Jörg Drews: Die Dämonen reizen – und sich dann blitzschnell umdrehen. Laudatio auf Walter Kempowski. Bei der Übergabe des Thomas Mann-Preises am 7. August 2005 in Lübeck
Der Dichter – so sagte vor 30 Jahren ein Dichter über den Beruf des Dichters –, der Dichter sei auf der Welt derjenige, „der aus Erbarmen genährt“ die Verantwortung für alles trägt, für das Leben überhaupt. Den Dichter „zeichnet die Übernahme einer fiktiven Verantwortung aus“, wobei die Verantwortung fiktiv ist, weil sie die realen Handlungsmöglichkeiten des Dichters übersteigt; die Übernahme hingegen ist nicht fiktiv, sondern ganz und gar real – „ein Wahnsinnsmodell also“. Einen solchen in diesem Sinne „Wahnsinnigen“ ehren und feiern wir also heute hier, wobei ich das Pathos der angeführten Analyse des Dichtertums gleich konterkarieren will mit der Bemerkung, dass es bei der diagnostizierten „Verantwortung“ nicht ohne einen erheblichen Schuss Eitelkeit und Egozentrik abgeht – schließlich haben wir das Werk eines Künstlers zu ehren, und in unserem Fall haben wir obendrein einen Künstler vor uns, der nicht nur ein fiktive, sondern in großen Teilen seines Werks eine fiktionale Verantwortung übernimmt, indem er nämlich Geschichten erzählt, und das hat – Thomas Mann würde da zustimmen – immer auch etwas von höherem Jux und Heiterkeit an sich, von Milderung des absoluten Ernstes durch erzählende Distanzierung, und gerade bei dem vor uns sitzenden Fall Walter Kempowski sind ja die Qualitäten des Entertainers nicht zu übersehen.
Aber bleiben wir zunächst beim Ernst der – sozusagen – angemaßten Verantwortung, der wahnsinnigen, nicht allmächtigen, sondern allohnmächtigen Übernahme von Verantwortung, „dies alles“ zu erzählen, zu glauben, man könne, ja man müsse dies alles erzählen. Ein solcher Ausgangspunkt ist – kreativitätspsychologisch gesehen – erstens eine seelische Deformation und zweitens Hochstapelei; das klingt wesentlich böser als ich es meine und verlangt nach qualifizierender Ausfaltung. Was die seelische Deformation angeht, so hat Walter Kempowski selbst auch immer wieder von der narzisstischen Kränkung und der Schuld gesprochen, die in mehrerlei Gestalt sowohl Antrieb wie – direkt oder indirekt – Thema seines Schreibens sind.
Da ist einmal der Verlust einer Familienganzheit und -tradition zusammen mit dem Verlust der Heimat, das Herausfallen aus einer Bürgerlichkeit, die bergendes Selbstbewusstsein gewährt hatte, und da ist auch das Gefühl persönlicher Schuld an dem Leid, das seiner Familie widerfuhr, und also hat gewiss sein vielfältiges und rastloses, wie getriebenes Schreiben etwas von Kompensation und Restitution des Verschuldeten und des Verlorenen – es ist dies die gewissermaßen zeitgeschichtlich anders kolorierte Variante zum Niedergang einer Lübecker Senatorenfamilie, welche jenen bekannten Lübecker Tunichtgut-Sohn dann so besonderen Nachdruck auf soignierte Arriviertheit und bürgerliche Hochanständigkeit legen ließ, auch wenn, genau betrachtet, nicht so viel daran wahr war.
Dann ist da bei Walter Kempowski das Unglück eines achtjährigen Gefängnisaufenthaltes, weil er 1947/48 sich aber nun wirklich gar nicht in der Welt auskannte, obendrein seelisch verwahrlost war und so hochherzig wie albern glaubte, etwas gegen die Demontage Deutschlands tun zu müssen; das gehört eigentlich eher in die Abteilung Deutsches Chaos zwischen 1945 und 1949, und die Fortführung der russischen Gefängnisstrafe durch die DDR bis 1956 ist ja eigentlich auch ein Akt inhumaner Dämlichkeit. Aber uns Lesern könnte dies alles ja als privatpsychologisches Detail egal sein; es hat aber seine objektive und politische Seite. Es hat etwas mit der Erfahrung deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert zu tun, und dem entspringt dann jene Verpflichtung, jene Verantwortung, auch jene Motivik, die sein ganzes Werk prägt, der es überhaupt erst entspringt, von dem wuchtigen und lakonischem Bericht „Im Block“, mit dem 1969 der öffentliche Kempowski seinen Anfang nahm, bis zum Schlussband von „Das Echolot“ und weiter.
Einer bewirtschaftet hier seine eigenen Deformationen, aber von Anfang an stellt er sich eben untrennbar davon den deutschen nationalen Deformationen, der Selbstentstellung Deutschlands und vor allem des deutschen Bürgertums durch das ‚Dritte Reich‘, welches wahrscheinlich unseren Selbstrespekt noch viel tiefer zerstört hat als wir sogar bis heute ahnen, ihn vielleicht sogar irreparabel gestört hat. Aber das gehört vielleicht in geschichtsmetaphysische Erörterungen und nicht hierher, wo wir uns dessen freuen, dass solchen niederschmetternden Erfahrungen von Walter Kempowski etwas abgetrotzt wurde, was zu den großen und verantwortlichen Beständen der alten Bundesrepublik und nun unseres ganzen Landes gehört, verantwortlich in dem Sinne, dass es von persönlichen wie nationalen Schuldverstrickungen nicht wegblickt, sondern sie auf sich nimmt, sie reflektiert, sie als eingesenkt in unserer aller Leben versteht und sie konstruktiv umsetzt.
Zurück zum Jahr 1956 – dem Entlassungsjahr aus Bautzen – und zum Hochstapler. Ernst Bloch hat einmal die köstliche Bemerkung gemacht, der zwanzigjährige Beethoven, der behauptet habe, er sei Ludwig van Beethoven, sei ein Hochstapler gewesen. Das Gemeinte ist klar: Der große Name war noch nicht gedeckt durch das, was ihn groß machte. Der Kempowski, der 1956 sagte, er sei Walter Kempowski, war’s natürlich noch gar nicht, er war ein mit Erfahrungen und mit Bitterkeit und Ressentiments gefüllter orientierungsloser Nobody, aber er prätendierte darauf, Walter Kempowski zu werden; nur wusste er eben nicht, wie er es anstellen sollte.
Was immer auch in seinem Kopf schon gespeichert war, ungenauen Umriss hatte und sich erst später erkennbar konkretisierte, vielleicht auch ihm selbst erst später erkennbar wurde – zunächst geriet er unter den Bann damaliger Sicht- und Schreibweisen: Sollte er sein Projekt mehr als Roman oder als parabelhafte Erzählungen oder auch kafkaesk oder vielleicht so surrealistisch angehen, wie man sich im Nachkriegsdeutschland den Surrealismus vorstellte? Es war wohl doch gut, dass mancherlei Lektoren seine im Grunde überangepassten ersten Schreibversuche nicht ermutigten, sondern eher harte Worte gebrauchten, bis sich herausgeschält hatte, dass wortkarge Pathosvermeidung und Verzicht auf gängige symbolische Überhöhung doch sein Ding wären, dass das Einschmelzen von Rede- und Wahrnehmungspartikeln in ein gefälliges episches Kontinuum zu begütigend romanhaft wirken würde, wenn es um die detailgetreue wie aber gleichzeitig weder grelle noch emotionale Darstellung von Jahren im Gefängnis ginge. Das Prinzip konnte in anderen Büchern dann gemildert werden, indem Sentiments doch zugelassen wurden; es konnte aber auch radikalisiert werden, indem die Groß-Partikel eben nicht narrativ eingespeichert, sondern schroff – siehe „Das Echolot“ – nebeneinander gesetzt wurden, und der Chor der Erzählenden in dem Gefängnis, in dem Arbeit verboten war, konnte auch ganz anders noch entfaltet werden, man musste sich bloß von herkömmlichen Darstellungsverfahren ganz erstaunlich weit entfernen …
Es ist diese vielfältige Ausfaltung des früh Angelegten im Laufe von nun mehr als drei Jahrzehnten, die so sehr zu bewundern ist, das zäh und mit einem verblüffenden Ideenreichtum Erarbeitete, welches machte, dass das vorhin zitierte „Hochstaplertum“ in dem Sinne von Ernst Blochs Spruch dann durch bedeutende Werke gedeckt wurde. Zu dem Zeitpunkt, da ich Kempowski zum ersten Mal besuchte, zu Beginn der 70er Jahre, war er – und eben auch für mich – der Autor von nur vier Büchern, dem Haftbericht „Im Block“, den ersten beiden Bänden dessen, was uns erst später als eine komponierte Sequenz aufging, nämlich der „Deutschen Chronik“, und dann war da noch der witzig und scheinbar naive Einfall, die Leute einfach zu überfallen mit der Frage „Haben Sie Hitler gesehen?“ und aus den Antworten ein Bändchen zu machen. Eberhard Fechners Fernsehfilme waren noch nicht da, obwohl man sich gut vorstellen konnte, dass die Romane verfilmbar waren, wozu man aber im Nachhinein vielleicht doch bedenklich den Kopf wiegen darf.
Es sah alles noch eher kleinformatig aus, und es ist schon ein Triumph Walter Kempowskis, dass er mit Stetigkeit, mit Zähigkeit, über viele Projekte auch lange Zeit schweigend uns immer wieder mit Neuem, von neuem überraschte, fast überrumpelte. Aus der Erzählperspektive und dem ihm bekannten Zeitraum der Familiengeschichte trat er dann heraus mit dem Roman „Aus großer Zeit“ von 1978, den er schon fingieren, aus Zeugnissen anderer zusammenbauen musste: Von 1900 bis 1918 zu erzählen erforderte ein ganz anderes Umgehen mit den Zeugnissen; es erforderte Multiperspektivität, und das Ergebnis ist ein zunächst eher scheinbar behagliches, dann aber immer unheimlicheres Buch über das Wilhelminische Norddeutschland, am Ende in einem kargen Ton des Entsetzens und mit äußerster sprachlicher Ökonomie, bis zur Tonlosigkeit unpathetisch.
Die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs, dieses Urübels des 20. Jahrhunderts, waren von Remarque über Edlef Koeppen bis Ernst Jünger und in den großen Spottdichtungen der „Letzten Tage der Menschheit“ und des „Zuginsfeld“ von Karl Kraus und Otto Nebel ja schon in großer Instrumentierung – entweder wortreich oder experimentell – bedichtet worden, und nun blieb für Kempowski das Gegenstück noch zu tun über: in ein paar grau-wortarmen Szenen die Aushöhlung junger Menschen zu schildern, welche, wenn sie überhaupt überlebten, für immer seelische und körperliche Wunden durch die Jahrzehnte tragen und zugleich nichts verstehen würden – wie sich dann auch in Kempowskis „Schöne Aussicht“ 1981 – der insbesondere die 20er Jahre behandelt – zeigen wird –, weil die Niederlage Deutschlands nicht akzeptiert wurde. Aus dem Haftbericht war „Ein Kapitel für sich“ geworden, „Herzlich willkommen“ sah den aus Bautzen entlassenen Kempowski in Göttingen, und damit hatten wir Teil 1 des Großunternehmens geschlossen vor uns mit dem Titel „Deutsche Chronik“, die eigentlich nach dem Willen des Autors hätte „Sisyphus“ heißen sollen, es ist aber vielleicht gut, dass der Verlag ihm das ausredete.
Denn Kempowskis Seufzen über Mühe und Vergeblichkeit des Ganzen hätte ja kokett wirken können, wo er doch unverdrossen weitermachte und der Ausruf „Sisyphus“ eben nicht sein letztes Wort war – jedenfalls wälzte er nicht denselben Felsbrocken wieder und noch einmal. Sondern er zog eine unerwartete, jedenfalls sich auch für Kenner seines Werks unerwartete Konsequenz. Er gab nämlich – wenn Sie mir den despektierlichen Ausdruck, den Gottfried Benn so liebte, gestatten – seinem Affen Zucker und richtete seinen vergnügten Ehrgeiz darauf, uns mit Tagebüchern zu beglücken, allen naiven Liebhabern der Gattung Tagebuch einerseits was zu bieten und sie andererseits um etwas Erwartetes zu prellen; die gaudierlichen Ergebnisse heißen – bis jetzt – „Sirius“ (es diariiert der Kempowski des Jahres 1983) und „Alkor“ (Kempowski annotiert das Jahr 1989), und das Gebotene revidiert und erneuert die Gattung Tagebuch und düpiert dem genauer Hinschauenden die Erwartung, ein Tagebuch als Literatur sei einfach die Darbietung dessen, was einer wirklich, wortwörtlich und unüberarbeitet an einen gegebenen Tag hier gekritzelt habe. Das heißt, Kempowski erlaubt sich, sich so „subjektiv“ zu geben wie sonst kaum, höchstens in Interviews bisweilen.
Wenn man es vorsichtiger formulieren will: Er pflegt den Gestus des Spontanen und Subjektiven und weniger Kontrollierten, des Ausplauderns von etwas, das er sonst nicht verraten würde. Solche Selbstinszenierung ist ein besonders witziges und voltenreiches Kapitel in Kempowskis Werk, eine besonders amüsante „Säule“ seines Œuvres, muss aber vor allem gesehen werden als das Gegenstück, Gegengift und Entlastungsmanöver für jene Selbstverleugnung, welche ihm „Das Echolot“ abverlangte, dieses literarische Messgerät; für die Tiefen und Untiefen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere zwischen 1941 und 1945.
Das ist sozusagen eine zweite „Deutsche Chronik“, ein Lesebuch für die Nation, ohne einen Erzähler, nur mit einem Arrangeur von nicht-künstlerischen, von authentischen Texten, in deren Figuration durch Kempowski erst auf den Punkt gebracht wird, was Kempowski über mehr als ein Dutzend Jahre so obsessiv betrieb, so – man wusste nicht recht – skurril oder stur oder grenzenlos und ausufernd. Nun kann man ja nicht hinterher die acht Jahre im Zuchthaus dann doch als im höheren Sinne sinnvoll und fruchtbar erklären, und ich meine, dass auch in dem Buch „Im Block“ der Autor über manche, die allerschlimmsten Aspekte eines jahrelangen Zusammenlebens von hunderten von Männern den Schleier hat fallen lassen. Aber sicher war dies eine (erzwungene) Gelegenheit, unzählige deutsche Schicksale zu erfahren, erzählt zu erfahren, da die Häftlinge sich zum Zeitvertreib alle alles berichteten. Dass die „Stimmen“, sprich die Lebensläufe und die Schicksale das Rohmaterial und zugleich das am höchsten würdige Material zu einer großen Geschichtserzählung sein könnte, kann Walter Kempowski in der Tat in jenem inzwischen fast legendären Sinne geahnt haben, wie ihn das selbstkommentierende, an den Anfang des „Echolot“ gesetzte Blatt festhält, das beginnt:
„An einem Winterabend des Jahres 1950 wurde ich in Bautzen über den Gefängnishof geführt, und da hörte ich ein eigenartiges Summen. Der Polizist sagte: ‚Das sind ihre Kameraden in den Zellen, die erzählen sich was.‘ Ich begriff in diesem Augenblick, dass aus dem Gefängnis nun schon seit Jahren ein babylonischer Chorus ausgesendet wurde, ohne daß ihn jemand wahrgenommen oder gar entschlüsselt hätte, und es wurde mir bewußt, daß ich der einzige Zuhörer war: ein kleiner Häftling und zwar für knappe zwei Minuten.“
Das berühmte Kempowski’sche Archiv von Lebensläufen ist als Versuch zu verstehen, diese Stimmen aus dem Gefängnis noch einmal, in anderer Gestalt auf Papier und Fotos, zu versammeln und sie „sprechen“ zu lassen, sie (gewissermaßen) ertönen, singen zu lassen – nicht umsonst war Walter Kempowski Chorleiter in Bautzen, und noch so expressives Singen noch so bedeutsamer Stimmen muss komponiert und koordiniert werden. Der Autor tritt zurück hinter den Arrangeur, sein Künstlertum zeigt sich nicht in „Schöpfertum“, sondern darin, anderen ihre Sprache zu lassen, ja ihr überhaupt erst und noch einmal für einen Moment eine Stimme zu geben – ein paar tausend Menschen stellvertretend für die Millionen, die in unserem, dem 20. Jahrhundert, gelebt und gelitten haben.
Mit diesem nicht auszulesenden Buch „Das Echolot“ ist Walter Kempowski – zu Unrecht, glaube ich, aber so ist es nun einmal – erstmals im positiven Sinne irritiert ernst genommen worden und hat seinen Ruf als Entertainer, der im ihm leider bei vielen Menschen, auch Kritikern anhaftete, überstiegen, indem er mit verstörender Kühnheit nicht mehr Schicksale fingiert, sondern Schicksale montiert hat und eine sozusagen gar nicht vorgesehene Stelle zwischen Historie und Künstlertum besetzte. So verkehrt die Einschätzung seiner früheren Werke als historisches Entertainment, als „Literatur light“ auch war, so schaffte es doch erst der massive Ernst der zehn Bände Memorial namens „Das Echolot“, ihn herüberzuholen in die Sphäre der Bedeutung wirklich großer Autoren.
Und eine zweite Veränderung, eine zweite Genugtuung erfuhr Walter Kempowski in den frühen 90er Jahren, man könnte sagen ab dem Tage des Falls der Mauer: Die DDR erwies sich als genau jene Art Staat, welche die linksliberale Intelligenz der Bundesrepublik nicht wahrhaben wollte und – zum Teil auch durchaus im Gefühl verantwortlicher Sorge um den Frieden in Mitteleuropa – beschönigte und mit moderatem, moderierendem Wohlwollen begleitete. Es stimmt sehr wohl, dass die ungenaue und teils einfach gehässige Wahrnehmung der Einreden Kempowskis, der das Unrechtsregime drüben ungeniert benannte, ihm den aberwitzigen Ruf eines Rechten und jedenfalls eines späten Kalten Kriegers einbrachte; diese Ressentiments waren schwer zu greifen, aber sehr wohl vorhanden und wirksam.
Sprechen wir es ruhig aus, dass es, drittens, bis heute auch einen weiteren Vorbehalt gerade gegen „Das Echolot“ gibt. Es ist der Vorbehalt gegen das Prinzip „Montage“, das Unbehagen, das sich regt, auch übrigens manchmal in Jurys, angesichts des angeblich fehlenden „Schöpferischen“ bei dem Verfahren der Figurierung von Rohmaterial, der Komposition aus schon vorhandenen Texten in „Das Echolot“. Abgesehen davon, dass bei manchen Kritikern sich im Gespräch dann herausstellt, dass sie die Prinzipien der Anordnung der zitierten Materialien aus lauter Ungeduld bei der Lektüre gar nicht erkannt haben und also die Fügung und den Rhythmus der Sequenz der Texte nicht wahrnahmen, deutet die geringe Bereitschaft zur Prämiierung des Prinzips Montage doch auf eine sehr altmodische Ästhetik hin, die zwar die Benutzung von Quellen nicht inkriminieren kann, aber die sollen dann bitte veredelt und eingeschmolzen und die Suturen verschmiert werden. Vielleicht nützt es ja nichts, aber man muss doch der historisch-methodischen Wahrheit die Ehre lassen, die besagt, dass etwa Goethe in seinem autobiografischen Buch „Campagne in Frankreich“ seitenlang Fremdtexte einbaut – wir wissen auch, wo er sie her hat –, allerdings ohne sie kenntlich zu machen, und Georg Büchners Drama „Dantons Tod“ besteht zu etwa 40 Prozent aus wörtlichen Übernahmen aus Parlamentsreden während der Französischen Revolution, ähnlich wie Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“ eigentlich eine dramatisierte Zitatengirlande ist: und von welcher Wucht! Ein milderes Beispiel, gewissermaßen ein konservativeres, gesitteteres kennen wir alle – und in dieser Stadt darf man es nennen – es ist Thomas Manns „Dr. Faustus“, der fast durchweg ein Amalgam aus Zitat und Mann-Stil ist und manchmal wörtlich zitiert.
Radikalität ist eigentlich Walter Kempowskis Sache nicht – oder täuschen wir uns? –, jedenfalls hat er sich unerwartet weit vor und in die Nähe der Überlegung gewagt, die Walter Benjamin schon in den 30er Jahren bei der Arbeit an seinem Buch über – die „Pariser Passagen“ angestellt hat: ob nämlich nicht eine durchdachte Anordnung von Zitaten aus der Literatur und der Sachprosa und Annoncen um 1850 schon das erträumte Buch ergäbe und in dem Sinne gar kein kommentierender „Autor“ nötig sei, da dem Material der Sinn ohne weiteres Zutun zu entnehmen wäre. Das war große Kulturhistorie, allerdings Fragment gebliebene, und das hat nun wieder durchaus etwas zu tun mit jenen zerstörerischen Kräften, die zwischen 1933 und 1945 Europa in ein Trümmerfeld verwandelten: die Katastrophe vereitelte die Fertigstellung von Benjamins Passagen-Buch und verwandelte Deutschland und seine Umgebung in ein Beinhaus, dessen „Ausdruck“ – auch in künstlerischem Sinne – in einem deprimierenden, in der Tat fast unkünstlerisch harschen Sinn – die von Kempowski versammelten Textfetzen sind.
In der Tat: ein schönes Kunstwerk ist das nicht, es ist ein Werk ohne Text-Schöpfung, es hat keinen oder hunderte Autoren, es ist non-fiction aus Zitaten. Wenn die – mir fragwürdige – Kategorie des „Meisterwerks“ noch gelten soll, so müsste man sie erheblich umdefinieren, doch ich meine, dass man hier an die Stelle des Wortes und Wertbegriffes „Stil“ so etwas wie „Verfahren“ rücken muss. Wenn „Stil“ heißen soll, dass alle Elemente eines Werks von einem vereinheitlichenden Stilwillen durchdrungen, sozusagen unterworfen sein müssen, so kann man nur sagen: „Das Echolot“ hat keinen „Stil“. Aber auch Verfahren können ja künstlerisch sein. Die atemberaubende Qualität von „Das Echolot“ liegt nicht zuletzt darin, dass es dem „Autor“ in Anführungszeichen keine Chance zum eitlen Sich-Spreizen ob seines Schöpfertums gibt: Es erzwang nicht nur ästhetisch, sondern ethisch das Zurückstehen, das Sich-Zurücknehmen, das Verschwinden des Autors, der sich schämen müsste, sich neben den Leidenden der Epoche als Kreator in den Vordergrund zu schieben.
Das Verfahren ist kein Rezept, es kann gar nicht oder nur sehr stark modifiziert wiederholt werden; es ist eine Möglichkeit, mit dem historischen Sprachmaterial einem Trümmerfeld, künstlerisch oder eben quasi-künstlerisch umzugehen, und das Pathos dieses Buches steckt darin, dass sein Material gerade so sehr geordnet ist, dass es lesbar wurde, aber auch nur so viel, dass es materiell-symbolisch das vorführt, was der Zweite Weltkrieg hinterließ: eben ein Trümmerfeld. Die wohl gesetzten Worte des Dr. Serenus Zeitblom am Schluss des „Dr. Faustus“ sind gar nicht so weit entfernt von der Haltung, die inexplizit auch hinter der Präsentation des Trümmerfelds deutscher Geschichte durch Walter Kempowski steht: Summe und Deutung wird nicht gegeben, Dr. Zeitblom kann nur ratlos um jene Gnade für seinen Freund und für Deutschland flehen, die der große Pathos-Vermeider Kempowski sich versagen muss. Seine Stimmen verstummen ungetröstet; Kempowski aber hat sie unbevormundet zu Wort kommen lassen, Gerechte und Ungerechte, in Demut das Urteil einer anderen Instanz überlassend.
In Julian Barnes‘ Roman „Flaubert’s Papagei“, in deutscher Sprache 1987 veröffentlicht, stellt der Erzähler zwei tabellarische Lebensläufe Flauberts vor: Der eine führt die Lebensdaten so auf, dass eine Erfolgsstory aus diesem Autorenleben wird – und irgendwie ist das ja bekanntlich nicht ganz falsch; in der anderen Version des Lebenslaufs kommentiert der Erzähler die Daten immer so, dass diese Lebensbahn wie eine Häufung von Unglücken und Misserfolgen aussieht, was, bedenkt man alles von Flauberts Epilepsie bis zu seinem finanziellen Ruin kurz vor seinem Tod, auch nicht ganz falsch ist. Wer mit Walter Kempowskis Lebenslauf und mit seiner Werkgeschichte einigermaßen vertraut ist, kann in die Datentabelle leicht eintragen, was da an Unglück und Benachteiligungen und Kränkungen in ihm wühlen dürfte, und er selbst wird noch mehr wissen und empfinden, was er als Niederlage einschätzt, obwohl wir sagen würden, dass es objektiv gar keine sei oder er übertreibe …
Aber man könnte doch auch die Daten so beschriften, dass er wie Hans im Glück aussieht, vom Verlag und (cum grano salis) auch den Kritikern, von den Auflageziffern und – mit gewissen Pausen – auch mit Preisen durchaus wohl bedacht. Wobei es natürlich wahr ist, dass kein Autor je genug Lob kriegen und man sicher sagen kann, dass der Thomas Mann-Preis nicht der Nobelpreis ist. Aber das wollen wir so ernst auch wieder nicht nehmen. Derjenige, der down and out von 1945 bis 1956 in Rostock, Wiesbaden und Bautzen saß, darf jetzt in einem Atemzug mit Thomas Mann genannt werden, ein hanseatischer Kaufmannssohn in Gesellschaft des anderen. Ja, doch, es hat damit seine Richtigkeit, dies ist das Glück, das Gelungene in der Werkbiografie Walter Kempowskis: Auferstanden aus Ruinen – wenn Sie einen schrägen Spaß erlauben; schade, dass diese Zeile durch die Realität so verhunzt wurde.
Nein, der eigentliche Schatten auf das Geschaffte und Geschaffene von Kempowskis Existenz und auf das Leben unserer Generation – wenn ich uns beide einmal als fast Generationsgenossen in einem Satz nennen darf – war etwas anderes, nicht ein Leid, sondern Schuld, nicht persönliche Schuld, sondern solche, die man zu übernehmen hat; und Schuld ist für eine Nation wie für ein Individuum schwerer zu ertragen als Leid.
Als Frontispiz zum ersten erschienenen Band von „Das Echolot“ finden wir ein Foto, auf dem ein Herr zu sehen ist, der im mit Polstermöbeln gemütlich ausgestatteten Erker einer bürgerlichen Wohnung sitzt und Zeitung liest. Darunter steht nur ein Wort: „Stalingrad“. Das Gegenstück zum privilegierten Zeitungsleser, dem auch der tausendfache Tod so zur ungefährlichen Lektüre wird wie uns Nachgeborenen die Lektüre des „Echolot“, ist der, welcher in Kürze wirklich umgebracht wird, genauer gesagt: den Deutsche in ungefähr einer Stunde umbringen werden.
Ich meine das so: Vor fünf Wochen brachte die „Frankfurter Allgemeine“ ein Foto vom 26. Mai 1944. Darauf sind drei Kinder in Kopftuch, Mäntelchen und irgendwelchen Pantoffeln zu sehen. Dazu ihre gebeugte Großmutter, ebenfalls mit schwarzem Kopftuch, alle schräg von hinten, sodass die Gesichter nicht zu sehen sind. Dann ein Stückchen Schiene, dahinter Betonpfosten mit Stacheldraht. Wir wissen nicht nur, von wann das Bild stammt, sondern auch wer es gemacht hat: die beiden offiziellen Fotografen des Stammlagers Auschwitz – ja, so etwas gab es, und die waren am Morgen des 26. Mai 1944 tätig, als ein Transport aus dem Ghetto Berehovo eintraf. Da trotten sie durch das Bild, die vier Gestältchen, „ins Gas“, wie man so sagt. Sonst sind keine Menschen zu sehen, aber man hat die Aussagen sowohl der Fotografen wie die einer Überlebenden dieses Tages. Ich weiß nicht, ob das Bild ein Kunstwerk ist, wenn, dann wäre es das grässlichste unfreiwillige Kunstwerk, das man je sah; solche furchtbare Wucht hat das Dokument jedenfalls. Das ist der Schatten, der über unserem Leben lag in den letzten sechzig Jahren, und ohne diesen Schatten ist das Werk Walter Kempowskis nicht zu denken. Das heißt ja nicht, dass wir alle immer nur in Sack und Asche herumlaufen müssten und uns unseres Leben in einem Staat, der doch insgesamt ein ganz anständiger Staat geworden ist, nicht freuen dürften. Aber dieser Schatten wird nie ganz weggehen.
Im letzten Prosastück von Walter Kempowskis viel zu wenig bekanntem kleinen Buch „Weltschmerz“, überschrieben „Der Wunschtraum“, heißt es über einen Musikautomaten, der eine kleine unvergessliche Melodie spielen würde, man müsste dann eines Tages „zumachen das Dings und abschließen. Zumachen und abschließen, ein für allemal.“ Es geht aber gar nicht abzuschließen, „das Dings“. Positiv gelesen jedoch: Wir können das auch gar nicht wünschen, denn getrieben wünschen wir uns Kempowski, damit Gedichte und mindestens ein Roman, Tagebücher und wer weiß noch was gespielt werden. Ja, vor allem auch Tagebücher müssen es sein, mit ihren kalkulierten unsäglichen Verstößen gegen den Komment und den guten Geschmack und die political correctness, mit dem wohldosiert beigegebenen erheiternden Blödsinn, den wir so an Kempowskis Tagebüchern lieben und den er einsetzt, um sich an unserer Verblüffung zu weiden. Die Dämonen reizen – und sich dann blitzschnell umdrehen, als sei nichts – das tut er gern.
Und wir wollen uns dann weiter darüber freuen, dass seine Tagebücher so ganz anders sind als die Thomas Manns, des Meisters Thomas von der Trave, wie er bei Hesse heißt, nämlich mit Sinn für bizarre Komik und mit einem erfrischend-erheblichen Element der Selbstverspottung zugleich, das beim pompöseren Tagebuchschreiber natürlich fehlt. Die kleine Spitze mussten wir, damit es nicht gar zu Thomas Mann-fromm zugeht, noch los werden, dann aber verneigen wir uns vor Thomas Mann in der Ferne ganz gemessen und vor Walter Kempowski in der Nähe ganz herzlich.
Jörg Drews: Die Dämonen reizen – und sich dann blitzschnell umdrehen. Laudatio auf Walter Kempowski bei der Übergabe des Thomas-Mann-Preises am 7. August 2005 im Scharbausaal der Stadtbibliothek (Lübeck). In: Vom Nachruhm. Beiträge zur Lübecker Festwoche 2005 aus Anlaß des 50. Todesjahres von Thomas Mann, hg. von Ruprecht Wimmer und Hans Wisskirchen. Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann 2007, S. 15–25. (= Thomas Mann-Studien, Siebenunddreißigster Band.)
Der Text erschien zuerst in gekürzter Form in der „Süddeutschen Zeitung“. Wiederabgedruckt in: Die Spatien 3. Texte und Bilder aus dem Kempowski-Archiv. 2005. S. 15–30.
Leicht bearbeitete Fassung der Laudatio in: text + kritik, Heft 169. S. 44–52.