Jörg Drews: Kreuz- und Querzüge durch meine Bibliothek
Fragmentarisches Sommergeschenk für einen Freund des Lichts
The Beatles: Ein ganzer Meter mit Katalogen, Büchern, Platten und CDs. Susan Wilcox, meine englische Freundin im Sommer 1963, fragte ich damals einmal nach dieser Band aus Liverpool, von der man in England in letzter Zeit so viel Wesens mache … “Are they any good?” “Oh, they are a horrible lot … uncouth … disgusting”. Ich zog den Kopf ein: Also, wenn sie das sagt … obwohl ihr Geschmack ja eigentlich auch ziemlich middle-class-brav ist … Aber ein paar Jahre später war dann in London die Premiere von „Help!“, ich stand mit Spalier vorm Kino, John Lennon ging in 1 Meter Entfernung an mir vorbei, ich sah den Film, und das machte in meinem Leben „Epoche“, wie Großvater Goethe pompös gesagt hätte, obwohl „Help!“ ja vergleichsweise ‘clean fun’ war; bei den späteren Schmuddelkindern und wilden Kerlen wie den Stones und den Doors wurde ganz anders auf den Putz gehauen. Als ich nach München zurückkam, sagte ich zu meinen Freunden: „Ich muß euch was gestehen. Ich bin Beatles-Fan.“ Ihr Entsetzen ist kaum zu beschreiben – schließlich waren wir alle strenge und eifrige Besucher der Musica viva-Konzerte in München. Allerdings waren besagte Spezis ein paar Monate später ebenfalls Beatles-Fans und in der Dichtung auch John Lennon-Bewunderer.
Walter Benjamin: In der deutschen Sprache haben für mich zwei Autoren eine Sonderstellung, Friedrich Hölderlin und Walter Benjamin, wahrscheinlich deshalb, weil in ihre Sprache Zärtlichkeit in einer Weise eingegangen ist, die ganz einmalig ist; höchstens den schwäbischen Bauerndichter Christian Wagner könnte man ihnen zur Seite stellen. Was aber inzwischen gänzlich unlesbar geworden ist, das ist die sog. Sekundärliteratur zu Benjamin; sie ist unerträglich. Zugleich hat mir keiner je erklären können, was in der berühmten Vorrede zum „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ eigentlich gemeint ist; auch finde ich die Argumente in dem Aufsatz über die „Aufgabe des Übersetzers“ keineswegs triftig, soweit ich sie überhaupt zu verstehen glaube, und warum auch Benjamin so grotesken Unsinn schreiben konnte wie über den Brief Johann Gottfried Seumes an den Mann seiner ehemaligen Freundin (vielleicht sogar Verlobten), in seiner Briefauswahl „Deutsche Menschen“ von 1936. Deren zweite Auflage (broschiert) konnte man übrigens noch in den siebziger Jahren beim Verlag Vita Nova in Luzern ganz normal für 14,80 Sfr kaufen. Und ich Idiot kaufte nur drei Exemplare, statt die ganzen 140 Exemplare aufzukaufen; außerdem verriet ich meinen Fund, und in zwei Wochen waren alle Exemplare verkauft.
Rudolf Borchardt: Dieser bedeutende Mann war ja zugleich ein Hochstapler. Es schaudert einen, das hinzuschreiben. Und er schrieb die wohl männlichste, aber auch die Talmi-feierlichste Prosa der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts – siehe z.B. seinen Nachruf auf Hugo von Hofmannsthal. Aber er hat in seinem Buch „Der leidenschaftliche Gärtner“, geschrieben in seiner tiefsten Einsamkeit in Italien während der Nazizeit, so zärtlich über Gärten und Pflanzen geschrieben wie sonst nur Goethe sie gezeichnet und bedichtet hat, und er hat in seiner angeblich skandalösen „Aufzeichnung Stefan George betreffend“ auf eine fatale Weise Unrecht und zugleich in der Tiefe eine so scharfsichtige Analyse eines bestimmten Stratums deutscher Geschichte und deutscher Mentalitäten geliefert, daß es egal ist, ob man das Geschriebene wissenschaftlich ‚beweisen‘ kann. Und Borchardt hat sich 1907 in einem Brief an seine Mutter erinnert an einen einsamen Gang in Florenz im Frühjahr 1903, wo ihm die ganze Schwere seines Dichterschicksals und seiner kommenden Aufgaben aufging und dies inmitten der blühenden Gärten von Florenz, und da ich diesen Brief hier nicht abdrucken kann, fordere ich Sie auf, ihn zu lesen in dem Band mit Borchardts „Briefen 1907 bis 1914“, München 1995, S. 35 ff., vor allem S. 42 bis 44. Er war es ja auch, der 1943 über den „Untergang der deutschen Nation“ schrieb und als erster konstatierte, daß wir als deutsche Nation in irgendeinem gewichtigen Sinne aufgehört haben zu existieren, auch wenn das jetzige Deutschland, ein recht anständig gewordenes, etwas langweiliges Ländchen, immer noch diesen Namen Deutschland trägt.
Julio Cortázar: Am liebsten würde ich schreiben über die beiden Bände „Reise um den Tag in 80 Welten“ und „Ultimo round“, diese auf große Weise groß gelaunten Bücher. Aber ich will hier was anderes sagen: Es gibt einige Autoren, die ich noch hätte kennenlernen können, aber weil ich dachte, es hat noch Zeit oder weil ich zu schüchtern war oder mir zu albern vorkam, habe ich sie nicht kennengelernt. Dazu gehört Julio Cortázar. Und dazu gehört auch Guillermo Cabrera Infante, gehört der große Kritiker Albrecht Fabri, dazu gehört Henry Miller, und dazu gehörte auch Thomas Mann, den ich noch 1955 in Zürich anzusprechen plante (sich anschleichen in Kilchberg und ihn bei seinem Spaziergang abpassen und dann fragen, wie er …). Er starb, als ich auf dem Weg nach Zürich war, zu diesem – wie ich damals dachte – größten deutschen Prosateur (heute denke ich darüber erheblich anders). Samuel Beckett habe ich wenigstens einmal gesehen. Er saß einmal im selben Bus wie ich auf dem Weg vom Dubliner Flughafen in die Innenstadt. Für drei Sekunden war ich ganz erstarrt und überlegte, ob … Aber was hätte ich sagen sollen: “Excuse me, Mr. Beckett, please allow me to say that I admire your books very much”?
Alfred Döblin: Im November 1980 – kann das sein? ich glaube, so war´s – stand ich im German House in New York in einer kleinen Gesellschaft, welche die Publikation von John E. Woods Übersetzung von Arno Schmidts „Abend mit Goldrand“ – „Evening Edged in Gold“ feierte. Die wunderbare Helen Wolff war da, und neben mir stand Alfred Döblin, und ich dachte zwei Sekunden lang: Das ist ja wunderbar, daß er auch da ist! Es war aber sein Sohn Peter Döblin, der absolut genau so aussah wie der ungefähr 50jährige Alfred Döblin; er sah ihm, wie man bayrisch sagt, „runtergerissen“ ähnlich. Der Eindruck war so intensiv und selbstverständlich, daß ich bis heute denke, ich habe wirklich Alfred Döblin gesehen, dessen frühe Prosa – zusammen mit Carl Einsteins „Bebuquin“, Georg Heyms „Dieb“, Albert Ehrensteins „Tubutsch“ und Gottfried Benns „Rönne“-Prosa den (hier streiche ich einige Adjektive) „Tod in Venedig“ so unendlich weit übertrifft. Deren Prosa eröffnete das neue Jahrhundert! Die stießen die Tore auf! Damit begann das neue Leben!
Heinrich Heine: Ungemischt ist die Freude an ihm nicht, mir noch nie gewesen, noch nicht einmal bei der Lektüre seiner hinreißenden Beschreibung des saufenden und grölenden Touristen- und Studentenvolks auf dem Brocken in der „Harzreise“. Aber wenn Heine dann gar nicht anders mehr kann als ernst sein, dann ist er ein Dichter von metaphysischen Gnaden und mit einem vernichtenden anthropologischen Tiefblicks; man höre:
Gott gab uns nur einen Mund,
Weil zwei Mäuler ungesund.
Mit dem einen Maule schon
Schwätzt zu viel der Erdensohn.
Wenn er doppeltmäulig wär,
Fräß und lög er auch noch mehr.
Hat er jetzt das Maul voll Brei,
Muß er schweigen unterdessen,
Hätt er aber Mäuler zwei,
Löge er sogar beim Fressen.
Das Fragment aus einem geplanten Gedicht über zwei Augen, Ohren Hände etc. aber nur einem Mund des Menschen ist eine höhnische Widerlegung der angeblichen Gelungenheit der Schöpfung, an die ja in letzter Zeit offenbar wieder eine zunehmende Zahl von Menschen vor allem in den USA zu glauben bereit ist (wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten!); es ist ein sarkastischer Spaß auf Kosten der Physikotheologie des frühen 18. Jahrhunderts, noch gang und gäbe bei Poeten wie Brockes (na ja, der hat dafür andere großartige Qualitäten), verspottet natürlich auch schon bei Voltaire und Wezel. – Was hatte eigentlich Eduard Mörike, dies wunderbarste Beispiel des deutschen poetischen ‚Sonderwegs‘, dessen Rang der Welt draußen wahrscheinlich nie klar zu machen sein wird, gegen Heinrich Heine? Was meinte er, als er über Heine sagte: „Er ist ein großer Dichter ganz und gar, aber net eine Viertelstund könnt’ ich mit ihm leben, wegen der Lüge seines ganzen Wesens.“ – ? Spricht aus dem Satz dann doch, wie aus einem der Bücher eines 150 Kilometer südlich lebenden Gegenwartsautors, die Stimme eines Schriftstellers, der zumindest einen Winkel seiner alemannischen Seele nicht ausgelüftet hat? Göttlich aber jedenfalls die Chuzpe, mit der Heine seine wirklichen Wünsche preisgab (und so ähnlich denken wir doch auch, zumindest hin und wieder, und ich weiß auch genau, welche drei ich mir an die von Heine imaginierten Bäume denke):
‚Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Tür einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, läßt er mich die Freude erleben, daß an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben zugefügt – ja man muß seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt worden.‘
Hugo von Hofmannsthal: Nie werde ich verstehen, wie Werner Kraft oder Rudolf Goldschmit diesen Mann so sehr schätzen konnten. Man höre sich nur einmal an, wie er – auf einer der frühesten erhaltenen Tonaufnahmen einer Dichterlesung, nämlich von 1907 – sein Gedicht „Manche freilich müssen drunten sterben“ spricht: es ist der Gipfel des snobistischen Säuselns, es ist der Inbegriff der Verlogenheit, zugleich ein tiefsinniges Beispiel für objektive Verlogenheit in einem bestimmten Typus von Dichtung zwischen ca. 1890 und ca. 1910 Dichtung als parfümierte Ideologie, als gepflegte Moderne-Verweigerung – aber das führt hier ab; wer mir allein nicht glaubt, der lese nach, was Franz Kafka im Februar 1912 über eine Hofmannsthal-Lesung in Prag schreibt. Wobei ich immer noch zugebe, daß nicht alles so falsch und kitschig bei ihm ist wie „Manche freilich …“ oder das Gedicht „Die Beiden“, sondern daß es da auch das Prosafragment „Andreas oder die Vereinigten“ gibt, und die Komödie „Der Schwierige“ besticht mich noch immer, ein bißchen wenigstens. Ulrich Weinzierl hat neulich ein sehr kritisches, bisweilen im blanken Hohn landendes Buch über Hofmannsthal und seine Umgebung geschrieben, das sich aber immer noch im Ton zurückhält, wenn etwa Hofmannsthals Haß auf die Arbeiter zur Sprache kommt und seine Drückebergerei im Krieg (bei gleichzeitiger öffentlicher Begeisterung für die Männer an der Front, versteht sich). Eigentlich hätte Weinzierl sogar seinen eigenen Text weglassen können und hätte nur die Hofmannsthal-Zitate, vor allem aus den Briefen des Dichters, hintereinander zu hängen brauchen – das hätte schon gereicht, um das Buch zu der Hinrichtung zu machen, die es ist.
Uwe Johnson: Als ihm in Darmstadt der Büchner-Preis verliehen wurde, sollte ich nach der Feierlichkeit den Text seiner Rede bei ihm abholen; der würde am folgenden Wochenende die Süddeutsche bringen. Johnson sah mich stehen, und als ich dann auf ihn zutrat, nahm er die Pfeife aus dem Mund und sagte: „Aha, Sie sind der angekündigte Journalissimus!“ und gab mir das Typoskript seiner Rede. Was heißt, daß der Mann seinen Arno Schmidt kannte: Der Satz war nämlich ein Zitat aus Arno Schmidts „Gelehrtenrepublik“, und er wußte, daß ich wußte, daß er ein Schmidt-aficionado war, der zum Beispiel mit einem anderen Schmidt-Leser einen Briefwechsel über Eisenbahnerisches bei Schmidt führte; Jahre vorher hatte ich ihn einmal in München im Anschluß an seine Lesung aus den „Mutmaßungen über Jakob“ nach seiner Einschätzung Arno Schmidts gefragt, und er antwortete: „Ich schätze Arno Schmidt sehr, aber man kann nichts von ihm lernen.“ Ich war baff über den zweiten Teil des Satzes, glaube aber heute, daß Johnson recht hatte: Von Schmidt glauben lernen zu können, führt in die Epigonalität. Der Ausnahmen sind wenige.
James Joyce: „Ulysses“. 1960 kaufte ich in einem etwas schmuddeligen Billig-Bookshop in der Charing Cross Road in London meinen „Ulysses“ in der wunderbar grobgrünen Bodley Head-Ausgabe. Das Buch hatte im Fenster gestanden neben einem Exemplar von “A History of Flogging in the Army and Navy” eines mir entfallenen Autors. Das war die Position des „Ulysses“ in England in den frühen sechziger Jahren. Übrigens, Joyce war Ire, der allerdings nie seinen british passport aufgab, also als Brite starb. Der “Oxford Companion to English Literature” sagte in seiner 1958er Auflage, „Ulysses“ sei “by some intellectuals considered to be one of the greatest novels of the century”. “… by some intellectuals”: halt so perverse, abwegige verächtliche Kerle, wie Iren.
Wolfgang Koeppen: Viele Jahre wartete die deutsche Welt auf – endlich mal wieder – einen neuen Roman von Wolfgang Koeppen. Ein tragischer Fall von writer’s block, Sie verstehen … Eines Abends waren wir in Schwabing zu Besuch bei Carl Werner, merkwürdiger Mann, bei dem ich auch ein oder zwei Mal Koeppen sah; dichtete selbst, spielte sich auf als geheimnisvoller Mäzen, sollte unehelicher Sohn (einer der letzten) Wilhelms II. gewesen sein, und im Nebenzimmer tippte es; die Tür war geschlossen. Was war das? Wir schauten Carl Werner fragend an. Er: „Mhm. Der neue Roman von Wolfgang Koeppen ist fertig, er wird gerade abgetippt. ‚In Staub mit allen Feinden Brandenburgs‘. Kommt im Herbst.“ Er kam nie. Wer hat da wen angelogen? Koeppen nicht nur Unseld, sondern auch Werner? Oder nur der uns? Oder glaubte Werner selbst an die Chose? Oder ließ er irgendwas abtippen und verschaffte damit nur Koeppen Aufschub? Später stellte sich heraus: Carl Werner war so arm wie eine Kirchenmaus und ganz einfach der Sohn eines Münchner Metzgermeisters. Und wie voller Ehrfurcht waren wir im Moment der Koeppen betreffenden Offenbarung!
Thomas Mann: Bis heute weiß ich nicht recht, ob mir bei Nennung seines Namens gleich übel werden soll oder ob er doch noch immer irgendwie der in unserer Familie verehrte „Meister Thomas von der Trave“ ist. Er nimmt, sagt zum Beispiel sein gerühmtes Tagebuch, ein Wannensitzbad, „mit Katjas Hilfe“, in der Turnhose, und er höhnt sehr von oben und leicht angeekelt über den Tod Theodor Lessings, den die Nazis im Sommer 1933 in Karlsbad ermorden ließen: das sei wohl Lessing angemessen, aber nicht ihm. Es ist ganz unerträglich. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut, vor allem aber – so ist das bei Thomas Mann zu verstehen – manierlich und immer korrekt angezogen. Ob wohl die Dauer-Verleugnung bzw. Nicht-Betätigung seiner Homosexualität auf die Falschheit, das Fassadäre seines Stils durchschlug? Wenn ein Kritiker in jungen Jahren schon ein unwandelbarer Thomas-Mann-Liebhaber ist, besteht der Verdacht, daß er von feinsinniger Frühvergreisung befallen ist. Zugleich muß ich zugeben, daß „Buddenbrooks“, „Mario und der Zauberer“, die Josephs-Romane und vor allem der Essay „Bruder Hitler“ doch bedeutende Opera sind: „Bruder Hitler“ ist Hitler so auf der Spur wie Borchardt George in der „Aufzeichnung Stefan George betreffend“. Aber haben Sie in letzter Zeit mal das berühmte „Schnee-Kapitel“ aus dem „Zauberberg“ wieder gelesen? Es ist von unfaßbarer Geschwätzigkeit und Leere, und weil er von seiner Bedeutsamkeit tief durchdrungen ist, gerät ihm das Kapitel viel zu lang. Die Germanisten-Kollegen aber lassen die 583. Dissertation über ihn schreiben.
Heinrich Meyer: Dieser 1904 geborene und 1977 gestorbene Mann hat, vom Dienst suspendiert, 1946 ff. ein Buch über Goethe geschrieben, 1949 veröffentlicht, in dritter Auflage 1967 erschienen, erneut veröffentlicht 1991, das ich für eines der klügsten über Goethe in den letzten 50 Jahren halte; es hat den rätselhaften Titel „Goethe. Das Leben im Werk“, den man erst entwirren muß, er ist nicht biographistisch gemeint. Bei der Neuauflage 1991 erhielt das Buch nicht eine einzige Besprechung. Das kommt u.a. daher, daß die meisten Germanistenkollegen jenem Typus von Gelehrten angehören, der hauptsächlich mit dem Abfassen oder der Lektüre von DFG-Gutachten beschäftigt ist oder in Gremien Zeit verbringt, weil er Macht ausüben möchte – was ihn viel mehr interessiert als Goethe zu lesen oder über Goethe zu lesen. Besagter Heinrich Meyer lehrte in den USA und geriet in den vierziger Jahren – verständlich aber dennoch völlig blödsinnigerweise – in den Nazi-Verdacht, wurde wie gesagt, zwangspensioniert, las in dieser Zeit die 144 Bände der Weimarer Ausgabe und schrieb besagtes Buch, das ich für erfrischend klug halte. Seine dritte Frau, die ihn, den 1977 Gestorbenen, um viele Jahre überlebte, sagte nachdenklich und bewundernd über ihn: “The man was a genius.” Ich stimme ihr zu. Er schrieb noch ein zweites umfangreiches Buch: „Was bleibt! Bemerkungen über Literatur und Leben, Schein und Wirklichkeit“, 1966 erschienen, worin er auf eigenwillige, um nicht zu sagen: haltlose Weise mäandrierend durchdiskutiert, was von der deutschen Literatur der Vergangenheit bleiben werde, was natürlich vor allem heißt: was er wünsche, daß es bleiben werde, aber leider sind ja die Leute so blöde, und alles ist vergänglich, oder jedenfalls sind wir – und vielleicht eben auch unsere Urteile – alle sterblich. „Was bleibt“ ist auf jeden Fall eine Fundgrube, egal was die Zunft oder eine größere Öffentlichkeit sagt. In geistigen Dingen hat noch nie die Majorität entschieden.
Erica Pedretti: Von ihr stehen nur vier Bändchen in meiner Bibliothek. Ich bin erst spät auf sie aufmerksam geworden, Peter Hamm hat mir immer wieder ihre Bücher ans Herz gelegt, aber ich habe nicht zugehört. Es gibt von ihr ein Buch mit dem Namen „Engste Heimat“, Frankfurt / Main 1995, Taschenbuchausgabe 2002, und daraus zitiere ich den Abschnitt „Der Wurm“, um Sie anzufixen:
Mir eine Zahnlücke geträumt, aus der windet sich ein Wurm, um wieder darin zu verschwinden. Heiliger Nepomuk, warum fehlt mir ausgerechnet vorn ein Zahn? Oben vor der Roulotte erwisch ich ihn, ein kurzes Wurmende, ziehe und ziehe am kleinfingerdicken, schönen Regenwurm, wie eine Gärtnerin ihn sich wünscht, mit gieriger Hand nach Schätzen gräbt und froh ist, wenn sie Regenwürmer findet, ja, wenn auch nicht gerade in ihrem Mund, in ihrem Hals oder ihrem Bauch, versuche, ihn aus mir herauszuziehn, aber er entzieht sich, sobald ich im geringsten lockerlasse, so faß ich fest und ziehe, ohne ihn zu zerdrücken oder gar zu zerreißen, ziehe, was nun stückweise gelingt, siehe da, dieser hellrosa, hautfarbene Regenwurm hängt schon ein Stück vor mir herunter, rutscht allerdings gerade so schnell wieder zurück, in mich hinein, ich ziehe, was ich kann, nein, darf ihn nicht zerreißen, jedes Stück Wurm bleibt lebensfähig, ergänzt sich selbst das Fehlende und wächst als ganzer Wurm weiter, auch in mir würde das abgerissene Ende sich zu einem neuen Wurm entwickeln und weiter gedeihen, Nepomuk weiß, wozu, also zieh ich nun an dem nun bald meterlangen Wurm, es würgt mich der Ekel, würgt mehr als den Wurm aus mir heraus, ich halte ihn fest vor meinen Lippen, ziehe, aber jetzt geht es nicht weiter, wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet, keinen Millimeter mehr, blockiert, ich reiße, doch nützt das nichts, der Wurm hat sich festgebissen.
‚Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet,
Der immerfort an schalem Zeuge klebt,‘
„Hattest du das vergessen?“ fragt der Großvater:
‚Mit gier’ger Hand nach Schätzen gräbt,
Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet.‘
Was ist das? Ist das nicht bewundernswert unheimlich? Braucht man dazu Psychoanalyse? Stammt das Zitat in den Vers-Partien nicht aus dem „Faust“? Was für ein Roman! Was für ein Tagebuch! Ich bin außerordentlich gespannt auf das nächste Buch der Autorin. Sie scheint mir nicht so offenbar ‚modern‘ oder ‚avantgardistisch‘ oder ‚laut‘ zu sein wie vieles andere an gegenwärtiger Literatur, aber was sagt das schon, etwa auch angesichts solcher Bücher wie – um Beispiele aus der Vergangenheit zu nennen – Ernst Penzoldts „Korporal Mombour“ oder „Die Powenzbande“ oder „Süße Bitternis“?!
Dieter Roth: Was mich immer grämen wird, ist die Schematik, die Phantasielosigkeit, das Einfallslose, das Mit-dem-Strom-Schwimmen, die Konventionalität der Lektüre der Literaturwissenschaftler, des allgemeinen Publikums, ja sogar der Kritiker. Ich schau mir die ganze Breite der Themen und Formen und Verlage an, die ‚belletristische‘ Bücher publizieren, und finde immer wieder dieselben Titel überall: in den Literaturbeilagen, in den Literaturgeschichten, in den Empfehlungen zu einem ‚Kanon‘ der deutschen Literatur. Wie wenige Leute probieren, ein bißchen nebenhinaus, nicht bloß im main stream Titel zu finden? Wie schnell sind alle zufrieden mit dem gängigen Gebotenen? Macht man eine Vorschlagsliste derer, die bei einem Literaturfestival lesen sollen, schlägt der germanistische Kollege doch glatt wieder Durs Grünbein für eine Lesung in der Sparte Lyrik vor, und danach gleich den Langweiler und Dünnbrettbohrer Dirk von Petersdorff. Man kann, man muß ja wohl auch diese beiden irgendwann zur Kenntnis nehmen, aber wenn man selbst mal was vorschlagen darf, müssen es doch nicht Autoren sein, die von Flensburg bis Lindau ohnehin alle Volkshochschulen vorschlagen. Es ist zum Verzweifeln. Alle sind so brav und nett geworden und sind überglücklich, wenn endlich mal ein elegantes und intelligentes Buch erscheint, das klar aufgebaut ist, das man gleich versteht und mit den richtigen Termini belegen kann: Daniel Kehlmanns „Vermessung der Welt“, dessen 450 000er Erfolg – Stand: Februar 2006 – doch niemand rechtfertigen kann, wenn gleich daneben ein wirklich unheimliches und wühlendes Buch steht, das im selben Zeitraum spielt, Thomas Stangls „Der einzige Ort“ (2004 bei Droschl in Graz), das nun wirklich ins Herz der Finsternis in Afrika führt und nicht so rasch auf den Begriff zu bringen ist wie Kehlmanns wünschenswert überschaubar gegliedertes Büchlein. Und was hat das mit Dieter Roth zu tun? Daß er immer noch nicht wahrgenommen ist als großer Schriftsteller, sondern immer noch nur als bildender Künstler rubriziert wird (und im Kunst-Business hoch gehandelt ist, da schon), als Autor aber, als Sonettist, als Autobiograph, als entwaffnender Vertreter einer Kalauer- und Murks- und Verstörungs-Ästhetik, als Vertreter auch einer Ästhetik des pathetischen, gezielt ‚schlechten Gedichts‘ einfach nicht angekommen ist: Da ist das Kunst-Publikum und die Kunst-Kritik vielleicht wirklich weiter als das literarische Publikum! Jedenfalls ist da die Reihe der Dieter Roth-Bände bei Hansjörg Mayer in Stuttgart und London, und da ist als letztes der kleine Band „Da drinnen vor dem Auge“ in der edition suhrkamp, der wieder die Möglichkeit bietet, einen bizarren und einmaligen Autor kennenzulernen, wenn man schon weiß, daß Dieter Roth ein großer bildender Künstler war. Es gibt eben Maler und bildende Künstler, bei denen man spät und in verschiedenstem Sinne, aber wirklich umso überraschter erkennt: Der kann ja schreiben! und wie! Was Dieter Roth angeht: Es mag ja von der jeweiligen Ästhetik abhängen, aber: Es gibt bei ihm ein paar Sonette, ein paar Gedichte, ein paar verknorzelte Prosastücke – ein irres Stück Autobiographie auch! – , die so koboldartig übers Blatt sausen und dann auf dem Blatt stehen wie einst im Mai die Sachen von Kurt Schwitters. Laßt Euch doch nicht mit billigerem Kram abspeisen, wenn Ihr’s teuer haben könnt, adäquater, Euch gemäßer, näher am state of the art!
Harry Rowohlt: Irgendwann in den neunziger Jahren las er in der Kreisbibliothek in Eutin/Holstein bis drei Uhr morgens. Am Ende hockten da nur noch zwei Leute vor ihm, die beiden total müde und er total voll, und der Witz des Abends war natürlich seine Maßlosigkeit, aber das war nicht der einzige Witz, Gott sei Dank. Jetzt, nach seinem 60. Geburtstag, stehen immer mehr Bücher und CDs auf meinem Regal mit Sachen von ihm, und neulich bekam er auch den Deutschen Hörbuchpreis in der Kategorie „Best of All“ (na ja, indirekt) für seine Sprecherrolle in dem Hörspiel „Unterm Milchwald“ von Dylan Thomas, gesendet im MDR 2005. Aber vor Eutin damals, war doch noch was im Hamburger Literaturhaus? Irgend jemand las, Harry Rowohlt war wohl auch da, las aber nicht an dem Abend, und dann war da noch jemand, ein Mann, dessen Namen ich vergessen habe, und ich, und die Millionärin, jedenfalls eine reiche Frau, die bisweilen auch großzügig das Hamburger Literaturhaus unterstützte. Dann fuhren wir noch zu viert in eine Kneipe, die Millionärin am Steuer ihres knallroten teuren Sportwagens mit vorne zwei körperformangepaßten Sitzen, die man aus der Ferne schon 10 Minuten vorm Einsteigen beheizen konnte mit der Fernbedienung, damit der Hintern nicht so fror beim Einsteigen, wenn der Wagen lange geparkt gewesen war (nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.). Harry Rowohlt machte es sich auf der engen Rückbank quer bequem (na ja, bequem; längs hätte er gleich gar nicht ’rein gepaßt), ich saß neben der Fahrerin, und dann setzte sich der Mann, dessen Namen ich vergessen habe, auf meinen Schoß, lieber hätte er doch fahren sollen und die Millionärin sich auf meinen Schoß gesetzt, aber nein. In der Kneipe wandte sich Harry Rowohlt dann von uns ab, die Millionärin ging ihm irgendwie auf die Nerven; sie war zwar naiv und branchenfremd, aber eigentlich patent. Sie ist dann später verarmt, weil ihr Mann, ein Bänker, fallierte oder sich irgendwann verpißte, kaufte sich eine neue Identität und war weg, und sie hat ganz tapfer ihren Sohn großgezogen. Sie hatte eine Pilotenausbildung und machte dann Lufttaxiflüge, um Geld zu verdienen, sie flog drei Leute zu einem Urlaub nach Spanien und erlitt mit denen den Fliegertod: herunter kommen sie alle. Ich bewunderte sie sehr, weil ich mich selbst nicht traute, die Pilotenlizenz zu machen, weil ich dachte: Ich bin einfach zu nervös, am Steuer gefährde ich die Menschheit, also lieber sein lassen. Einmal nahm sie mich mit in ihr Haus irgendwo am Seevetal, südlich von HH, ich übernachtete bei ihr (nein, nicht was Sie denken). Ich konnte aber kaum schlafen, denn was sah ich in ihrem Haus? „Was ich nun sah, war über alle Beschreibunk!“ : (Friedrich von Meyer(n)): Sie war Sammlerin, und in ihrem Haus standen überall Hunderte und Hunderte von – Kerzen, Kerzen in sämtlichen Farben, alle noch nie angezündet und alle in einer Länge von ca. 25 Zentimetern. Bücher waren fast gar keine im Haus. Ich sagte zu ihr: „Was tust Du eigentlich unter den Literaten, Du bewegst Dich doch sonst unter ganz anderen Leuten?“ „Die passen mir nicht, ich wollte mal die Literaten ausprobieren.“ Offenbar hat sie sich dann aber doch nicht recht getraut. Ich glaube, sie hat auch immer befürchtet, am Ende doch nur als reiche durchgeknallte Frau geoutet und das heißt: verachtet zu werden. Wie gesagt: Harry Rowohlt ging sie auf die Nerven. Was verständlich war. Aber ungerecht.
Eberhard Schlotter: Eine ganz schöne Menge Kataloge und Bücher stehen auf dem Brett, von dem rührenden kleinen Katalog zur Aachener Schlotter-Ausstellung von 1957 mit drei Texten von Arno Schmidt, schon etwas ramponiert – Wie bescheiden waren wir damals! – über den großformatigen Band mit dem „Zweiten Programm“, 1989 bei Haffmans – Yes, it’s Adenauer-time 1957, und ich mag den Text und das Triptychon die nach bundesdeutscher Fifties riechen immer noch, und Arno Schmidt hätte mehr solcher Texte schreiben sollen – , bis zu dem Band von 1987: Eberhard Schlotter: Malerei 1941 – 1986: prächtig! Mein Lieblingskatalog aber ist „Auf schwarzem Grund / Al fondo negro. Aus dem Radierwerk 1945 – 1984“, 1985 mit Texten von Günter Flemming bei der Galerie Stübler erschienen. Das ist schwarzes Gold! Und sieben der Blätter besitze ich selbst …
Zu meiner Schande muß ich am Ende gestehen, daß ich heute schon nicht mehr weiß, wann ich Eberhard Schlotter zum ersten Mal besuchte – etwa 1967? – , und auch nicht mehr rekonstruieren kann, wann mir zum ersten Mal aufging – 1971? – daß Schlotter nicht nur eine schöne Schrift hat und schöne Briefe schreibt, sondern: daß der Mann schreiben kann! Der hätte auch Schriftsteller werden können! Es ist das große Verdienst Günter Flemmings, daß er die Serie „Geschichten hinter Bildern“ samt den Sonderbänden herausgegeben und das Bücherhaus in Bargfeld sie publiziert hat. Was für eine gelassene, witzige, unverkrampft atmende Prosa! Wie könnte man es anstellen, davon eine Taschenbuchausgabe zu machen und die unters Volk zu bringen? Warum diese Prosa aber so gut ist, ohne auf Kunst zu prätendieren, beschreibe ich dann zu Eberhard Schlotters 90. Geburtstag.
Hans-Henning Teich: Der ist gar kein Schriftsteller, er wurde nur einer dadurch, daß Walter Kempowski Aufzeichnungen von ihm wie von so vielen anderen, die durch ihn zu Autoren wurden, in seine große Montage „Das Echolot“ hineinnahm. Teich also trägt frühmorgens am 1. Januar 1943 – es sind die letzten Tage vor dem Untergang der 6. Armee in Stalingrad – in seiner Münchner Kaserne in sein Tagebuch ein: „Ja, nun kann ich schlafen gehen, denn ich habe ja die 9. Symphonie gehört“. So hing einst die Bereitschaft zu sterben mit dem Sylvesterritual des Bürgertums und mit Bildung als stellvertretender Metaphysik zusammen. Es ist tränentreibend und es stammt aus einem Deutschland, das es schon lange nicht mehr gibt.
(Kann und muß fortgesetzt werden.)
Jörg Drews: Kreuz- und Querzüge durch meine Bibliothek. Fragmentarisches Sommergeschenk für einen Freund des Lichts. In: Schatten. Festschrift für Eberhard Schlotter zum 85. Geburtstag. Hrsg. Von Hans Reinhardt und Thomas Reinheimer. Darmstadt: Justus von Liebig 2006, S. 112 – 116.