Jörg Drews: Schmidt in der Schule
Kann ein Autor wie Arno Schmidt nun auch in Schulen Konjunktur haben und sich im Dschungel der bundeseinheitlichen Kerncurricula und dem je länderspezifischen Kanon fürs Zentralabitur im Fach Deutsch etablieren? Anzuzeigen ist eine jetzt erschienene Unterrichtseinheit im Rahmen der RAAbits Deutsch-Loseblattsammlung, die seit Jahren mit bewährten unterrichtspraktischen Hinweisen den Markt bedient.
„Modelle“ zu Arno Schmidts Werk waren und sind nicht eben zahlreich, da sich Autor & Werk nicht nur der unterrichtlichen Umsetzung sperrten und der Kreis der „Schmidt-Kenner“ unter Deutschlehrerinnen und Deutschlehrern von jeher recht überschaubar gewesen sein dürfte. Viele mögen sich noch an die legendäre Zeitschrift „Der Deutschunterricht“ aus dem Klett-Verlag erinnern, die Schmidt in Heft 3/1981 als exzentrischen Provokateur und notorischen Einzelgänger vorstellte und seinen Leviathan in die westdeutsche Nachkriegsliteratur – neben Schnurre, Böll, Koeppen, Grass und Kluge – einordnete. Alle an didaktischen Hilfestellungen Interessierten, vor allem die „Nicht-Experten“ in Sachen Schmidt, konnten sich zwei Jahre nach dem Tod dieses Autors Anregungen für die Behandlung des Leviathan innerhalb eines Epochenkonzepts holen, wenn auch methodische Handreichungen, gar konkrete Stundenentwürfe fehlten. Ein Vierteljahrhundert (!) später erschien in der Reihe „DEUTSCH betrifft uns“ ein Themenheft im Bergmoser + Höller Verlag (Nr. 5/2007) zu Arno Schmidts Erzählung Die Umsiedler. Geschuldet war dieses Unterrichtsmaterial wohl auch dem damaligen Hype in den Feuilletons landauf, landab zur neu entfachten Diskussion über Täter-Opfer-Beziehungen in der letzten Phase des 2. Weltkriegs, über Flucht & Vertreibung sowie zum wieder entdeckten Heimat-Komplex, ausgelöst durch Grass‘ Novelle Im Krebsgang aus dem Jahr 2002. Das dort im Autorentext selbst gesteckte Ziel, Schmidt wegen seiner neuen Erzählformen „interessant zu machen“, um seine Prosa nicht erneut „als (zu) schwierig beiseite“ zu schieben, dürfte allerdings wegen der Fülle des aufgebotenen Zusatzmaterials aus vornehmlich fremder Feder schwer zu erreichen gewesen sein: wenige Originaltexte Schmidts (u.a. ein Auszug aus dem Essay „Flucht vor dem Werk“), eine Unterrichtsstunde zu den „Berechnungen I“, eine weitere über Alice Schmidts Tagebuchaufzeichnungen – drei von 15 Unterrichtsstunden!
Die Möglichkeiten der Behandlung Arno Schmidts in der Schule haben sich mittlerweile verbessert: 2006 ist in der Suhrkamp BasisBibliothek Arno Schmidts Schwarze Spiegel erschienen, sorgfältig kommentiert und um Materialien ergänzt von Oliver Jahn. Es ist anzunehmen, dass mit dieser Edition ein breiteres Schüler- und Lehrerpublikum als jemals zuvor erschlossen werden kann, so dass die Zeit für ein konkretes Unterrichtsmodell, wie jetzt das von Jochen Hengst erschienene, überreif war. Das im Anhang noch für 2006 angekündigte kommentierte Handbuch unter der Herausgeberschaft von Heinrich Schwier ist allerdings immer noch nicht erschienen, unklar bleibt, warum Hengst diese Quelle in den Literaturangaben schon anführen möchte; wir alle warten sehnlichst auf das Erscheinen dieses Handbuchs!. Hengst ist für die Leser des Bargfelder Boten kein Unbekannter, er hat zu Schmidts Die Schule der Atheisten und zu dessen später Lovecraft-Lektüre als Urgrund des Fragments Julia, oder die Gemälde sehr lesenswerte Analysen vorgelegt.
Hengst bietet einleitend einen soliden Überblick über Inhalt und Aufbau des Romans, geht ausführlich auf Erzählstrukturen und sprachliche Eigenheiten des Autors ein und begründet dann sehr nachvollziehbar seine zentrale didaktische Absicht, den literarischen „Fotografen“ Schmidt nicht nur vorzustellen, sondern den Schülerinnen und Schülern der Oberstufe auch praktische Anleitungen zu geben, Texte, Sprachbilder dieses Autors nicht nur zu verstehen, sondern auch in Schreibanlässe zu verwandeln, damit sie „ihre eigene produktive Wahrnehmung von Wirklichkeit wieder finden können.“ (Anstöße zu diesem mutigen didaktisch-methodischen Konzept, Schmidts Texte in die eigene Schreibpraxis zu integrieren, sind aus der Zusammenarbeit mit dem Leiter des Studiengangs Kreatives Schreiben der Universität Hildesheim, Professor Stephan Porombka, erwachsen.) Das auf 8 bis 12 Stunden (inklusive einer Lernkontrolle) angelegte Unterrichtsprojekt möchte – zunächst ganz konventionell im Rahmen eines modernen Deutschunterrichts – Erzähltechniken zur „Abbildung von Realität“ untersuchen, um daran Positionen der deutschen Nachkriegsliteratur aufzuzeigen, um schließlich in den schon erwähnten produktiven Verfahren zur Texterschließung zu münden. Die Besonderheiten des von Hengst vorgelegten Entwurfs erschließen sich dem Lehrer in der Unterrichtsvorbereitung sehr schnell: wird doch der Autor Schmidt nicht als Desiderat der „sonstigen Schullektüre“ feilgeboten, sondern von Anfang an als „Anti-Modell“ jeglicher bisher im Schulunterricht erfahrenen Nachkriegsliteratur herausgestellt, und dies recht offensiv. Die Fülle und die Art der dargebotenen Texte sind auch für Schmidt-Kenner reichhaltig und überraschend, sie ersetzt im ersten Zugriff mehrere Bände Sekundärliteratur, die sich der interessierte Deutschlehrer zusätzlich besorgen müsste. Die inhaltliche Breite der Textauszüge, die von Schmidt selbst, aber auch von Autoren wie Hans Henny Jahnn, Alfred Andersch, Theodor W. Adorno, Heinrich Böll stammen, und die vorgelegten Fotografien Schmidts, aber auch Radierungen, Lithografien sowie Umschlaggestaltungen des Malers Eberhard Schlotter (ganz ungewöhnlich und neu für Schule!) eröffnen dem Lehrer und den lernenden und lesenden (!) Schülern nicht nur eine immer noch „offene Flanke“ der deutschen Nachkriegsliteratur, sondern auch Lesemodelle von Genres wie Idylle, Robinsonade und Utopie – eine wohl gerade heute sehr notwendige Ergänzung der schulischen Bildungsarbeit. Damit dürften auch die Integration der Schmidtschen Prosa in die allseits geforderten „verbindlichen thematischen Schwerpunkte zum Abitur“ und das Andocken an Themen wie „Literaturkritik“ oder „Natur und Transzendenz der Romantik“ jenseits aller Berührungsängste möglich sein.
Hier kann das Modell selbst, mit allen Stundenentwürfen, Leseanregungen, Leit- und Erschließungsfragen, Hausaufgaben und zum Verfassen eigener Texte ermunternden Arbeitshinweisen aus verständlichen Gründen (52 Seiten Umfang!) nicht näher vorgestellt werden. Als Gerüst des didaktischen Entwurfs von Hengst seien nur die zwölf vorgeschlagenen Stundenthemen angeführt, um auch gestandenen Schmidt-Kennern einen Überblick über die Spannweite des Gebotenen zu verschaffen: „Nach der atomaren Katastrophe – schreibende Annäherung an das Thema“ (Stunde 1); „Realität oder Fiktion? – Den Schauplatz erkunden“ (Stunde 2); „Der Überlebende baut sich ein Haus – was sagt es über seinen Bewohner?“ (Stunde 3); „Der schwarze Kern des Weltbildes – die Figur des Leviathan“ (Stunde 4); „Der Entstehungskontext – literarische Stimmen der Nachkriegszeit“ (Stunde 5); „Ein Liebespaar ohne Zukunft? – Das offene Ende der Erzählung“ (Stunde 6); „Verquere Interpunktion? – Arno Schmidts eigenwillige Sprache“ (Stunde 7); „Der Autor als Fotograf – Fotos mit der Webcam –Methode erfassen“ (Stunde 8); „Ein ‚Schwarzer Spiegel‘ – wie funktioniert er in der Literatur?“ (Stunde 9); „Vermischung der Zeiten und Persönlichkeiten – die Frage nach dem Autor“ (Stunde 10); „Idylle, Robinsonade oder Utopie? – Diskussionsrunde unter Kritikern“ (Stunde 11); „’Warum schreibst du eigentlich noch?‘ – Zur Aktualität von Nachkriegsliteratur“ (Stunde 12).
Wichtig ist gegenüber allen anderen bisher vorgelegten Unterrichtsmodellen, dass Schüler hauptsächlich mit Texten und Fotografien des Autors selbst arbeiten und zu einer produktiven Auseinandersetzung – und auch Kritik! – herausgefordert werden. Noch wichtiger – und dies dürfte dem aufmerksamen Leser der Stundenplanung in Stunde 8 nicht entgangen sein – ist die Methodenvielfalt des Unterrichtsmodells, ein nicht nur im Deutschunterricht häufig vernachlässigter Bereich. Dieses soll hier an einer neuen und überaus interessanten Methode erläutert werden.
Schmidt verwendete in seinen frühen Texten des Öfteren die Ausdrücke „Bild“ und „Foto“ und in Erweiterung dieser Technik geriet ihm die anschließende Prosareihe mit Die Umsiedler und Seelandschaft mit Pocahontas zum „Fotoalbum“. Was sollen nun die Schülerinnen und Schüler tun? Der Lerngruppe wird eine Folie mit drei Fotos von Landschaftsaufnahmen Arno Schmidts (© 1995 by Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld) gezeigt, und diese sollen mit der sog. Webcam-Methode erfasst werden. Was versteht man unter „Webcam-Methode“? Sie verdankt ihren Namen der an vielen modernen PCs angeschlossenen Filmkamera. „Als schriftliche Ausdrucksform geht die Webcam-Methode auf eine Kolumne der Frankfurter Allgemeine Zeitung zurück. Von dort hat das Kreative Schreiben sie übernommen und gegenüber intentionalen Formen der Beschreibung als optisch gesteuertes Verfassen von Texten begriffen. Wie die Webcam ihre Bilder unmittelbar ins Netz einspeist, so überträgt das Auge seine Eindrücke unmittelbar an die schreibende Hand. Es entstehen kurze Texte, die als „Webcams“ bezeichnet werden.“ (Hengst, a.a.O. S. 7) Die Schüler bekommen also Originalfotos von Schmidt vorgelegt, betrachten diese und beschreiben sie mit Hilfe der Webcam-Methode. Anschließend können sie ihre eigenen, nun „Webcam“ genannten Texte mit den entsprechenden Textstellen aus Schwarze Spiegel vergleichen. Foto 1 z. B., auf dem Arno Schmidt einen Bahnübergang abgelichtet hat, entspricht der Textstelle S. 10, Z. 20f. in der Suhrkamp-Ausgabe. Als Handreichung dazu vermerkt Hengst: „Die ‚Webcam‘ des Fotos wird eine Vielzahl von Einzelheiten notieren. Ein Beispiel: „Ein Bahnübergang ist zu sehen. Der matschige, leicht abfallende Weg führt über die Gleise in einen Wald. Die Bäume im Hintergrund wölben sich über den Weg und lassen ihn zu einem Tunnel werden. Die Bahnschranken sind geöffnet, zu beiden Seiten des Bahnübergangs sind Warnschilder zu erkennen, rechts entlang den Gleisen mechanische Vorrichtungen zum Stellen von Weichen. So ziemlich im Mittelpunkt des Fotos befindet sich ein kleines Bahnwärterhäuschen. Ein Mann steht davor und blickt in Richtung Kamera, er ist nur sehr schwer zu erkennen. Im Vordergrund auf der rechten Seite befindet sich ein Zaun.“ Der Vergleich im anschließenden Unterrichtsgespräch wird ergeben, dass das literarische Foto weniger Details gegenüber der Aufnahme auswählt und auch wertend eingreift („seidank“ Z. 20). Mit Hilfe dieser Webcam können die unterschiedlichen Versuche des Schmidtschen Erzählers erschlossen werden, Realität abzubilden und Denkprozesse und Assoziationsketten der „längeren Gedankenspiele“ sichtbar zu machen. (Der BB-Leser wird unschwer die Textstelle erkannt haben, sie findet sich in der BA I,1 auf Seite 202.) So weit ein illustratives Beispiel der Unterrichtseinheit.
Diese Art des engagierten und angeleiteten literarischen „Lesens“ und „Visualisierens“ findet sich durchgängig im Modell, nicht nur als der in der didaktischen Literatur nur allzu oft beschworene „Baustein“ der allseits bekannten „Steinbrüche“! Das vorgelegte Unterrichtsprojekt ist eine hervorragende Ergänzung für diejenigen Lehrer (und natürlich auch sonstige Leser!), die a) überhaupt sich mit dem Autor Schmidt befassen wollen und b) sich vertiefend zur Lektüre der an sich schon hervorragenden Edition der Suhrkamp BasisBibliothek anleiten lassen wollen, und dies von einem in Sachen Schmidt ausgewiesenen und kompetenten Fachmann.
Jörg Drews: Jochen Hengst, Mit Sprache fotografieren? Arno Schmidts Erzählung „Schwarze Spiegel.“
In: RAAbits. Impulse und Materialien für die kreative Unterrichtsgestaltung Deutsch/Literatur, Sekundarstufe I/II. Stuttgart, Raabe, 1992ff. Losebl. Ausg., Lieferung November 2008 (51 Seiten, mit zahlreichen Fotografien und Abbildungen sowie einer Farbfolie).