Helmut Heißenbüttel: Neue Lyrik: Konkrete Poesie als Alternative? Ein Kolloquium an der Universität Bielefeld
Die Überraschung kam erst gegen Ende – als Ernst Jandl den letzten Absatz seines Exposés zu dieser Tagung vorlas, in dem er die Gründung einer Internationalen Gesellschaft für Neue Poesie vorschlug, etwa nach dem Muster der altehrwürdigen Internationalen Gesellschaft für Neue Musik. Zustimmung und Ablehnung, Bedenken und Fragen, die dazu geäußert wurden, schienen lahm in ein betretenes Schweigen auszulaufen. Da belebte ein Gegenvorschlag die Diskussion aufs neue. Eine ganz anderes Konzept?
Eingeladen hatte Siegfried J. Schmidt, Professor der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld und neokonkreter Schriftsteller („Volumina I–IV“). Ihm assistierten seine beiden Professoren-Kollegen Jörg Drews und Klaus Ramm, beide bekannt geworden als Kritiker, Herausgeber und Verleger. Vom 10. bis zum 13. 2. 1978 hielt Schmidt ein Kolloquium ab im Zentrum für Interdisziplinäre Forschung mit dem Thema: „Literaturentwicklung und Literaturanalyse: Entwicklungstendenzen und Beschreibungsmöglichkeiten experimenteller Literaturen.“ Gekommen waren die Protagonisten dessen, was inzwischen als Konkrete Poesie in die Geschichte und in die Seminare eingegangen ist: Franz Mon, Eugen Gomringer, Gerhard Rühm, Oswald Wiener, Friederike Mayröcker, Ernst Jandl, ich selbst und einige andere. Eine jüngere Generation war vertreten mit Chris Bezzel, Jochen Gerz, Hartmut Geerken, Timm Ulrichs. Als Außenseiter: Oskar Pastior. Es fiel auf, daß diese Jüngeren mir zu einem Teil der Literatur verpflichtet sind, anders gesagt: die Grenzen ihrer Literatur sind offen.
Daß Offenheit herrscht, daß sich aus der, ich will einmal sagen, klassischen Doktrin des Konkreten keine Schule, kein verbindlicher Stil entwickelt hat, machte die Diskussion des ersten Tages deutlich. Oswald Wiener, ein dialektisch wie rhetorisch gleich versierter Gesprächsteilnehmer, polemisierte gegen den bloßen Formalismus, demgegenüber er seine eigene Schreibweise provozierend als impressionistisch bezeichnete. Der Versuch, die Begriffe einer konkreten und einer experimentellen Schreibweise grundsätzlich zu definieren, scheiterte an der Einsicht, daß es sich in beiden Fällen um Analogiebildungen handelt, die bestenfalls als historische Kennmarken dienen können. Wohin konnte der Weg weiterführen? Wo Stehen die einzelnen Autoren heute?
Eine improvisierte Lesung am Abend in der Kunsthalle Bielefeld lieferte die Antwort des überraschenden Interesses (der Saal war überfüllt) und des ungewöhnlichen Erfolgs. Ich habe noch nie eine so gelungene und spannende Gruppenlesung mitgemacht; Höhepunkte gab es in Belustigung wie in ungeteilter Aufmerksamkeit, vor allem bei Mayröcker und Mon.
Nach einem Tribut an die experimentelle Psychologie, der nicht von allen gutwillig geleistet wurde, setzte sich die Diskussion am Sonntag fort. Die Einsichten des ersten Tages wurden ausgebaut. Am deutlichsten versuchte Klaus Ramm den Bereich einer möglichen, nicht mehr strikt experimentellen, wohl aber methodisch ausgerichteten, nichtkommerziellen Literatur abzustecken. Das Wort Innovation, das oft in der Auseinandersetzung auftauchte, entleerte sich im Gespräch gleichsam von selbst. Nicht die Neuerfindung, sondern die mögliche neue Verbindung verschiedenartigster und unter Umständen einander entgegengesetzter Methoden erschien als Leitlinie. Ich selber hatte in meiner These zum Kolloquium vom Arbeiten im unbeschränkten Zitatcharakter der Sprache gesprochen und davon, daß es zuerst einmal auf das Offenhalten, das Nichtfestlegen und auf die Erhellung durch das Risiko des Literaturmachens ankomme.
Die Überraschung: Als eingesehen worden war, daß gerade für die hier in Bielefeld vertretene Literatur der große Apparat einer internationalen Gesellschaft oder auch nur eines weitverzweigten Vereins unangemessen, ja schon vermutlich im Ansatz gar nicht zu realisieren sei, kam die Gegenfrage, ob man sich nicht auf so wenig Apparat wie möglich stützen solle. Nicht von ungefähr fiel der Name der „Gruppe 47“. Sollte es nicht möglich sein, ausgehend vom Stamm der älteren anwesenden Autoren, die sich in Grundansichten einig sind, aber in wesentlichen konkreten Aspekten dessen, was sie heute machen, weit auseinanderstreben, eine jährliche Versammlung einzuberufen, in der nicht diskutiert, sondern gearbeitet wird? Lesungen und Kritik. Aber auch Verfolgung von Projekten. Jüngere Autoren, die nicht Schule bilden, sondern weiter führen könnten, deren neue und unter Umständen ganz andere Interessen, wie es jetzt am besten Jochen Gerz formulierte, für beide fruchtbar werden können.
Wenn „Gruppe 47“, dann eine sozusagen umgekehrte. Dann eine fluktuierende Versammlung, in der im Mittelpunkt stehen würde, was in der „Gruppe 47“ nur am Rande erschien. Nicht um nun eine neue Exklusivität aufzubauen, sondern aus der auf dieser Tagung gewonnenen Einsicht, daß Literatur, die es methodisch ernst meint, also sich nicht bloß auf Modifizierung traditioneller Macharten verlassen will, eine Weiterführung in den ihr angemessenen Raum der Offenheit nur im Gespräch, in der Gruppe, in der Übereinkunft gegen die übermächtigen Zwänge des geschmacksrestaurativen und kommerziellen Konsensus finden kann.
Es wurde beschlossen, daß Schmidt, Ramm und Drews die Weiterführung eines solchen „Bielefelder Kolloquiums Neue Poesie“ prüfen und den Teilnehmern Vorschläge unterbreiten sollten. Es geht, so gesehen, natürlich auch um Organisation und um Geld. Nicht um die Institutionalisierung in die Verwaltung eines Vereins. Mir scheint es machbar. Mir erscheint es sinnvoll.
Helmut Heißenbüttel: Neue Lyrik: Konkrete Poesie als Alternative? Ein Kolloquium an der Universität Bielefeld. In: Die Zeit, Nr. 09, 24.2.1978.