Jörg Drews: Tel Aviv –– Sharm-el-Sheikh und zurück, bitte
Eine Reise zur Südspitze der Sinai-Halbinsel
Bus 371
Vor die reine Luft haben die Götter den Gestank gesetzt: auf der Allenby Road, der zentralen Einkaufsstraße von Tel Aviv, stinkt es schlimmer nach Auspuffgasen als in Münchens berüchtigter Sendlinger Straße; die städtischen Busse lassen pechschwarze Wolken von Dieselqualm ab, der sich in der engen, heißen, vielbefahrenen Straße gut hält. Es ist halb elf am Morgen, aber das Taxi steckt im Verkehr so fest wie um 17 Uhr abends in München. Die Großstädte der Welt ähneln sich immer mehr; Tel Aviv, dieser Wasserkopf Israels, wo fast ein Viertel der gesamten Bevölkerung des Landes lebt, hat sein Verkehrsproblem wie heute jede bessere City. Doch wer vergaß, daß er sich im Nahen Osten befindet, merkt es gleich wieder am Zentralen Busbahnhof: Die Häuser sind niedriger, schmutziger; die Menschenmassen pittoresker, das Gedrängel groß, das Geschrei der Straßenhändler laut, das Ganze ein orientalischer Markt, nur schieben sich nicht Kamele und Maulesel durch die Menschen, sondern Autos und die Busse der „Egged“-Company.
Wer kann in einer Großstadt noch pünktlich sein? Der Bus 391 nach Eilat ist längst abgefahren, also bescheidet man sich zunächst mit dem Bus nach Beersheva, der fährt öfter, und dort wird man dann weitersehen, irgendeinen Anschluss wird es schon geben, auch wenn man sich am Fahrkartenschalter mit Deutsch, Englisch und Französisch nicht verständlich machen, also nichts genaues erfahren kann. Hier scheinen alle nur Iwrith zu sprechen, obwohl Tel Aviv gern ironisch „Lodz sur Mer“ genannt wird – dort wurde doch viel Deutsch gesprochen.
Der Bus 371 nach Beersheva aber fährt in kurzen Abständen: wenn eine Fuhre voll ist, kommt gleich die nächste. Unter der ewig plärrenden Radiomusik macht man sich’s bequem: Gepäck verstauen und alle Fenster aufreißen: Es hat schon wieder 30 Grad im Schatten.
Durch die Suburbs. Ebenfalls international, wie die Verstopfungen der City-Straßen: die öde der Vorstädte, gebaut nach Schema F, hier nach dem Schema: billig, kubisch und noch den Apparat aufs Dach gestellt, der die Sonnenwärme zum Wassererhitzen benutzt, dazu jedem Haus seine Fernsehantenne.
11 Uhr: zu jeder vollen Stunde Nachrichten: „Kan shigurei Israel mi Jerushalaim“ – und es geht um die Unruhen, die die „Black Panthers“ in Jerusalem in den vergangenen Tagen gestiftet haben, die Kinder orientalischer Juden, die noch nicht reibungslos ins israelische „money-making-system“ eingegliedert sind, und nun, da es an den Grenzen gerade nicht so brenzlig ist, kommen die inneren Spannungen des Schmelztiegels Israel zum Vorschein, die tiefen ökonomischen und kulturellen Unterschiede zwischen den verschiedenen Bevölkerungsschichten.
Durch den Grüngürtel
Die Landschaft aber, die Küstenebene, die wir nach Süden durchfahren, in Rishon le Zion, in Rehovot und Kiryat Malachi anhaltend, vor Kinos, Getränkebuden und bisweilen auf freier Strecke an der Abzweigung zu einem Dorf oder einem Kibbuz – die von der Sonne überglühte, üppig grüne Landschaft singt das Loblied derer, die sie zum Blühen brachten, das Loblied, in das vor vielen Jahren, als noch nicht klar war, dass die jüdische Tüchtigkeit einen jüdischen Staat mit sich bringen würde, auch die Araber eingestimmt hatten. Zwar ist bisweilen die Schönheit der Gegend entstellt durch Autowracks, die einfach am Straßenrand liegen – noch hat man genügend Platz und andere Sorgen als das Wegräumen alter Autos –, aber die Fruchtbarkeit der Erde ist überwältigend: Hibiskus und Kapuziner blühen, dahinter Orangenhaine und Getreidefelder, und wo man hinsieht, liegen Dörfer und laufen die Wassersprengmaschinen. Man fragt sich – und die Israelis geben kokett vor, es selbst nicht zu wissen –, wie zweieinhalb Millionen Leute diesen Laden, der von Majdal Shams im Norden bis Sharm-el-Sheikh reicht, in Gang halten: Rüstung, Militär, Landwirtschaft, Industrie, Fremdenverkehr, Forschung – nicht auszudenken, was hier sein könnte, wenn Frieden wäre; die Redensart, daß dann das Land ein Paradies sein könnte, ist wörtlich wahr.
Dass es im Moment noch kein Paradies ist, bringen spätestens die Phantoms in Erinnerung, die auf einem Flughafen, drüben, links von der Straße, starten und landen und über die die Kinder in dem Jerusalemer Kindergarten, neben dem ich wohnte, immer in hellen Jubel ausbrachen, wenn sie in simulierten Luftkämpfen über den Himmel heulten. Und was der Krieg nicht schaffte, das schafft der Straßenverkehr: die Israelis bezeichnen sich selbst als die schlechtesten Fahrer der Welt, und so sehen die Unfallziffern auch aus: Seit 1967 gab es mehr Tote auf den Straßen als Gefallene im Sechs-Tage-Krieg.
Kurz vor Beersheva ist der Grüngürtel zu Ende, und schon hinter Kiryat Gat, einer der planmäßig angelegten „New Towns“, in die man die Einwanderer anzusiedeln versucht, wird der Pflanzenwuchs kümmerlicher, die steinige Erde bricht durch; auch machen sich die ersten kleinen Wüstengarnisonen bemerkbar: ein Zaun, dahinter ein paar Lastwagen, ein paar Zelte, darüber weht der Davidstern. Und fast gleichzeitig die ersten Nomadensiedlungen, die Mischformen zwischen Zivilisation und Primitivität: große flache schwarze Zelte neben Hütten aus Wellblech und Benzinkanistern. Die Straße, eingeschnitten in die steinigen Hügel, gibt weit den Blick frei auf die wellige Landschaft des Negev, aus der die Wohnklötze Beershevas auftauchen, rücksichtslos kantig in die Landschaft gestellt: kleine Klötze, mittlere Klötze, größere Klötze, dazwischen ein Wohnblock mit vier Stockwerken und 150 Metern Länge, in Beton, in Fertigbauweise, die ganze Stadt ein Bauplatz: Die Einwanderer kommen, keine Zeit für ästhetische Überlegungen.
Bus Stop
Wer ungeduldig und nervös ist, kann hier Geduld lernen. Als der 13-Uhr-Bus nach Eilat voll ist, wird die Tür geschlossen: die restlichen sechs Leute sollen eben die nächsten nehmen, der geht um 15 Uhr. Zwei Stunden Unterhaltung mit einem Geschichtslehrer an einem amerikanischen College, er spricht noch weniger Ivrith als ich, aber als Jude ist er „natürlich“ absolut solidarisch mit dem Land, auch wenn er sich’s nur unverbindlich ansieht, nicht bleiben will und in Eilat nur auf „a good time“ mit den „chicks“ und den „juicy cunts“ aus ist, von denen man in den Cafés auf Tel Avivs Dizengoff Boulevard so sagenhaft Freizügiges erzählt. In Amerika gehört er vielleicht zu den humanen Liberalen, doch hier gilt auch für ihn ein Gesichtspunkt: „The Israeli point of view.“
Soldaten, Kibbuzniks, israelische Urlauber, amerikanische Touristen: Der Bus der Linie 391 ist voll, ab geht‘s um 15 Uhr nach Eilat, 250 Kilometer liegen vor uns. Die Straße steigt hinauf nach Dimona, wo Textilfabriken und das israelische „Nuclear Research Center“ angesiedelt sind: früher nannte man das „Textilfabrik“, jetzt gibt man schon zu, dass es sich um irgendwas mit Atom handelt, und wer fragt, was denn das blinkende Atomei für Aufgaben habe, der bekommt ein Grinsen zur Antwort und den Satz: „Wir haben alles, was wir zu unserer Verteidigung brauchen.“
Durch die südliche judäische Felswüste, bis auf 455 Meter Höhe, weiter dröhnende Hitze, waghalsige Überholmanöver zwischen Bussen und riesigen Lastwagen, die von Eilat heraufkommen und Schiffsfracht in den Norden bringen. Dann senkt sich die in die Felsen gesprengte Straße und kurvt in wilden Serpentinen hinunter ins Wadi el Jeib, zum Südende des Toten Meeres: Sodom ist in der Nähe, wir passieren die Höhe des Meeresspiegels, weiter hinunter bis auf 350 Meter, links würde es zum Potasche-Werk am Toten Meer gehen, aber wir biegen nach rechts und in eine Vorweltlandschaft: in die Arava.
Alttestamentarisch
Und sogar die Israelis sind einen Moment berührt von der Landschaft, den Felsen zu unserer Rechten, der immensen Sand- und Felsfläche zur Linken, im Osten begrenzt von den in bläulich-violettem Dunst liegenden jordanischen Bergen: das ist urweltlich, alttestamentarisch, abweisend kahl, trostlos und atemberaubend schön. 170 Kilometer lang, begleitet vom Werbefunk, der überall in der Welt gleich idiotisch zu sein scheint, bedudelt von israelischen patriotischen Preisliedchen auf die Schönheit der Golanhöhen, des Sees Genezareth und Jerusalems, von amerikanischen Schlagern und Anpreisungen von Coca-Cola – so fahren wir an der jordanischen Grenze entlang, auf einer Straße, die sanft Eilat zu auf Meereshöhe steigt und durch einen Landstrich, den zu beschreiben nicht möglich ist, aber von dem man eine Vorstellung vermitteln kann, wenn man sagt: Erinnern sie sich, wie die beiden Typen in „Easy Rider“ auf den Motorrädern durch Arizona und New Mexiko fahren? So ungefähr – und man dürfte nicht in einem Bus sitzen, sondern müßte auf so einem Feuerstuhl durchreiten: born to be wild.
Man glaubt sich in ein anderes Erdzeitalter versetzt; man glaubt zu ahnen, wie hier, wo es nur Felswüste und Himmel gibt, die beide glühen, einer die Idee fassen konnte, es gebe nur einen Gott, eine einzige, übermächtige Gewalt, die dem Menschen so überwältigend gegenübertritt, eins und einheitlich wie die Natur hier, nicht lieblich und vielfältig, sondern streng und starr.
Doch aus solchen Reflexionen wird man durch die Trivialitäten unserer Zivilisation herausgerissen: an der Straße stehen schon Schilder, die Geschwindigkeitsbegrenzung 90 km/st.“ vorschreiben, dazu Benzinfässer, Telegraphenstangen, abgewrackte Autos; außerdem gibt es schon Baustellen für die Verbreiterung der Straße, die den schweren Gütertransport von Eilat her aufnehmen muß, es gibt eine große flachgewalzte Stelle, die wohl für einen Flugplatz ausersehen ist, es gibt etwa auf der Mitte des Wegs zwischen Sodom und Eilat eine Tankstelle und dazwischen öfters Coca-Cola-Buden, wo der Bus hält, alles sich kalte Getränke in den Hals gießt, austritt und sich die Beine vertritt, es gibt die Kibbuzim und Moshaws (landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften) und – nicht zuletzt erquickend für die Augen – die ersten Grünflächen und Pflanzungen, nicht die staubig gelb-grauen vereinzelten Bäume, die die Natur hier einzig selbst hervorbringt, sondern mühevoll gepflegtes saftiges Grün: Hatseva, Ein Yahav, Ramat Tsofar, die rührend primitiven Dörfer, von denen sich das Grün in die Landschaft hinein ausdehnt.
So dröhnen wir nach Eilat. Als die Sonne untergeht, färben sich die jordanischen Berge rötlich und lila, und dann ist auch schon das Meer zu sehen: zuerst Akaba auf der jordanischen Seite des Golfs, dann Eilat.
311/2
Wo wohnt man in dieser Goldgräberstadt, in dieser Wüstensiedlung für 15.000 Menschen, die wie eine Mischung aus einer 08/15-Suburbia aus Fertighäusern, einem Kurort und einer Kulissenstadt für einen Western wirkt? In Hotels natürlich, die heißen: „Königin von Saba“, „Neptun“ oder „Ophir“, wo die Preise gesalzen sind, aber offensichtlich erschwinglich für die Touristen, meist Israelis, denen es im Norden noch nicht sonnig genug ist und die hier das Wochenende verbringen, oder man wohnt, da es keine Straßennamen gibt, in „311/2“ – und jeder Taxifahrer weiß, wo das ist. Herr Naphtaniel, der Privatunterricht bietet, stammt aus Frankfurt/Oder und auf die Frage, wie es sich in Eilat leben lässt, in diesem Hitzeloch, wo im Sommer Temperaturen bis 45 Grad im Schatten keine Seltenheit sind, kommt die Standardantwort, trivial und schicksalsbeladen zugleich: aus Deutschland nach Dänemark geflohen, aus Dänemark nach Schweden – hier bin ich zu Hause, endlich ist der Straßenfeger Jude und der Bürgermeister und der Lehrer auch; daß ich Jude bin, ist hier endlich nichts Besonderes mehr und außerdem: wer hier in Eilat arbeitet, bekommt Steuervergünstigungen und Gehaltszulagen.
Neben der Normalität Eilats, die heißt: Arbeit in den Kupferminen von Timna, im Hafen oder für den Fremdenverkehr, nehmen sich die paar Hippies, die hier tagsüber in der Sonne liegen, abends die Veranda des „Red Sea Fish“ bevölkern und den Beat-Platten von vor zwei Jahren lauschen und nachts natürlich entweder in der Jugendherberge oder auf Decken unter den Sonnendächern am Strand schlafen, ganz kümmerlich aus. Nichts von dem High life, von dem man sich im Norden des Landes Märchen erzählt; halb nackt laufen hier ohnehin viele herum, Orangensaft oder Bier muss man wegen der Hitze ohnehin trinken, die Haschischzigaretten kreisen nur vereinzelt und vorsichtig, seit die Polizei vor anderthalb Jahren ein paar Razzien veranstaltete und die Behausungen der Hippies, bei denen sie einige Gramm Stoff fand, niederbrannte. Ein paar Einzelgänger finde ich tags darauf am Strand, bärtige, sonnenverbrannte, muffig-verschlossene Typen, die hier vor sich hin leben und sich einen Dreck um den Staat Israel und seine Politik scheren; der Rest sind meist jüdisch-amerikanische College-Kids, die hier mal Station machen, im Gepäck aber die Travellers Cheques haben, die ihnen erlauben, morgen nach Paris abzuhauen, wenn es ihnen danach ist. Ein jüdischer Hippie – das scheint eine unmögliche Kombination zu sein, und wer im „Red Sea Fish“ oder am Coral Beach herumhängt, macht meist nur billige Ferien. Als es 11 Uhr nachts ist, wird der „Red Sea Fish“ dichtgemacht; Ordnung und Sauberkeit werden hergestellt, die Besen geschwungen – von zwei Engländern und einem Deutschen.
Ans Ende der Welt
Bis vor kurzem brüstete sich Eilat mit Pionierstolz“, das „Ende der Welt“ zu sein, und wer die drei verwitterten Häuser aus Lehmziegeln betrachtet, die unten am Strand stehen und pietätvoll als die ersten Behausungen in Eilat trotz aller Hotelneubauten stehen gelassen wurden, der bekommt einen Eindruck davon, wie desolat die Gegend war, als hier noch die Natur herrschte: Kein Baum, kein Strauch – und was heute wächst, wurde Pflanze für Pflanze gesetzt, bewässert, gehütet; damals gab es noch nicht drei Busverbindungen und ein halbes Dutzend Flüge in den Norden jeden Tag. Das Ende der Welt allerdings hat sich seit dem Sechs-Tage-Krieg nach Süden verschoben: „End of the World Club“ müßte der Nachtclub von Sharm-el-Sheikh jetzt heißen. „Wir haben dorthin jetzt eine Straße gebaut“, meint Allen, der Fremdenführer in Eilat. Ja, ich weiß, aber seit Mitte April ist sie nicht befahrbar, und die Buslinie, die Eilat mit Sharm-el-Sheikh verbinden soll, wird erst Ende Juni eröffnet. Jammerschade, es wird eine der außergewöhnlichsten Busstrecken der Welt sein, am Ostufer der Sinai entlang, 250 Kilometer zwischen Wasser und Felsen, und nun ist die Trasse durch Regengüsse vom Wüstensand überschwemmt – sollten israelische Ingenieure die Straße nicht fest genug gebaut, sollten sie einen Fehler gemacht haben? Aber es gibt ja noch die Arkia, die israelische Inland-Fluglinie.
Golda Meir, so las man‘s gerade wieder in der in englischer Sprache erscheinenden Jerusalem Post, betonte nachdrücklich, niemals sei im israelischen Kabinett über eine Landkarte der Friedensgrenzen gesprochen worden; man habe sich nie festgelegt, über alles könne verhandelt werden. Aber wer an einem der großen Fenster der Viscount sitzt, der nach Sharm-el-Sheikh fliegt, der merkt, daß eine der inoffiziellen spekulativen Landkarten, die vor einiger Zeit die Runde in der Presse machten, der geographischen Basis nicht entbehrt. Denn von Eilat bis zur Südspitze des Sinai wird die Küste in 20, 30, 40 Kilometern Entfernung von den Bergzügen begleitet, die man sich im israelischen Generalstab wohl als Grenze des Landstriches vorstellen könnte, der im Falle eines Falles Sharm-el-Sheikh mit dem alten israelischen Staatsgebiet verbinden würde. Und die Straße, deren schwarzes Band an der Bucht von Coral Island und dem Fjord vorbei bis Nahab zwischen dem tiefblauen Meer und den Korallenbänken und unendlich langen Sandstränden und den Bergen verläuft, hat man gewiss auch nicht nur für den Tourismus gebaut. Eher ist es umgekehrt: der Tourismus ist ein Nebenprodukt der militärisch-politischen Lage.
Der Betrachter des Szene muss allerdings noch gefunden werden, der ohne Unterlass die Politik im Sinn hat: das Panorama, daß sich vom Flugzeug aus bietet, die saudisch-arabische und die – na, sagen wir mal: israelische Küste, die je nach Wassertiefe wechselnden, am Strand helleren Blauschattierungen des Wassers, die wie Kulissen tief hintereinander gestaffelten Bergzüge des Sinai, die zurücktreten und einer ziemlich ebenen Sandfläche Platz machen, als die Maschine sich dem Südzipfel der Sinai nähert – das ist von so schierer überwältigender Schönheit, daß alle im Flugzeug – oder genauer: in unserem fliegenden Brutkasten – die Gesichter an die Fenster pressen und nur ab und zu staunende Laute des Entzückens von sich geben.
Wer auf dem kurzen Weg vom Flugzeug zu den paar Hütten, die als „Arkia“-Büro, Warteraum und Ausschank fungieren, sich trotz der Hitze die Mühe macht, sich umzudrehen und stehenzubleiben, der sieht eine riesige Sandfläche, dahinter das Meer, darin im gleißenden Sonnenlicht die im Dunst verschwimmenden Umrisse der Inseln Tiran und Sanafir, die nicht die Spur von Vegetation oder menschlichen Behausungen tragen. Und davor ein Flugzeug, das unter diesem endlosen Himmel, auf dieser endlosen Sandfläche völlig deplaciert und verrückt wirkt. Und landeinwärts begrenzt die Bergkette des Gebel Sahara den Horizont, dunstig braun im Vordergrund, ins Dunkelbraun und Violett hinüberspielend die entfernteren Bergzüge. „That’s absolutly surrealistic!“ ruft einer der ewigen amerikanischen Touristen aus, als er das Menschenwerk Flugzeug vor dieser Kulisse stehen sieht, auf der das unbarmherzige Licht eines ewigen Sonnenscheins liegt.
Doch wie lange man staunen und sprachlos sein darf vor Licht, Hitze, Panorama, schreibt der Fahrer des Hotelbusses vor, der uns in einen VW pfercht und dann mit dem üblichen wahnsinnigen Tempo durch die Wüste saust, zum „Caravan Inn“: 30 Häuschen in Fertigbauweise, 30 Wohnwagenanhänger, die als Zimmer dienen, und ein paar Reihen Zelte, dazu ein Schuppen mit den Tauchgeräten, ein Getränkestand mit Tischen und Stühlen davor, ein Empfangsbüro samt Post und ein großes, durch Luftüberdruck im Inneren hochgehaltenes Ballonzelt; in 20 Meter Entfernung dann das Meer, so klar, dass man als Mitteleuropäer nur den Kopf schütteln kann, nachts der Beat aus der „Diskothek“, wo die Touristen tanzen und die halbe Garnison zuschaut, wie die kleinen Amerikanerinnen eine kesse Sohle auf den Steinboden der versenkten Tanzfläche legen, unter einem Sternenhimmel, die so reich bestückt ist, wie man es gar nicht mehr in Erinnerung hatte – wir sind am südlichsten Zipfel Israels.
Träume …
Israels? Ja, und zwar unwiderruflich, wenn man Uzi Veled glauben darf. Uzi kommt am anderen Morgen mit einem ganzen Flugzeug voll Touristen und Journalisten aus Tel Aviv an; vor allem ist das Columbia Broadcasting System vertreten, das demnächst einen Film über Sharm-el-Sheikh zeigen will, und Uzi ist der Mann, der uns – 40 Mann in einem Bus auf einer „conducted tour“ rund um Sharm – sagen wird, was die Welt und wir über die Probleme dieser Weltecke zu denken haben.
Das heißt: Probleme gibt es in seiner Sicht eigentlich nicht. Zuerst fahren, besser: schaukeln wir durch den Wüstensand, an Minenfeldern, Stacheldraht, Schützengräben vorbei zur ehemaligen ägyptischen Kanonenstellung, die 1967 die Einfahrt in den Golf von Akaba blockierte. Auf Jiddisch, Englisch und Ivrith erklärt Uzi eindringlich und mit großen Gesten: Es gibt nur eine 400 Meter breite Durchfahrt zwischen der Sinai und der Insel Tiran, und zwar direkt unter Land, dicht an der Sinai, also auf jeden Fall innerhalb der Drei-Meilen-Zone. Deshalb konnten die Ägypter mit zwei lumpigen Kanonen die Straits blockieren und damit die Schifffahrt nach Eilat. 1967 zog sich die israelische Armee wieder von hier zurück, 1967 waren die internationalen Garantien einen Dreck wert, und „Wir mussten diese Stelle ein zweites Mal erobern. Aber den Fehler machen wir nicht ein zweites Mal: hier bleiben hier, komme, was da wolle.“
Weiter geht’s, ein Stückchen die Küste hinauf nach Norden, vorbei an dem Riff, auf das vor ein paar Jahren ein israelisches Schiff auflief, das da draußen verrottet, zum „Mustang“. Wieder raus aus dem Bus: da liegt in der Wüste eine alte „Mustang“, ausgeweidet, aber noch als ehemaliges Jagdflugzeug erkennbar. Uzi: „Die Maschine haben die Ägypter als einzige im 1956er Krieg abgeschossen. Es war eine der drei Maschinen, die mit ihren Propellerblättern im Tiefflug die ganzen ägyptischen Telephonleitungen auf dem Sinai durchschnitten. Der Pilot machte eine Notlandung, geriet in Gefangenschaft, und heute ist er der Kapitän einer Boeing 707 bei der El Al“.
Ein moderner Mythos, mit Pathos rezitiert; ein Lied von der Größe israelischer Waffentaten, zugleich auch ein Hinweis darauf, dass hier zweimal israelisches Blut geflossen, der Boden also israelisch getränkt ist. Auf der Weiterfahrt singen Uzi und der Busfahrer das Lied von Sharm-el-Sheikh: trutzige synthetische Folklore.
Kaffeepause bei den Nomaden der Oase Nabek: der Kaffee ist wirklich gut, und vor dem Café – sprich: eine Hütte aus alten Türen und breitgeklopften Benzinkanistern – spielt ein Beduine auf einer Art viersaitiger Lyra, die er aus Holzstücken, Büchsen und Drähten gebaut hat. Was ist das? Ein traditionelles Instrument aus Zivilisationsabfällen hergestellt? Aber warum? Denn klingen tut es jämmerlich, und klänge bestimmt besser, wenn es aus Krummholz und Darmsaiten gemacht wäre. Der Alte zupft und singt eintönig, während Uzi erläutert: „Als wir hierher kamen, bettelten die Kinder um Brot, später um Süßigkeiten, heute schon um Geld.“
… und Realität
Aber der wirkliche „Fortschritt“, die wirkliche Verwandlung der Landschaft geschieht weiter südlich, in der Bucht von Sharm-el-Moyye: hier ist Uzi ganz in seinem Element. Sage keiner, daß diese Bucht irgendeine Bucht sei! Denn Ende des 19. Jahrhunderts hat ein österreichischer Oberst namens Friedmann hier mit 32 Genossen einen jüdischen Siedlungsversuch unternommen, der zwar scheiterte, weil die Hitze zu groß war und die Überlebenden eines besonders bösartig heißen Sommers am Ende von den Ägyptern vertrieben wurden. Aber die Stelle hat sozusagen zionistische Geschichte in sich, und hier entsteht nun eine Stadt für 2000 Leute; eine Tankstelle, eine Zivilpolizeistation, ein Restaurant gibt es schon; die ersten Fundamente für die Wohnhäuser werden gerade gelegt, dort drüben kommt die Busstation hin. Vor wenigen Wochen hat die Regierung die Erlaubnis gegeben, nicht nur leicht zu entfernende Behelfsbauten, sondern richtige Steinhäuser zu errichten – Uzi: „… Und wir sind sehr glücklich über diese Entscheidung.“ In der nächsten Bucht dann der Kriegshafen; Photographieren strikt verboten, aber die Augen aufmachen darf man ja, und ich sehe: sechs Kriegsschiffe, darunter drei Kanonenboote des Typs der aus Cherbourg entführten Boote, zwei große Radarschirme, ausgedehnte militärische Anlagen, Lagerhäuser und Truppenunterkünfte. Das ist eine waffenstarrende Garnison, die militärische Basis, von der aus man das Rote Meer überwachen und notfalls Kommandoraids nach Ägypten durchführen kann: die ägyptische Küste bei El Zeitiya ist 60 Kilometer entfernt.
Gewiß, ein Touristenführer ist kein politisches Orakel, und wenn Uzi meint, hier werde ein „Traum“ realisiert, der Traum, wieder Erde fruchtbar zu machen, einen Landstrich mit gleichmäßig schönem Wetter für Touristen zu erschließen, hier zivilisatorisch zu wirken und auf jeden Fall zu bleiben, so ist das keine Regierungsverlautbarung. Aber sicher werden hier Faits accomplis geschaffen, mit jedem Tag mehr, und wenn man die Investitionen bedenkt, die hier erfolgen, so kann man sich gar nicht mehr vorstellen, daß die Israelis dieses Gebiet je wieder räumen wollen. Wenn Uzi mit Emphase erklärt, in nächster Zukunft würden in Sharm-el-Sheikhs Flughafen Ophir große Jets landen und Hunderte von Touristen bringen; in der Nähe des „Caravan Inn“ werde gerade ein richtiges vierstöckiges Hotel gebaut und das sei nur der Anfang eines großen Projekts, die Gegend zu einem internationalen Ferienzentrum auszubauen, so wird seine Prophezeiung, je mehr Zeit ohne eine politische Regelung vergeht, desto sicherer Wirklichkeit werden.
Vom „Caravan Inn“ gibt es noch keine Postkarte, die man verschicken könnte. Es ist, als schämten sich die Israelis, das Halbfertige, Improvisierte der Anlage publik zu machen. Aber sieht man von der Politik ab, so hat Sharm-el-Sheikh jetzt vielleicht einen idealen Charakter. Wenn einmal alles perfekt ist, wenn das große Hotel steht und man in einer vollklimatisierten Halle isst, wenn es gepflasterte Wege und eine neonbeleuchtete Nachtbar gibt, dann ist es wie hundert andere Ferienorte, uniform und steril. Jetzt wird das Essen noch in dem Ballonzelt serviert, in dem einem das das Gebläse einen stetigen Luftstrom über die Kartoffeln bläst, so dass man mittags wie im Treibhaus sitzt und abends fröstelt; jetzt reißt noch der Film, der abends im Freiluftkino vorgeführt wird, ein gutes Dutzend Mal, und der Vorführer muss mal schnell zur Armee rüberfahren, um eine neue Birne für den Projektor zu besorgen; jetzt ist die Anhöhe rechts vom Badestrand noch ein Behelfslandeplatz für Hubschrauber, steinig und unwirklich. Aber wenn die Anhöhe gepflanzt ist, der Filmprojektor funktioniert, die Platten in der Diskothek neueren Datums sind und die Klimaanlagen in den Zimmern nicht mehr so laut laufen, dass man nur die Wahl hat, wegen des Lärms nicht zu schlafen oder wegen der Hitze, wenn man sie ausschaltet, dann ist Uzis Traum realisiert und Sharm-el-Sheikh nicht mehr so traumhaft schön.
Aus der Vogelperspektive
Auf dem Rückflug nach Tel Aviv komme ich mit meinem Nachbarn ins Gespräch, einem jungen jüdischen Arzt aus New York. Er hat sich Israel vier Wochen lang angesehen, und ihm ist gelungen, was unter Israelbesuchern, insbesondere wenn sie selbst Juden sind, eine Seltenheit ist: Er hat sich kritische Distanz bewahrt. Ihm fällt auch auf, dass das Land nach sozialistischen Anfängen ein kapitalistisches und in vielen Bereichen sehr konservatives Land geworden ist, ein Land, das alles auf die Karte des technischen Fortschritts und des militärischen Sichbehauptens gesetzt hat.
„Sehen sie sich Jerusalem an“, sagt er, als wir die judäischen Berge überfliegen, „es ist vielleicht die schönste Stadt der Welt, aber sie wird jetzt planmäßig kaputtgemacht. Die Wohnblöcke, die man rings um die Stadt jetzt auf die Hügel stellt, werden die Schönheit der Stadt zerstören. Man hat die Wahl zwischen wirklicher, auch ästhetisch befriedigender Stadtplanung und der Errichtung von möglichst vielen Wohnungen in möglichst kurzer Zeit, egal wie‘s aussieht. Mag sein, daß das eine schwere Wahl ist, aber ich bin sicher, man hat die falsche Entscheidung getroffen …
Und das arabische Problem könnte Israel noch einmal schwer zu schaffen machen, wenn es auch im Moment den Anschein hat, und vor allem die Israelis so tun, als sei die Lage stabil. Sie ist nicht stabil, sie ist verfahren, fast hoffnungslos verfahren. Und es ist möglich, daß die Zeit am Ende doch gegen Israel arbeitet. Dabei rede ich noch gar nicht von dem Unrecht, das den Arabern schon bei der Staatsgründung widerfahren ist.
Die israelische Gesellschaft besteht heute aus drei Schichten. Ganz unten sind die Araber, und man hat manchmal den Eindruck, daß die Regierung ganz froh ist, dass sie so unterentwickelt sind: Sie sind dann leichter in Schach zu halten. Die mittlere Schicht und die sephardischen Juden, die soziokulturell oft den Arabern ähnlicher sind als die ashkenasischen Juden; deshalb finden Sie Haß auf die Araber besonders oft unter den Sephardim: Die müssen sich unbedingt abgrenzen. Die Schwierigkeiten mit der Eingliederung der Sephardim, mit ihrer Angleichung an den Bildungs- und Ausbildungsstand der ‚weißen‘ Juden müssen intensiv angegangen werden, sonst gibt es schwere innenpolitische Kämpfe; was neulich in Jerusalem passierte mit den ‚Black Panthers‘ ist nur die Spitze des Eisbergs – es gibt Tausende von jungen orientalischen Juden, die keinen Schulabschluss haben, arbeitslos sind und kriminell werden; sind sie aber straffällig geworden, nimmt die Armee sie nicht, und damit haben sie dann noch größere Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Die Bitterkeit und der Haß unter den Sephardim sind gefährlich weit verbreitet, ob zu Recht oder zu Unrecht, ist gleich. Die Unterschiede im Bildungsstand zwischen ‚weißen‘, aus den USA, Westeuropa und Russland stammenden Juden, und den ‚schwarzen‘ Juden müssen ausgeglichen werden.
Und zu Spannungen könnte auch die Verbindung von Staat und Religion eines Tages führen. Der Druck von außen schweißt hier noch alles zusammen. Aber wenn der Druck einmal wegfällt, dann wird sich erst entscheiden, ob das Experiment, das der Staat Israel darstellt, gelungen ist oder nicht.“
Jörg Drews: Tel Aviv –– Sharm-el-Sheikh und zurück, bitte. Eine Reise zur Südspitze der Sinai-Halbinsel.
In: SZ am Wochenende, 19./20.6.1971