Jörg Drews: „Überaus schöne und blaue Manöver“. Laudatio auf Friederike Mayröcker zum Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Künste 1996
Madeleine-Erlebnisse sind selten. Wenn allein unwillkürlich aufsteigende Erinnerungen die Substantialität von Erinnerung verbürgen und Authentisches statt Ausgedachtes in den Erzählfluß einspeisen, in der ganzen Suche nach der verlorenen Zeit aber, nach Samuel Becketts Beobachtung, nur acht die Authentizität des Erinnerten verbürgende Madeleine-Erlebnisse statthaben, dann fragt man sich doch, womit Marcel Proust die sieben Bände seiner „Recherche“ gefüllt hat: mit willkürlich Ausgedachtem, mit Kopfgeburten, mit – im schlechten Sinne ,fiction‘? Das Authentische, poetisch gesprochen: das Wunderbare ist etwas Punktuelles; ein Einfall hat keine (oder fast keine) zeitliche Erstreckung, und so kommt für einen Autor eben alles darauf an, gewissermaßen Zeit zu gewinnen, um auch längere Text-Strecken organisieren zu können. Als poetisches Stilprinzip ist das Wunderbare ein Ideal, es zu realisieren aber muß man praktisch-findig sein. Wenn eine Autorin wie Friederike Mayröcker das Prinzip von Schock, Überraschung, unerwarteter Wendung, unerwarteter Verbindung von Elementen in so vielen – das heißt bisher fast achtzig – großen und kleinen Büchern auf so bewundernswerte Weise, in solcher Dichte durchgehalten hat, in Gedichten und Prosa-Stücken der diversesten Art, in Theater-Stücken und in Hörspielen, in Kinderbüchern, in Zeichnungen und Texten zu Kunstwerken, die über Beiträge zu Ausstellungskatalogen weit hinausgehen, so kann ihr nicht nur Inspiration pur geholfen haben, sondern es muß ihr auch inspirierte Findigkeit zu Hilfe gekommen sein. Das Vergißmeinnicht und die Palme zu paaren, sie als, wie in dem kleinen Prosastück „als“ aus den sechziger Jahren geschehen, bildliche Erinnerungen zu koppeln und sich entlang dieser Bilder-Flucht in einem kleinen Text als einem flüchtigen Tunnel durch die Jahre zu bewegen; eine „Arie auf tönernen Füszen“ so zu inszenieren, daß Musik, Gestelztheit und Gefährdetheit in dem Text konkret werden; die „Tagesberichte einer Astralgärtnerin“ (also einen Quasi-Science-Fiction-Text) sich auszudenken – das mag ja vor allem noch eine Sache der Begabung zu poetischem Esprit sein, doch es bedarf auf längere Strecke dann doch des Gesättigtseins von Realem und vor allem von Vokabulärem. Die Lektüre spült einem die Wörter her, die planmäßig planlose Lektüre – „Es ist nicht das schlechteste Wild, das bei planlosen Streifzügen aufgespürt wird“, wußte schon Lichtenberg – und das zärtlich-süchtige Notat aller Wort-Schätze, die sich einem anbieten, und dazu gehören nicht zuletzt die Bilder der Träume. Die aber notierte oder notiert nicht irgend jemand, sondern die Dichterin Friederike Mayröcker, und das dürfte schon den ganzen Unterschied machen. Ihre Literatur stellt einen Raum dar, der einerseits abgegrenzt ist – wir können das Korpus ihrer Werke ja mit Titeln benennen und damit von aller literarischen Umgebung unterscheiden – und doch andererseits überall permeabel bleibt zu Büchern anderer Autoren und Briefen anderer Menschen: ein Ausschnitt aus einem Kontinuum. Das Traumhafte an ihren Texten, oft bemerkt und oft auch so festgestellt, als erkläre dies sehr viel daran – aha, sie notiert ihre Träume! –, ist ganz entscheidend nicht etwas Inhaltliches, auch noch nicht einmal etwas Verbales, sondern etwas Methodisches: Alles kann zu allem verschoben, alles kann mit allem verdichtet, alles muß Bild werden – und dann gibt es immer noch so etwas wie Bearbeitung im Dienste einer thematischen und/oder atmosphärischen Intention. Wahrhaft, wie Saint-Paul Roux an seiner Zimmertür auf einem Zettelchen verkündet haben soll, wenn er schlief: „Le poète travaille.“ Das enthielt ein Stückchen kalkulierte Mystifikation; die ganz unmetaphorische „Arbeit“ am Träumen und Traumnotat wollen wir ganz nachdrücklich nicht unterschlagen, wenn wir sagen: „La poète travaille.“
Unsere Hieronyma im Gehäus’ – und daß sie sich hierzu in den letzten Jahren immer mehr entwickelte, notiert sie selbst – liest und ,übersetzt‘ nicht ruhig und Gott vertrauend wie der heilige Hieronymus, sondern nervös und am Übersetzen oft verzweifelnd. Die Schrift ist nicht gesichert, sondern die Dichterin selbst ist ja aufgerufen, sie überhaupt erst zu schreiben, und sie übersetzt auch in einem anderen Sinn als der heilige Hieronymus; ihr nämlich ist aufgegeben, „jeden Morgen von neuem anzufangen, sich mit der Übersetzbarkeit von Materie in Sprache auseinanderzusetzen“. Realia und Existentiala hat sie so wie wir alle, aber noch mehr, denn notfalls brauchen wir Nicht-Dichter nichts zu ,verbalisieren‘, wie das so schön heißt, sondern können auch einfach averbal vor uns hinbrummen. Das darf sie aber per definitionem nicht; sie hat zu sagen, was sie leidet, damit wir’s – sympathetisch und genußsüchtig, befremdet und uns identifizierend – lesen können. Dafür hat sie nach Wörtern zu haschen, um Worte draus zu machen; sie jagt nach den Wörtern, um die Realia zu bezeichnen, und sie kann Dinge erst real werden lassen, wenn sie die Wörter dazu hat, wenn wortgewordene Wörter die Realia induzieren. „… das Einfangen der Worte mit dem Schmetterlingsnetz der Inspiration“ ergibt Inspiration; denn die eingefangenen Wörter sagen viel mehr, als die Autorin vorher wissen konnte, die sich überwältigen lassen muß, um dann konstruktiv dagegenzuhalten. Es ist wahrhaft wie in der Brüder Grimm märchenhaftem Vorwort zu ihrem Wörterbuch, wo Jakob vom Exzerpieren von Büchern, gemeinsam an ihrem riesigen Schreibtisch sitzend, spricht und von der herrlichen Unabsehbarkeit ihrer Arbeit:
wie wenn tagelang feine, dichte flocken vom himmel niederfallen und bald die ganze gegend in unermeßlichem schnee zugedeckt liegt, werde ich von der masse aus allen ecken und ritzen auf mich eindringender Wörter gleichsam eingeschneit.
Wer das Arbeitszimmer Friederike Mayröckers kennt oder Photographien hiervon gesehen hat, der wird die vielen überall angehefteten Zettel mit Wort-Funden sowohl als die Schmetterlinge wie als die Schneeflocken nach ihrer Verschiebung ins Poetische erkennen.
Man darf sich das aber nicht zu romantisch vorstellen. „Dichten – ein unbarmherziges Geschäft“; der Satz Gottfried Benns klingt zwar männlich barsch, aber die Anstrengung, etwas Verantwortbares, und das heißt: etwas länger als bis kurz nach der nächsten Buchmesse Haltbares und Diskutables zu schreiben, ist zehrend groß; auch hiervon sprechen, sowohl inhaltlich wie in der Faktur, die Bücher von Friederike Mayröcker. Wenn man auch mit guten Gründen der Meinung sein kann, ihre Dichtungen seien ein von der feministischen Fraktion übrigens noch ziemlich übersehenes Beispiel für weibliches Schreiben – dies jetzt gemeint in seinem sehr ernsthaften Sinn, mit einem bestimmten theoretischen Hintergrund –, so bleibt doch, daß die harte und entschiedene Auffassung von Literatur und dem, was sie dem Autor abverlangt, Friederike Mayröcker in diesem Punkt solchen ,male chauvinists‘ wie Gottfried Benn näher ist als mancher Autorin. Das heißt auch, daß ihre Literatur auf einer gewissermaßen triebhaft intensiven und zugleich geradezu transzendenten Verpflichtung gegenüber der Kunst beruht, einer Verpflichtung, die weder ausreichend zu definieren noch zu relativieren ist über die Geschlechtszugehörigkeit des Autors bzw. der Autorin. Schöpfertum ist sozial zunächst einmal gar nicht sehr nett und verbindlich; es hat etwas zu tun mit Eigenbrötelei, Einsamkeit, idiosynkratisch-egoistischem Sich-Verschließen, Geschlagensein mit Absonderungsbedürfnis. Und Friederike Mayröcker spricht auch davon, sie spricht zunehmend davon, daß sie in ihrer Klause sitzt und zugleich davon phantasiert, der „Tiger von Eschnapur“ zu sein, künstlerisch durchaus aggressiv und auf dem Sprung, lachhafte Wildheit sich erträumend, obwohl sie diese doch nur in der sublimierten Form der Schrift realisieren kann. Das soziale Element ihrer Literatur besteht zunächst einfach nur darin – aber das ist dann doch eine ganz wichtige, manchmal rührende, flehentliche Öffnung aus der Monomanie heraus –, daß briefliche Dialoge mit Personen und mit anderen Texten alle Texte und gerade auch ihre großen Texte der letzten fünfzehn Jahre durchziehen; gekannte, gedachte Personen sind intensiv anwesend in Friederike Mayröckers Texten, als Anwesenheiten des Geliebten, des Kollegen, der anderen Dichterinnen und Dichter, und das heißt, begrifflicher gesprochen, daß ihre Dichtung ein bekanntermaßen hochgradig intertextuell ist. Indem man dies fashionable Wort gebraucht, muß man schon wieder grinsen, denn realiter herrscht in Friederike Mayröckers Texten intime Dankbarkeit gegenüber den Mit-Schreibenden und zugleich eine Art von Beklauen, das sich aber zu Recht als Hommage an den Expropriierten versteht.
Bei der Lektüre ihrer Prosa-Bücher seit Die Abschiede von 1980 muß man sich bisweilen geradezu zur Ordnung rufen, nicht in den ich-erzählenden Stimmen nur sie selbst zu sehen, so schrankenlos ist Friederike Mayröcker in ihren Sensibilitäten, ihren Närrischkeiten, ihren Idiosynkrasien anwesend. Und doch hat sie zu Recht davon gesprochen, sie habe „Biographielosigkeit“ zu einem ihrer Textprinzipien gemacht. Das stimmt insofern, als ihre Texte es nicht nahelegen, sich ihnen biographisch oder psychobiographisch, gar entlarvungspsychologisch zu nähern. Da verzehrt doch die Sprache das krud Biographische und Inhaltliche; wir können als aufmerksame Leser höchstens nach einiger Zeit ahnen, welche Komplexe von Erlebtem in die Texte eingegangen sind, doch das wird so transformiert, in Textautonomie überführt, daß Persönliches im Sinne von Privatem aufgesogen wird und etwas so Intimes wie Abstrahiertes sich einstellt: ein Ton, der – mit Verlaub, es gibt so etwas, und bei ihr ganz ausnehmend stark – Mayröcker-Sound. Alles ist genau bei ihr, aber nichts deutlich. Um eine Formulierung Rudolf Borchardts zu modifizieren: Sie hat nichts als Rauschen; „ihr ist am Schmerz genug, in sich zu lauschen.“ Sie ist offen und diskret, wenn das heißt, daß sie sanft ablenkt von indiskreten Nachfragen.
Ähnlich verhält es sich übrigens bei ihrem Verhältnis zur Psychoanalyse. Friederike Mayröcker hat nicht nur – wie man so sagt – ,Freud gelesen‘, sondern hat ihm vor allem abgelauscht, was für Arten der Verknüpfung von ,Partikeln‘ es gibt, von sprachlich-bildlichen Partikeln, die sich in solchen psychischen Produkten wie Traum und Tagtraum verketten können und also wie poetische Abläufe zu strukturieren wären, die anders organisiert sind als über die berühmt-berüchtigten Quasi-Novellen und Symbole, von denen die meist sehr literaturfernen Psychoanalytiker meinen, sie seien so genuin hoch-künstlerisch. Sie hat – mit anderen; beginnend schon mit den Surrealisten – geholfen, die Psychoanalyse dem Literaturverständnis der Analytiker und auch Freuds selbst zu entwinden, und hat sie auf eine Weise konstruktiv gewendet, von welcher die konservative Ästhetik der Feinsinnigen unter den Analytikern sich nichts träumen läßt. Ihre Texte entziehen sich einem literaturpsychoanalytischen Zugriff gängiger Art, weil sie den Interpreten eigentlich nur Tautologien übrigließen. Nach der Erfindung der Psychoanalyse in der Nachfolge der großen Psychologen des 19. Jahrhunderts, nämlich der Romanciers, mußten die Erzähler des 20. Jahrhunderts auf diese neue Lage reagieren, in der die Literatur ja nicht mehr die Psychologie an Scharfsinn der Einsicht in den Menschen überbieten konnte. Von Joyce über Musil bis Beckett haben wir Beispiele des Erzählens nach der Psychoanalyse vor uns, bis ins völlig Apsychologische gesteigert wie bei Beckett, bei Friederike Mayröcker aber sogar mit einer erheiternden Wendung: Was bei ihr wie ,Assoziation‘ aussieht, muß verfahrenstechnisch-literarisch genaugenommen „Montage“ heißen, und da steckt der ganze Unterschied.
„Nämlich ich habe das Glück, ein ganz schwacher Mensch zu sein“, – das ist aufrichtige Verzagtheit, die hier spricht, doch der Satz spricht auch von der Chance, die darin steckt, ein Spiel von jedem Druck der Luft zu sein, denn dies Spiel von jedem Druck der Luft kann man auch umformulieren zu „In Böen wechselt mein Sinn“, dann ist es mehr als eine verzagte Selbstbezichtigung, es ist fast eine Strukturbeschreibung des Inneren gerade auch ihrer großen Prosa der letzten Jahre, und es ist, wenn man sich Freiheiten herausnimmt mit Luftdruck, Böe, Inspiration, ,spiritus‘, eine verdeckte Rede vom Kommen des immer ersehnten, immer umworbenen ,creator spiritus‘ der Künstlerinnen und Künstler, Ausdruck von Hochmut und Demut zugleich eines – biblisch gesprochen – Weibes, dem ein hoher Auftrag verkündet wird und die mit der Beteuerung ihrer Schwäche und Unwürdigkeit antwortet. So sich selbst wahrzunehmen wäre in der Tat nur blasphemischer Hochmut, wenn dies Selbstbild nicht gebrochen würde durch den Spott und die Komik solcher Selbstwahrnehmung, die seufzende Ergebenheit darin, daß die Jahre in Schreib-Monomanie dahingehen, Jahreszeiten zu Metaphern, Jahre zu puren Zahlen werden und das Wetter draußen zu etwas, das nur von Barometern abgelesen und nur von Wolkenkulissen vor dem Fenster gebildet wird. Wandlungen im Begriff der Inspiration, Wandlungen auch in der Metaphysik des schwebenden Genius der Verortung zwischen oben, zwischen unten. Ernst Jandl, Friederike Mayröckers engster Begleiter durch viele Jahre ihres Schriftstellerlebens, insbesondere auch durch die Jahre nur geringer öffentlicher Anerkennung, faßt das bewundernd, hart und voll depressiver Lakonik so:
friederike mayröcker nennt den, oder einen, heiligen geist die quelle ihrer inspiration; es gibt, für sie, in ihrer kunst etwas, das von außen kommt, und zwar von oben, während ich nicht sicher bin, wo oben ist.
Die ihre Verschusseltheit, Verschrecktheit, Täppischkeit fast leitmotivisch wiederkehrend in ihrem Selbstgespräch verzagt bespöttelt, ist doch von wunderbarer Hartnäckigkeit, so daß, nachdem Anfang der siebziger Jahre die Domestizierung ihrer Schreibbesessenheit durch einen Brotberuf wegfiel, es zur Expansion, fast Explosion ihres Schreibens kam, in der die Schüchternheit der kleineren Formen und kürzeren Strecken nun überwunden ist. Dann stellt sich so etwas ein wie die großräumige Exploration von Innenräumen und eine neue Souveränität im Aufbau poetischer Felder, so daß dann doch die 259 Seiten der Abschiede oder gar die 337 Seiten von Mein Herz mein Zimmer mein Name uns schwer in der Hand liegen. Fast hätte ich gesagt, daß Friederike Mayröcker nun epischen Atem entwickelt habe, aber das legte das Mißverständnis nahe, daß ihre umfangreichen Prosabücher der letzten Jahre halt doch Romane seien – und das sind sie nicht, sie sind eher ,Phänomenologien‘, Entfaltungen von Motiven, sind Aufblätterungen von Sujets, sind Brechungen von Themen. Die Abschiede von 1980 sind weder eine Erzählung noch eine Abhandlung, auch keine Psychologie des Abschieds, eher so etwas wie das Aufziehen eines Fächers mit allen Farben und Bildern von Abschieden – und als ein solcher Fächer nicht nur ein Stück Poesie um der Poesie willen, ein Bilderrausch, sondern gesättigt von Erfahrung, gedeckt durch die Glücke und die Schmerzen einer Existenz, auch gerade der Schriftstellerexistenz, von deren Phase betäubender Stille zwischen dem Abfassen zweier Bücher Friederike Mayröckers Stilleben von 1992 so bewegend spricht. Die Härte der erzählerischen Folge und des argumentierenden Folgerns fehlt Friederike Mayröckers Texten; sie sind nicht in dekretorischen Setzungen zentriert, aber daß sie sich ohne entschiedene Setzungen vorwärtsbewegen, sollte einen nicht zu der Annahme verleiten, es handle sich hier – in Prosa oder Gedicht – um etwas, das – ich sage spöttisch und extra: ,irgendwie‘ – in der Nähe der écriture automatique liege. Wie so vielen Zuschreibungen und Ansinnen tut Frau Mayröcker auch dieser einen leisen Gegenbescheid in der Formulierung: „ein überaus schönes und blaues Manöver ist das Schreiben eines Buches, sage ich“ – ,bleue‘ wie die Melancholie der ,heure bleue‘; blau wie die Trunkenheit, „ins Blaue hinein“, also ungewiß; so blau, sprich: romantisch wie die blaue Blume der Romantik – aber eben zugleich ein Manöver, damit durchaus geplant, mit einem Stück Übersicht und zugleich Flexibilität beim Einsatz der Mittel, zur Herstellung von Evidenzen, zum Machen von Madeleine-Erlebnissen.
Sie merken, daß ich den Akzent vergleichsweise stark auf die Prosa Friederike Mayröckers gelegt habe, und das ist eine Ungerechtigkeit gegenüber ihren Gedichten, ich weiß das und kann es in der Kürze der Zeit nicht ausgleichen, möchte aber ihre Aufmerksamkeit auf eine Leistung richten, für die Friederike Mayröcker im Moment noch wenig bekannt ist. Ich meine ihre Texte zur Kunst, ihre Notizen zu einzelnen Werken, zu bestimmten Zyklen bestimmter Künstler, zu Mappen oder zu Serien, ihre meist kürzeren Beiträge in Katalogen, vorbildlich gesammelt in dem von Otto Breicha zusammengestellten Band als es ist von 1992. Jenseits der Meinungen, die im allgemeinen ein Kunstkritiker zu diesem oder jenem Kunstwerk oder Künstler hat und die so oder so auch so lauten mögen, ist doch in der Kunstkritik die Art der verwendeten Sätze absehbar. Nicht aber bei Friederike Mayröcker. Sie sinnt in jedem Fall auf ganz unvorhersehbare, wahrhaft konkrete Entsprechungen zwischen dem einzelnen Kunstwerk oder Œuvre und ihrem antwortenden Text; sie schreibt nicht über Kunstwerke, zu Künstlern, auch wenn man sagen könnte, daß etwa ihr Text zu den Begriffs-Bildern Heinz Gappmayrs, zu dessen Visuellen Gedichten und seinen visualisierten Reflexionen über Begriffe doch in einem eindeutigen Sinn so ,treffend‘ ist, daß man ihn eines der exaktesten Porträts von Gappmayr und seiner Arbeit nennen muß. Das eigentliche Ideal aber, den Fluchtpunkt, den Ehrgeiz ihrer Texte zur Kunst aus über 25 Jahren muß man wohl darin sehen, daß in ihnen durch Versenkung, Empathie, Ein-Senkung einer künstlerischen Bilderwelt in den Bildfluß ihres eigenen Innern ein „Liebesverhältnis“ entsteht, das dann „von sich aus die richtigen Wörter und Sätze ausstößt“. So kalkuliert und absichtslos umwirbt sie ihre eigene Fähigkeit (und nicht nur ihre bewußte), ihr eine Kadenz von Worten und Bildern und Assoziationen zuzuspielen, in der eine Entsprechung steckte zu dem Werk, von dem sie angemessen und einmalig sprechen möchte. Selbst wer Kenner ihres Werkes ist, kann hier staunen, wie direkt und ohne auf das Niveau der Selbstkommentierung herunterzugehen, sie poetologische Auskünfte zu ihrer Arbeit gibt in einem Text wie „Augenfalle“, welch großes Prosagedicht ihr „Blauer Bericht“ – quasi una fantasia zur Farbe Blau … – ist, von welcher mächtigen Intimität ihr Liebesgedicht „Von Malerei“ ist – und dann wäre da noch ihr Quasi-Hörspiel Die Umarmung nach Picassos Suite Vollard, das eine magische, fast verschlingende Entsprechung zwischen einem Gang durch diese Gruppe von Zeichnungen Picassos und einem Dialog zwischen zwei Liebenden erfindet. Diese 15 Seiten heben die Grenze zwischen Bild und Sprache, zwischen evokativer Sprache und künstlerischem Bild so rückhaltlos und so gleitend auf, daß man sich nur wundern kann, diesen Text nicht schon an vielen Stellen genannt zu sehen, wo von der Niederreißung der Grenzen zwischen den Text- und Kunstgattungen die hochtrabende Rede ist.
Ach, es bleibt wohl am Ende auch in dieser Laudatio bei der hingerissenen Versicherung, daß Sie dies alles so sehen und mir zustimmen werden, wenn Sie durch das „euphorische Auge“ der Friederike Mayröcker, also mit ihrem enthusiastischen, für die Dinge der Welt auch dankbaren Blick die Welt wahrnehmen, sprich: ihre Texte lesen oder erneut lesen. Die Lust an ihren Texten, das immer erneute Staunen über sie hängt im Innersten damit zusammen, daß das meiste, was wir so an neuer Literatur vor Augen kriegen, hoffnungslos verständlich und gerade deshalb so dröhnend lobbar ist, weil es mit ziemlich vulgärer Evidenz gesegnet ist. Bei vielen Texten von Friederike Mayröcker aber gibt es noch gar keine rechten Begriffe, um zu fassen, was da eigentlich poetisch vor sich geht, was wir da überhaupt lesen; an ihnen ist aufs hinreißendste zu beobachten, wie wahrhaft neue Poesie unsere Theorien zersetzt. Als Literaturkritiker sind wir ja meist von der Bequemlichkeit einer Landschnecke und sollten doch eigentlich die unermüdliche flatternde Tastbereitschaft einer Fledermaus haben; nur die würde uns instandsetzen, einen Satz zärtlich-präzise abzutasten wie diesen aus Friederike Mayröckers Abschieden: „… das feucht schimmernde von Tränen glitzernde Pfauenauge über den ganzen Körper verteilt“ – noch einmal: „… das feucht schimmernde von Tränen glitzernde Pfauenauge über den ganzen Körper verteilt“…
Wir sind Friederike Mayröcker dankbar für das, was sie geschaffen hat, aber warum soll man Künstlern eigentlich dankbar sein? Sie können nichts anderes als „das Furiose neben der Berechnung“, das unter ihren Hirnschalen tobt, zu notieren. Warum der Lärm und die Aufwallungen von öffentlicher Dankbarkeit, wo wir doch kalt zu den Künstlern sagen könnten: You asked for it and you got it. / Tu l’as voulu, George Dandin. „Der Künstler wütet in sich herum – wer sollte ihm dafür dankbar sein?“, fragte einer, der sich auf Illusionslosigkeit in diesen Dingen verstand, nämlich Gottfried Benn. Die schnöde Diagnose des „Alles nur Egoismus“ geht aber doch nicht auf; die entlarvungspsychologisch nicht faßbare Seite der jahrelangen Konzentration einer Künstlerin auf ihr Werk ist die tapfere Hinnahme eines ihr Auferlegten, das noch andere als egoistisch-idiosynkratische Implikationen hat: unsere ganze Kultur besteht aus solchen puren ,Egoismen‘, und schließlich gibt es ja übrigens auch Begabungen, die sich solcher Verpflichtung auf ein Werk, zu dem sie imstand gewesen wären, aus Feigheit und Bequemlichkeit entzogen. Friederike Mayröcker aber hat sich in die „Götterpflicht“ nehmen lassen und reicht uns „Göttertrank“, aurum potabile, und dafür empfange sie unsere Bewunderung, unsere Liebe und unseren Dank.
Jörg Drews:„Überaus schöne und blaue Manöver“. Laudatio auf Friederike Mayröcker zum Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Künste 1996. In: neue deutsche literatur, Heft 509, September/Oktober 1996. H. 5. S. 162-169.