vordergrund, doch das Buch ist ohne psychoanalytisch trainierte Sehschärfe – und das heißt ja wohl: Fähigkeit mit gleichschwebender Aufmerksamkeit immer leisen Verdacht zu schöpfen – gar nicht denkbar. Und zu der notwendigen Vorgeschichte dieses wahrhaft spannenden Buches gehört auch, daß der Autor vorher schon mit einem Buch über Charles Dickens, »Dickens from Pickwick to Dombey« hervorgetreten war – und natürlich daß er in der sexualhistorischen Bibliothek des von Alfred C. Kinsey begründeten Instituts für Sexualforschung an der lndiana University School of Letters und mit deren Archivmaterialien und Büchern arbeiten konnte und dann 1974 schon als Professor für englische Literatur an der Columbia University lehrte. Was seine Vertrautheit mit Werk und Leben Freuds angeht, so sei nur notiert, daß er zusammen mit Lionel Trilling 1969 Ernest Jones’ dreibändige Freud-Biographie in eine gestrafftere Fassung überführt hat.
Man konnte aber eigentlich auch in Deutschland bzw. in deutscher Sprache schon früher Bekanntschaft mit dem Autor Marcus, nicht nur dem psychoanalytisch inspirierten Literaturwissenschaftler und Soziologen machen: 1974 setzte er sich in der »Psyche« mit Freuds berühmten Fall Dora auseinander, und 1978 erschien in der Festschrift »Alexander Mitscherlich zu ehren«, seine »Erneute Betrachtung der Anfänge der Psychoanalyse: Gedanken und Folgerungen«, ein, wenn Sie mir erlauben, das zu sagen, besonders gleichmäßig intensiver, souveräner und geradezu liebevoller Text, heute auch nachzulesen in Marcus‘ Aufsatzsammlung »Freud and the Culture of Psychoanalysis« von 1984.
Das Interesse des Literaturwissenschaftlers, des Soziologen und des Historikers der Psychoanalyse Steven Marcus gilt vor allem der Zeit zwischen zwei Zeitenwenden, dem 19. Jahrhundert nämlich zwischen dem Zeitpunkt, da bei Wordsworth sich Spuren des Unbewußten zeigen und bei Jean Paul erstmals das Wort »das Unbewußte« auftaucht, und den Jahren zwischen 1895 und – nun, sagen wir einmal: 1906/07. Steven Marcus‘ Nachdenken und wissenschaftliche Arbeit gilt also der Epoche, in der die Literatur vielerorts schon mit der Ahnung des Unbewußten ihre Erzählungen formuliert, in der
die Soziologie von der Moralität nach und nach sich trennt und das Faktisch-Bestehende anerkennt, und die Psychologie von der Rationalität sich befreit bzw. andere Phänomene ihrer Aufmerksamkeit für wert befindet und dabei das Instrument einer empathisch-begrifflich gelenkten Introspektion entwickelt, sprich: vor allem die Psychoanalyse, die sozusagen »irrationalem« seelischem Material seine eigene spezifische Logik zu entziffern sucht. Personal gesprochen: Es ist der gewissermaßen weltgeschichtliche Moment kurz vor 1900, in dem Freud den Spätviktorianer in sich überwindet und sich den neuen, bisher ausgeschlossenen Gegenständen und Wahrheiten stellt.
Was die poetischen Gattungen angeht, so ist Marcus kein Mann der Lyrik, sondern entschieden ein Mann der Prosa, von Mary Shelley bis zu Joseph Conrad, und, wie das Buch über die männlichen Viktorianer und ihre Leseneigungen ausweist, vor allem ein Wissenschaftler, der auch für kulturell verachtete und quasi-peinliche Produkte, von sexbesessenen Autobiographien bis zu pornographischer Massenware Interesse aufbringt. Das hat einen stringenten methodischen Grund: In weniger hochliterarischen, also weniger ästhetisch bearbeiteten Produkten ist oft genauer ablesbar, wovon die Hochliteratur schweigt und doch oft »eigentlich«, handelt. Wie der erotische Roman des 18. Jahrhunderts in Frankreich nicht einfach »erotisch« ist, sondern in seiner tabufreien generellen Neugierde zugleich philosophischer, sprich in diesem Fall: aufklärerischer Roman, so ist die große Epik des 19. Jahrhunderts zu lesen vor dem gesellschaftlichen und sexuellen Hintergrund, und der verrät, worum es verdeckt eben ging von Jane Austen bis Trollope, auch wenn die Autoren sich nur vorsichtig und höchst indirekt darauf einließen, nämlich sozusagen prä-psychologisch und moralisch, nicht aber physiologisch – das blieb der Pornographie, das heißt einer abgespaltenen speziellen Literatur, vorbehalten. Doch die Hochliteratur des 19. Jahrhunderts entwickelte sich, und das heißt Marcus zufolge: »Ein wesentliches Merkmal der viktorianischen Welt aber war es, daß die Ängste zusammen mit den ihnen zugehörigen Widersprüchen nach und nach ins Bewußtsein gelangten« und, kann man hinzufügen, solch merkwürdige literarische Sprechweisen hervorbrachten wie etwa die Dichtungen Edward Lears oder Lewis Carrolls oder Oscar Wildes. Und immer wieder erstaunlich ist dann auch schon am Beginn dieser Epoche, daß in der Romantik Mary Shelley, eine 18-jährige Frau, ein nicht hochliterarisches, aber sozusagen ahnungsvolles Buch hervorbringt, einen irritierend unverwüstlichen Mythos bzw. eine Mythe, inzwischen kanonisch geworden, literarisch anreicherbar, verwandelbar, bearbeitbar, vor-wissenschaftlich und trivialkulturell zugleich und von Steven Marcus sorgfältig ausgeleuchtet als eine tiefsinnige, weit vorausgreifende Warn-Mythe vor ein paar Jahren in einem Aufsatz der Southern Review.
Es wetterleuchtet in diesem 19. Jahrhundert, von einer Marquise, die bewußtlos-unbewußt schwanger wird, bis zu den Erzählungen und Fallgeschichten des spätesten 19. Jahrhunderts, bei denen man eben die Gattungen schon gar nicht mehr genau auseinander halten kann, weil in dieser Übergangszeit psychologisierende Erzählliteratur, sprich: Novelle und Falldarstellungen einander wechselseitig zu formen, durchzubilden scheinen, weil die Schriftsteller, oder sagen wir: Dichter, es ja nicht zuletzt waren, die die Beobachtungsfähigkeit des Lesers Freud trainiert, geschärft, geformt und die Modelle für seine novellistischen Darstellungen geliefert haben. Man hat manchmal das Gefühl, daß das 19. Jahrhundert wissenschaftsgeschichtlich und literaturgeschichtlich auf den Punkt zulief, in dem dies vielfältig Geahnte, nämlich: »es«, von Sigmund Freud auf den Begriff gebracht wurde, als nämlich romantisches Ahnen und sensible Romanpsychologie mit Vernunft und Introspektion durchdrungen wurden und der Mensch seiner selbst nicht intuitiv, sondern auch mit Begriffsbildung bewußt wurde. Daher auch das Interesse von Steven Marcus‘ an den Geschichten von Dora und der überaus dramatischen, krisengeschüttelten Entstehung gerade dieser Fallbeschreibung, der Geschichte des Rattenmanns und der Frühgeschichte der Psychoanalyse; es ist die Phase des Übergangs von quasi verbotenem, jedenfalls nicht-wissendem Wissen in jenes noch offene, wohl nie ganz zu schließende Wissen, das wir Psychoanalyse nennen, das als Leit-Diskurs zumindest die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts intellektuell so sehr geformt hat.
Mit leichter Ironie sei übrigens angemerkt, daß nach der Etablierung der psychoanalytischen Psychologie es für die erzählende Literatur bzw. ihre Autoren eher schwieriger wurde, denn ihre führende Rolle bei der großen intuitiven Psychologie der großen Erzählungen waren sie los; die tiefen Veränderungen, die dies zunächst bei den Expressionisten, dann bei Joyce und bei Musil, dann aber bei den noch Späteren unter den Erzählern, von Gertrude Stein und Alfred Döblin bis Samuel Beckett zur Folge hatte, sind noch gar nicht ausgelotet. Wir können dies nur in Andeutungen greifen etwa bei Robert Musil in seinen Drei Frauen von 1924; diese sind als Erzählungen eigentlich Fallgeschichten, auch »Novellen«, und dennoch eben ganz anders: die Autoren konnten ja nicht einfach die Schüler und Nachahmer der avanciertesten Persönlichkeitspsychologie der Zeit sein, und das war eben die Psychoanalyse. Wie also nun erzählen, wie Seelenleben erzählen, wenn man als Autor nicht damit einverstanden ist, komplexe Psychologien herunterzufahren auf eine Psychologie, die mit konsumierbarer Literatur kompatibel ist und gar keinen intellektuellen Anspruch mehr erhebt, das heißt: freiwillig regrediert. (Das Problem gibt es nebenbei bis heute.)
Bei Steven Marcus findet sich übrigens in seinem Essay über Mary Shelleys Frankenstein eine höchst aufschlußreiche Fußnote zu dieser Frage eines höchst abstrakten nicht-psychologischen Erzählens, das aber doch philosophische Einsichten und durchaus auch psychologische Implikate hat; Marcus nimmt in einer Fußnote Bezug auf »Becketts große späte Erzählung Gesellschaft«, und es wäre nun wirklich spannend, wenn Marcus das noch ausarbeiten würde, eben als Beispiel für eine psychoanalytisch inspirierte Analyse eines Textes des späten 20. Jahrhunderts, fast 100 Jahre entfernt vom »impact« der Psychoanalyse auf das Erzählen, eines Textes aus einem Œuvre, das mit gutem Grund als post-psychologisch gilt. Aber ich gebe zu: Man kann ja nicht alles machen.
Was Steven Marcus immer wieder beunruhigt und erheitert und dann auch zu sehr dezidierten Statements treibt, ist die Vielschichtigkeit und Komplexität von besonders dichten, speziell: klassischen Texten. Die vergleicht er emphatisch mit der Seele, die man ebenfalls als Text verstehen kann: Bei beiden wird man nicht fertig mit dem Deuten, weil sie uns immer neue Seiten zuwenden und Schichten zeigen; sie sind wörtlich nicht »feststellbar«, denn sie sind beide, Leser wie Text, nicht Objekte, sondern historische Subjekte; nicht nur: wir handeln an ihnen, sondern sie handeln an uns; wir lesen nicht nur, wir werden gelesen. Und Kunstwerke leben geradezu davon, Nichteindeutigkeit ins Konstruktive, ins Positive zu wenden. Vieldeutigkeit heißt aber nicht Beliebigkeit der Leserreaktion von irgendjemand: »Anything goes« oder es sei ja doch alles relativ ist kein valides Argument. Vielmehr darf es um der Wahrheit willen nur eben keine Orthodoxie geben, denn die blockiert die Suche nach Wahrheit, und erst wenn man Wahrheit und Wahrheitsfindung als regulative Idee, als verpflichtenden Pol aufgibt und in sämtliche Richtungen zerstäuben läßt, gerät man in Beliebigkeit. Wenn die wissenschaftliche Vernunft irrt, gibt es nur eine Instanz, mit der sie ihres Irrtums gewahr werden kann: die Vernunft.
Es zeichnet den psychoanalytischen Denker wie den Literaturwissenschaftler Marcus aus, daß er wie Sigmund Freud mit dem Nicht-genau- oder Nur-vorläufig-Wissen leben kann, daß er mit Zweifeln leben – und das heißt: geradezu beflügelt weitermachen kann mit der nicht abzuschließenden Deutbarkeit von Gegenständen und mit der Tatsache, daß wir oft zwei Sachverhalte nicht strikt kausal oder nur eben nur analog mit einander verknüpfen können, und genau davon leben, wie gesagt, gerade Kunstwerke. Freud aber kam ja gar nicht rational, Schritt für Schritt und immer logisch kontrolliert zu seinen Einsichten; man könnte fast sagen: er war mit Einfällen und Sprüngen und Assoziationen selbst ein Dichter und danach dann der »verwissenschaftlichende«
Bearbeiter seines Einfall-Materials, das er zunächst ins Ungesicherte hinein setzt und erst dann sichert. Freud der Pionier, der Finder und Erfinder, schrieb nicht über etwas schon Vorhandenes, sondern indem er darüber schreibt, entsteht erst etwas Unbekanntes, fällt er ein ins Unbekannte. Das wird dann als Prozeß auch in den »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« wiederum geradezu schlitzohrig mit einer pädagogischen Rhetorik inszeniert. Darüber werden wir ja gleich mehr hören.
Steven Marcus der Kulturtheoretiker ist sich dessen bewußt, daß die Psychoanalyse in unserer Epoche nicht mehr jener intellektuelle Leit-Diskurs ist, der sie in Deutschland im ersten Drittel unseres Jahrhunderts war und etwas später noch einmal sichtbarlich in den USA und Frankreich, er bezieht diese Einsicht sehr nüchtern in seine Einschätzung unserer geistigen Situation ein. Er sieht die Psychoanalyse – nachzulesen in dem »Postscript: Notes on Psychoanalysis Today« von 1984 – als Theorie, als Methode und als Therapie als gebunden an das bürgerliche Jahrhundert an, an ein Zeit-Gefühl und eine Leistung intim-sorgfältiger Aufmerksamkeit auf Individualität, welche die Gesellschaft immer weniger zu honorieren geneigt ist: Solch sorgsame Selbstreflexion des Individuums ist kein oberster Wert unserer Zivilisation mehr, ähnlich wie etwas vergleichbar Zeitraubendes, nämlich: ausgedehnte literarische Lektüre. Vielleicht ist Psychoanalyse eine verlernbare und verlierbare Kulturtechnik, die mit der Schicht untergeht, die sie einst trug. Welchen Status könnte sie haben als untergehende, den eines quasi Geheimwissens, eines Minderheitenwissens wie Latein und Griechisch samt der Bindung an eine in irgendeinem Sinne »vorbildliche« antike Kultur?
Die bescheidene vorläufige Antwort könnte sein, daß jedenfalls eine an der Psychoanalyse geschulte Lektüre – der Seele wie der Bücher – einen außerordentlichen Gewinn an Aufmerksamkeit auf Vielschichtigkeit erfordert und unverlierbar mit sich bringt, und daß zweitens jedenfalls psychoanalytisches Denken tendenziell sich keine Illusionen macht über die Konfliktträchtigkeit des Daseins und das Konfliktuöse in unserer Seele, daß es anleitet zu kritischem und auf keinen Fall harmoniesüchtigen, man könnte auch sagen: eindimensionalen Denken, daß psychoanalytisches Denken also eines der vornehmsten Paradigmata für eine über sich selbst aufgeklärte Aufklärung ist. Steven Marcus ist ein bedeutender Aufklärer, wenn Aufklärung die Weigerung bedeutet, Unaufgeklärtes vernunftfeindlich oder resignativ zu mystifizieren und zu verleugnen.
Ich möchte schließen mit einem so tiefsinnigen wie närrischen, hochironischen Satz von Virginia Woolf, der indirekt eine Hommage an die Leistung Sigmund Freuds darstellt und außerdem einen Bezug hat auf eine Frage, die Steven Marcus in seinem Aufsatz »Psychoanalytischer und kultureller Wandel« von 1987 gestellt hat: »Hat die Psyche selbst eine Geschichte?« Eine solche Fragestellung könnte uns eines Tages auch zu einer historischen Phänomenologie der Seele unter psychoanalytischen Gesichtspunkten führen. Und Marcus‘ Frage ist auch die entscheidende Rechtfertigung dafür, daß er sich lebenslang so besonders intensiv mit der intellektuellen und wissenschaftlichen Zeitenwende in den letzten Jahren des 19. und den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts beschäftigt hat. Der Satz lautet: »Around December 1910 human nature changed.«
Jörg Drews †
Wenige Monate, nachdem er anläßlich der 22. Sigmund-Freud-Vorlesung am 31. Oktober 2008 seine Laudatio auf Steven Marcus gehalten hatte, ist Jörg Drews plötzlich gestorben. Sein breit gefächertes Engagement als Literatur- und Geschichtswissenschaftler, Literaturkritiker, Autor und Herausgeber galt nicht nur Goethe und Seume, James Joyce und Arno Schmidt, Ernst Jandl und Paul Wühr, also der Konkreten Poesie und der Literatur der Moderne, sondern auch der unermüdlichen Förderung junger und noch zu entdeckender Autoren, galt aber auch kenntnisreich und unbeirrt der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die für ihn selbstverständlich war. Was Jörg Drews darüber hinaus auszeichnete: Er nahm den immer wieder eingeforderten interdisziplinären Austausch zwischen Literatur und Psychoanalyse ernst, dabei stets der philologisch präzisen Erfassung der literaturhistorischen Einbettung eines Textes, der biographischen Daten eines Autors und der literarisch genauen Einordnung eines Werkes verpflichtet und sich hütend, einem Text unbesehen psychoanalytische Interpretationen überzustülpen. Davon zeugen zahlreiche Rezensionen, Vorträge oder Moderationen in psychoanalytischen Institutionen und Veröffentlichungen in psychoanalytischen Publikationsorganen, nicht zuletzt in dieser Zeitschrift. Bereits 1982 schrieb er in der ZEIT eine Rezension des in deutscher Übersetzung erschienenen Buches »The Other Victorians« von Steven Marcus, den er 26 Jahre später in dieser Laudatio erneut würdigte. Auf einige seiner Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Psychoanalyse und interdisziplinäre Arbeiten möchte .ich an dieser Stelle aufmerksam machen.
(Thomas Ettl, Frankfurt am Main)
Jörg Drews – Bibliographie Psychoanalyse (Auswahl)
Drews, J. (1970): Freud anekdotisch. München: Kindler
– (1981): Ein Kratersturz ins Unbewußte. Zur Konstruktion von Traum und Tagtraum in
Arnos Schmidts Roman »Kaff auch Mare Crisium« (1960). Psyche- Z. Psychoanal., 35,
1103-1121
– (1982): »Caliban Casts Out Ariel: Zum Verhältnis von Mythos und Psychoanalyse in
Arno Schmidts Erzählung ‚Caliban über Setebos’«. In: Drews, J. (Hrsg.): Gebirgslandschaft mit Arno Schmidt. Grazer Symposion 1980. München: edition text + kritik, 46-65
– & Bohleber, W. (Hrsg.) (1991): »Gift, das du unbewußt eintrinkst… « Der Nationalsozialismus und die deutsche Sprache. Bielefeld: Aisthesis
– (1993): Die Rettung konventionellen Erzählens durch die Psychoanalyse: Über Robert
Musils Novelle »Die Portugiesin«. ZPTP, 8, 133-145
– (1992): Selbststilisierung, Selbstbetrug oder Leserbetrug? Johann Gottfried Seumes
Bericht vom Wendepunkt seiner Italienreise im Jahr 1802. ln: Johannes Cremerius
u. a. (Hrsg.): Über sich selbst reden. Zur Psychoanalyse autobiographischen Schreibens.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 9-24 (Freiburger Literaturpsychologische
Gespräche, Bd. 11)
– (1999): Wissenschaftlich erwiesen: Träume sind keine Schäume. 100 Jahre »Traumdeutung«. ZPTP, 15, 106-110
Jörg Drews: Laudatio zum Vortrag der Sigmund-Freud-Vorlesung 2008 von Steven Marcus, gehalten am 31. Oktober 2008 in der Aula der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. Bei der Redaktion eingegangen am 27.5.2009. In: Zeitschrift für Psychoanalytische Theorie und Praxis, Jg. XXIV, 2009, 4, S. 478-484.