Jörg Drews: Laudatio auf Paul Wühr.
Zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Bielefeld 2003
Magnifizenz,
Spectabilis,
meine Damen und Herrn,
Wenn Paul Wühr seine Dichtung emphatisch als „Poesie“ bezeichnet, so klingt dies immer sowohl wie ein Höchstes beschwörend als auch drohend. Für den 1927 in München geborenen Autor ist Literatur, über die zu reden und um die schöpferisch zu bemühen sich lohnt, nicht etwas für eine ‚Zielgruppe‘ Geschriebenes und erst recht kein Markt- und Unterhaltungsphänomen, sondern etwas, das auf emphatische Weise mit Erkenntnis zu tun hat. „Poesie“ ist für ihn das Wort für Wesen und Auftrag eines Dichtens, das alles grundsätzlich in Frage stellt, alles Gewußte mit Sarkasmus, Ingrimm und Scharfsinn in Frage stellt, in Bewegung und Unruhe versetzt, subvertiert und keinen der angeblich sicheren Werte oder Begriffe respektiert. Poesie ist bei und für Wühr immer „schlimm“ und „unverschämt“, weil sie immer weiterfragt, wo alle gerne einmal Begütigung und Beruhigung im Ästhetischen einkehren sähen, und sie ist zugleich aufsässig und erheiternd, weil sie sich die vorgefundene Sprache der Literatur, der Wissenschaft und des öffentlichen Diskurses zurichtet, daß sie das Suchen, die immer neuen Fragwürdigkeiten und Fragen ausdrücken kann, die das ruhelose, das ‚poetische‘ Denken erreichen möchte.
Die großen Leistungen des Lebenswerkes, auf das Paul Wühr inzwischen blicken kann, liegen erstens auf dem Gebiet einer sowohl gedanklichen wie auch erzählerischen Prosa, die mit den herkömmlichen Gattungsbezeichnungen nicht recht zu fassen ist. Gegenmünchen wahrhaft kein Buch gegen München, sondern ein so barsches wie beredtes Projekt, an dem 1970 die Kritiker – inklusive meiner – gescheitert sind; Das falsche Buch von 1983 – so sieht, würde ich heute sagen, ein Großstadt-Roman aus, der sich nicht zu billig verkauft – und Luftstreiche von 1994 – Kultur-Kritik als hämmernd-hinterlistiges Ostinato in Prosa: das ist der Prosa-Autor Wühr, der‘s aber deshalb noch lang nicht mit dem planen Erzählen hat. Zweitens hat Paul Wühr insbesondere in den siebziger Jahren entscheidend zur Entwicklung des Originalton-Hörspiels beigetragen; er hat mit den Hörspielen von Preislied bis Soundseeing Münchendem Originalton- und Dokumentarhörspiel gewissermaßen die Naivität ausgetrieben, hat gezeigt, wie man Originaltönen etwas anderes ablauschen kann als diese selbst wissen und hat dennoch nicht ‚manipuliert‘, sondern zur Kenntlichkeit jene Einlassungen verändert, die ihm seine Interviewpartner anvertrauten. Mit großem Recht erhielt er für das Preisliedden Hörspielpreis der Kriegsblinden für 1972.
Und drittens ist der Lyriker Paul Wühr zu nennen. Wühr hat schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg Gedichte zu schreiben begonnen, trat aber erst mit dem Band Grüß Gott ihr Mütter ihr Väter ihr Töchter ihr Söhne 1976 an eine größere Öffentlichkeit und hat seitdem in den Bänden Rede. Ein Gedicht (1979) und Sage. Ein Gedicht (1988) sowie vor allem mit den umfangreichen Gedichtwerken Salve res publica poetica (1997) und Venus im Pudel (2000) ein immer noch wachsendes Ansehen als Lyriker sich erworben. Mit einer ganz unverwechselbaren Radikalität des Fragens und der Sprachform hat Paul Wühr nicht nur die traditionellen lyrischen Themen aufgegriffen, sondern in seiner zum Teil auch sehr stark vom Gedanklichen bestimmten Lyrik Themen aus der Naturwissenschaft, der Politik und der Geschichte – insbesondere Fragen unseres Verhältnisses zu unserer eigenen Geschichte – behandelt. Das Melodiöse, das Versöhnende, das Abschließend fehlt allen diesen Gedichten; sie versuchen vielmehr, verhärtetes, besserwisserisches Denken und Fühlen aufzulösen, es wieder in Offenheit und in eine Schwebe zu überführen und das Denken ins Undogmatische zu öffnen.
Damit lassen wir die Verdienste unerörtert, die Paul Wühr sich um die Gattung des Tagebuchs durch sein Tagebuch Der faule Strick (1987) erworben hat; gerade auf diesem Gebiet erwarten wir von Wühr in der Fortsetzung seiner großen Tagebuch-Konstruktion, an der er seit Jahren arbeitet, einen großen innovativen Beitrag zur Gattung des Tagebuchs. Es gehört zum produktiven Eigensinn Paul Wührs, daß sich sein Tun in besonders geringem Maße auf gutgelaunte öffentlichkeitswirksame Schlagworte bringen läßt; obendrein ist Paul Wühr nicht bereit, das eigene Werk und sein Denken um des publicity-Effekts willen durchschlagend medienwirksam zu präsentieren. Dennoch stieg der Ruhm des Dichters Paul Wühr in jenen Bereichen von Literaturkritik und Literaturwissenschaft, deren Urteile nicht rasch mit den Tages-Vorlieben der Öffentlichkeit in Übereinstimmung zu bringen sind. Wühr ist inzwischen bei den intellektuelleren unter den Lesern deutscher Literatur vor allem der Autor des ungewöhnlichsten Großstadt-Buches der deutschen Nachkriegsliteratur geworden und wird als solcher fast bis zum Kult-Status hochgeschätzt. Es handelt sich um das schon genannte Buch Gegenmünchen von 1970, den Entwurf des (sozusagen) Röntgenbildes einer Stadt, das bizarr absticht von dem Bild, das diese Stadt ohne kritische Durchleuchtung bietet und bieten möchte. Es ist kein Buch ‚gegen München‘, vielmehr der Versuch, der Stadt eine Tiefendimension zu geben, ihre historische Dimension hinter ihr gegenwärtiges Erscheinungsbild zu blenden und damit die Einsinnigkeit und Flächigkeit planen Erzählens zu übertreffen bzw. zu umgehen. Gegenmünchen ist, so könnte man sagen, eines der wenigen Beispiele für eine poetisch gelungene, das „Hinterfragen“ in Dichtung verwandelnde Ideologiekritik am Modell einer Stadt, in diesem Fall der Geburtsstadt Paul Wührs. In seinem zweiten München-Buch, Das falsche Buch von 1983, macht Wühr München und vor allem die Münchner Freiheit samt präzise eingesenkten geographischen und baulichen Gegebenheiten zur Spielfläche für seine poetischen ‚personae‘, für das Aktions- und Gedankenballett seiner Figuren und Ideenträger. Berserkerhafter Ernst und wilde Spielwut treibt sein Personal in diesem Buch, das drauf aus ist, allen festschreibbaren Regeln, festen Ergebnissen und starren Maximen argumentativ den Boden unter den Füßen wegzuziehen und (altmodisch gesagt:) ‚ideologiekritisch‘, aber dabei völlig frei und unschematisch lieber für angeblich „Falsches“ zu plädieren, das ja kritisiert und also berichtigt werden kann, als daß etwas als „Richtiges“ (in Politik oder Philosophie) verkündet werden könnte, das mit größter Wahrscheinlichkeit sich als Richtiges so verhärt, daß es sich als falsch herausstellen und fatale Folgen haben wird. Dies ist Wührs Variante der Dialektik; oder mit Goethe gesprochen: „Stolpern fördert“. Also: Es lebe der Fehler, und mit den Worten Wührs:
ICH HABE DEN Fehler nicht
machen müssen weil
der sagt
ich bin der Fehler
der ich bin
lasset uns den Fehler machen
ein Bild
das uns gleich sei
Mit dem Band Grüß Gott ihr Mütter ihr Väter ihr Töchter ihr Söhne von 1976 betritt Wühr mit einem bieder-sarkastischen Gruß – nachdem er in den fünfziger und sechziger Jahren eine großräumige philosophisch-theologische Hymnik betrieb – die literarische Bühne der Lyrik, und bis zu dem umfangreichen Band Venus im Pudel von 2000 ist überraschenderweise die Lyrik, oder besser: das Gedicht, zur wichtigsten poetischen Gattung für Wühr geworden. Zwar ist das Tagebuch-System Der faule Strick von 1987 als erster Band eines fortdauernden Projekts einer Neuformung der Gattung ‚Tagebuch‘ noch zu erwähnen, doch intensivste Arbeit leistete Paul Wühr an der Entwicklung von ungewöhnlichen Gedicht-Formen und neuen Strophen-Formen, und größte Beachtung fand er in den letzten 26 Jahren als Lyriker. Von dem genannten Grüß Gott-Buch mit seiner trocken aggressiven Zerstörung aller lokalpoetischen Klischees über die Bände Rede (1979) und Sage (1988) bis zu den die Gedankenlyrik und das scharf politische Gedicht streifende lyrische Werk von Venus im Pudel (2000) entwarf er ein Panorama von Möglichkeiten, wie Gedichte heute mit größter sprachlicher Ökonomie komplexe politische und intellektuelle, historische und religiöse Sachverhalte aufnehmen könnten, die sich aus der modernen deutschen, d.h. hier der Lyrik nach dem Zweiten Weltkrieg hinausgestohlen hatten und jedenfalls nicht ‚bewältigbar‘ erschienen, ohne das Poetische an der Poesie zu zerstören. In Gedichtformen, die natürlich keine Kantabilität mehr haben, hat Wühr sowohl dem desillusionierten Rückblick auf den Sommer 1968 wie auch philosophischen Konzeptionen (A. N. Whitehead, Buckminster Fuller, Niklas Luhmann) im Gedicht wieder Platz geschaffen; hinzu kommen sowohl erotische wie auch (wenn man diese Trennung einmal zur Pointierung vornehmen will) Liebesgedichte, die in Unverblümtheit wie in Zartheit das meiste an zeitgenössischer Lyrik übertreffen, was in Deutschland kursiert, und als Dichter dessen, was unter dem Stichwort „Holocaust“ läuft wie auch als Autor von Gedichten, die sich mit der deutschen Dichtungsgeschichte und ihrem Personal wie auch mit den verfehlten Wegen deutscher Gedichte auseinandersetzen und in trauerndem Streit mit dieser Geschichte hadern, ist Paul Wühr noch gar nicht genau genug erkannt.
Insbesondere in den umfangreichen Gedichtwerken Salve res publica poetica von 1997 und Venus im Pudel von 2000 realisiert Paul Wühr ganz neue Möglichkeiten, dem Gedicht etwas zurückzugewinnen, was mehr wäre als stimmungshafte Reimerei oder kritisches, pointensicheres Dichten rund um allseits vertraute (Tages-)Themen; kaum beachtet – wohl wahrscheinlich, weil weder Rezensenten noch Literaturwissenschaftler (die Beispiele liegen sehr nahe) heute Zeit und Neigung haben, sich auf das präzise Durchstudieren von Bänden mit 600 Gedichten eines neuen Typus einzulassen – hat Wühr Gedichte geschaffen, in denen er mit den deutschen Dichtern und Denkern der Vergangenheit, von Lessing und Novalis über Mendelssohn und Seume bis zu Theodor Lessing ins Gespräch tritt und die deutschen historischen und poetischen Konstellationen der Zeit vor allem vor und um 1800 abhandelt; er hat außerdem mit einer großen Gruppe von Gedichten innerhalb des Salve-Bandes gezeigt, wie politische Lyrik, wenn sie nur sich getraut, radikal und unschematisch zu sein, bis heute noch jene kritische Sprechweise sich erhalten kann, die in den sogenannten „Medien“ schon längst nicht mehr erlaubt ist. Und Paul Wühr hat schließlich in den Gedichten der Bände von Sage (1988) bis Venus im Pudel auch gezeigt, daß die Implikationen neuer wissenschaftlicher Denkweisen und neuer wissenschaftlich-technischer Handlungsweisen – Stichwort: Gen-Manipulation, künstlicher Befruchtung etc. – , die ins Gebiet des Moralischen hinüberreichen, in bestimmten Aspekten auch ‚poetisch‘ in einem neuen Sinn und mit einer spezifischen, durchaus erkenntnisträchtigen Schärfe formuliert werden können, daß also die Poesie nicht zum ornamental-sekundären Bereden solcher Phänomene verdammt ist und daß es sich zugleich nicht darum drehen kann, bestimmte Themen unter Aufwendung eines erkennbar naturwissenschaftlichen neuen Vokabulars modisch aufzufrischen. Um es mit Bezug auf den Titel von Wührs Gedichtband Salve res publica poetica zu sagen: die „res publica“ ist für Wührs Dichtung der gesamte Umfang dessen, was für uns alle „öffentlich“ und das heißt: relevant und diskutierenswert ist, und umgekehrt: es ist gerade und noch immer das Privileg des Dichters, ohne Abteilen und Wegsperren von Problemen und Sachverhalten in reine Facherörterungen alle Fragen und Themen zu Themen der Poesie zu machen. Poesie – darin besteht nach Wühr ihre Würde und ihre Unverschämtheit – handelt vor allem davon, daß ihre Fragen nicht bei den allgemein gegebenen Antworten sich bescheiden dürfen. Wühr erkennt hier eine Parallele zum Tun der Wissenschaft: Alle Wahrheit ist vorläufig; sie ist gewissermaßen nur ein Fakultätsbeschluß, und der kann bekanntlich auf der Basis neuer Daten und neuer Argumente wieder aufgehoben werden. Eine einmal gedachte Wahrheit kann nicht nur überholt werden, sie muß überholt werden, weil es zu ihrer Verpflichtung auf Wahrheit und Erkenntnis gehört, sich nicht beruhigen oder gar einschüchtern zu lassen, um des sozialen oder religiösen Friedens willen o.ä. Hier ist der Punkt zu sehen, an dem Wühr, der ein großer Leser deutscher Literatur ist (und in vielen Gedichten gewissermaßen den Kollegen von Goethe bis Hölderlin und Brentano antwortet, den ‚liebenden Streit‘ mit ihnen sucht), auch die Literaturwissenschaft und die Philosophie, die Ergebnisse von Astrophysik und Gentechnik, der Geschichtsforschung und der Gesellschaftstheorie immer wieder heranzieht, um seine Poesie auf der Höhe der gegenwärtigen Erkenntnisse über die Gegenstände der Welt sprechen lassen zu können. Paul Wühr ist einer der Autoren der deutschen Literatur dieses Moments, die der Literatur und insbesondere dem Gedicht wieder bedeutsame intellektuelle Dimensionen eröffnet haben; seine Dichtung gibt uns Literaturwissenschaftlern etwas zu denken, und das ist ja wohl das höchste Lob, das Literaturwissenschaftler, die etwas auf ihre Profession halten, aussprechen können, und zwar gerade deshalb, weil, wie Rudolf Borchardt sagt, „es im Grunde zwischen der großen Kunst und der großen Forschung nirgends selber eine Differenz des Zieles ist, sondern nur zwischen ihren kleinen Vertretern, und am meisten, wenn sie einander zu ‚verstehen‘ suchen. Die großen suchen sich nicht zu verstehen, sondern sind, gottlob, borniert, und gehen ihre eigenen Wege, ohne sich um die des anderen zu kümmern.“ (Prosa II, Stuttgart 1959, S. 360.) Paul Wühr kümmert sich sehr wohl um die Wissenschaften, nur ist er so produktiv borniert, sich unseren wissenschaftlichen Begriffen von ‚verstehen‘ nicht zu beugen, während wir wiederum so borniert sind, ihn sehr wohl verstehen zu wollen. Und so wie es ist, das Werk von Paul Wühr, ist es gut. Oder mit einem kleinen Münchner Merkvers gesprochen, der die Bewertung ‚opus eximium‘ lustig umschreibt:
„bene bene gut,
Du verdienst den Doktorhut!“
Jörg Drews: Laudatio auf Paul Wühr zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Bielefeld. http://unibielefeld.de/lili/forschung/projekte/archiv/zeitung/6wuehr.htm#Z45.
Abgedruckt in: Jörg Drews: Lob des krummen Holzes. Über Paul Wühr. Hg. von Thomas Combrink. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2016, S. 141-148.