Jörg Drews: Stimmen aus der Vergangenheit. Paul Wührs und Walter Kempowskis Gespräch mit deutschen Dichtern der Vergangenheit und mit Alltagsdokumenten. Zwei Arten, Erinnerung zu stiften
Zu dem Zeitpunkt, da die Debatten um eine deutsche Gedenkstätte in Berlin sowohl für die ermordeten Juden wie auch für alle anderen Opfer und Toten des Dritten Reiches sowie des Zweiten Weltkriegs schon begonnen hatten und da Überlegungen erstmals zu hören waren, ob die Bundesrepublik nach dem Beitritt der Länder der ehemaligen DDR und der Verlegung des Regierungssitzes nach Berlin ein anderes Land sein würde und wie ein künftiges Selbstverständnis vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und eine neue Ziviltheologie – wenn schon keine neue Verfassung – dieses Staates aussehen müßte, erschienen 1993 und 1997 zwei umfangreiche Bücher, die sich, ohne daß die Öffentlichkeit sie gleich auf diese politische Situation bezogen hatte, auf für ihre Autoren je spezifische Weise diesen Fragen stellten und sie literarisch zu – um das altmodisch neutrale Wort zu benutzen – ,gestalten‘ versuchten.
Es handelte sich weder um „engagierte“ noch auch nur um offensichtlich „politische“ Literatur. Die beiden Autoren Paul Wühr und Walter Kempowski schienen bisher nicht nebeneinander zu gehören, außer vielleicht darin, daß beide in der Vergangenheit Originalton-Hörspiele geschaffen hatten, sich also an einem bestimmten künstlerisch-konzeptuellen Punkt, nämlich im Prinzip ,Zitat-Montage‘ nahestanden, ohne die Kempowskis Romane seiner Deutschen Chronik nicht denkbar sind und welche auch die Gedichte in Paul Wührs Büchern Rede. Ein Gedicht (1979) und Sage (1988) als Gedichte, die mit Stimmen deutscher Autoren der Vergangenheit zur Konstituierung eines neuen Typs „vaterländischer Gesänge“ arbeiten, kennzeichnete. Der Chronist Kempowski, der Pathos systematisch und so sehr zu unterlaufen schien, daß er schon wieder des Zerplauderns der Vergangenheit ins Pläsierliche geziehen werden konnte, und der Pathetiker Wühr, dem ein noch so reflektierter Patriotismus gar nicht zugetraut wurde, gerieten da doch in eine Nähe zueinander, die vielleicht früher erkannt worden wäre, wenn Kempowski nicht in ernsthafteren kritischen und wissenschaftlichen Köpfen schon als Lieferant harmlos-skurriler Sprüche und Paul Wühr als überkomplexer verstiegener bayerischer Querkopf abgestempelt gewesen wäre. Wühr allerdings hatte schon in dem Band Sage Geschichte und Stimmen aus der deutschen Geschichte in seine Gedichte und sich mit ihnen argumentierend eingelassen, ohne daß diese ,nationelle‘ Wendung bemerkt worden wäre, so daß also sowohl Anthologien zum Fortwirken Hölderlins im Gedicht der Gegenwart wie auch die Erörterung von möglichen oder unmöglichen Gedichten mit Auschwitz als Sujet ohne ihn auskamen, der doch zwei Aus schwitz-Gedichte geschrieben hat, die einem den Atem verschlagen: „Streicher“ und „Anlage“.1 Vielleicht starren die Germanisten bisweilen etwas zu ausschließlich auf Paul Celans „Todesfuge“.
Walter Kempowski veröffentlichte 1993 die 3000 Seiten seines Unternehmens Echolot2, und von Paul Wühr erschien 1997 ein Gedichtwerk von 798 Seiten mit 660 Gedichten unter dem Titel Salve res publica poetica; auf deutsch könnte man sagen: „Dich singe ich, Republik der Dichtung“ oder auch „Sei gegrüßt, Poesie, in der alles zur Sprache kommen darf“.3 Für Wühr, dessen Geschichtsbewußtsein bezüglich Deutschlands voller Unbehagen, aber mit dem Pathos der Verantwortlichkeit in dem Maße zunahm, wie er sich als bayerische Sondererscheinung mißkannt sehen mußte, hieß dies auch, daß er gerade seine alten und neuen Gewährsleute zum Sprechen über Deutschland verhalten mußte; methodisch gesehen, sind die Gedichte in Salve res publica poetica allerdings gar nicht ein so scharfer Bruch mit den Wührschen Schreibweisen in seinen bisherigen Gedichten, in denen schon immer eine Art Gespräch mit Stimmen der Vergangenheit in der Form des Einspielens von Zitaten und in Anspielungen auf Dichter der Vergangenheit angezettelt und fortgeführt wird.
1.
Walter Kempowskis Echolot allerdings ist ein Buch von insgesamt 3000 Seiten, ein „kollektives Tagebuch“, wie es im Untertitel heißt – ein Lesebuch zum Dritten Reich, könnte man sarkastisch sagen. Es konzentriert sich auf die zwei Monate zwischen dem 1. Januar und dem 5. März 1943, mit ein paar zeitlich nicht genau dazugehörigen Einsprengseln gewissermaßen aus rhythmischen Gründen, und treibt die kleinteilige Montage aus Kempowskis Chronik-Romanen in die methodische Radikalität, indem nämlich das Erzählen gänzlich aufgegeben wird. Kempowski läßt eine Epoche über sich selbst Tagebuch führen, eine Epoche im alten Sinn des Wortes, die Zeitenwende von Stalingrad nämlich, die insgesamt über 300 000 deutsche Soldaten das Leben gekostet haben dürfte, Deutschland als Militärmacht und die Moral der Truppe wie der Zivilbevölkerung entscheidend schwächte. Die Texte dieses kollektiven Tagebuchs kommen nicht nur aus Kempowskis Privatarchiv für Lebensläufe dieses Jahrhunderts, wie in der Presse oft verengend und die Sache auf etwas Hobbyartiges, Schrulliges und Tickhaftes reduzierend angenommen wurde, sondern zum größten Teil aus veröffentlichten oder doch allgemein zugänglichen Quellen (wobei man allerdings sagen muß, daß das Kempowskische Archiv hier erstmals zeigte, wie ungeheuer vielfältig es noch zu nutzen sein wird, und nicht nur unter literarischen Gesichtspunkten).4
Für wen auch immer die Zitierten damals ihre Tagebucheintragungen, Briefe, Gedichte und Aktennotizen schrieben, für sich selbst, die Familie, die Presse, Vorgesetzte oder Nachwelt – indem sie zitiert werden, von zwei Zeilen bis zu einigen Seiten Länge, meist zwischen zehn und dreißig Zeilen lang, verwandelt sich das Private ins Öffentliche, das Besondere zum Allgemeinen oder doch zum Zeichen für Allgemeines; beiläufige Sätze werden aussagekräftig, Marginales symptomatisch, Absichtsloses literarisch, bisweilen fast dichterisch. Von Hitlers Leibarzt bis zum Obergefreiten in Stalingrad, von Fließbandarbeiterinnen und den Verwaltern des Massenmords an den Juden bis zu den Bettelbriefen von deutschen Autoren im Exil, von Sprachregelungen für die NS-Presse bis zu Kinoprogrammen, von Tagebüchern von Tanzstundenmädchen, die von jungen Offizieren schwärmen, bis zu den letzten Briefen von Hinzurichtenden – die Toten sprechen noch einmal.
Kempowski ist kein analytischer Erzähler im Sinne etwa von Manfred Frankes – in gewissem Sinne ja auch dokumentarischem – Buch Mordverläufe oder von Alexander Kluges Schlachtbeschreibung, dem anderen großen Stalingrad-Buch, das im Untertitel der Erstausgabe von 1964 „Der organisatorische Aufbau eines Unglücks“ heißt. Kempowski fingiert keine Zitate, verschleift auch nicht echte mit erfundenen Zitaten, sondern Kempowskis analytische Fälligkeiten stecken hinter der Auswahl, der Sequenzierung seiner Zitate. Die Textmassen, sozusagen die „Totalität“ des zu Repräsentierenden, war aber weder durch den Begriff noch durch die Verwandlung in ,Erzählung‘ zu gestalten, d.h. auf ein bestimmtes Maß zu bringen, das Grenzenlosigkeit signalisieren und dennoch Gliederung bzw. gegliederte Wahrnehmung zu erlauben hatte. Indem Kempowski jedem der ungefähr 60 Tage des gewählten Zeitraums 50 Seiten zumißt und dann die Zitate in einer Art halbstarrer Anordnung hintereinandersetzt – beginnend immer mit der Eintragung von Hitlers Leibarzt zur Tagesbefindlichkeit des Patienten und endend immer mit der Eintragung Danuta Czechs ins Auschwitz-Tagebuch, betreffend die Zahl der heute durchs Gas und sonstwie Getöteten, dazwischen die Masse der Zitate verschiedener, zum Teil sich aber wiederholender Provenienz –, ergibt sich für den Lesevorgang eine Rhythmisierung, eine Mischung aus der Ahnung von Erwartbarem und dann wieder Unvermutetem. Man bekommt, ähnlich wie bei der Lektüre eines umfangreichen Romans, die Chance, sich mit einigen Personen, sprich: Stimmen vertraut zu machen, Perspektiven, aus denen berichtet wird, wiederzuerkennen und einschätzen zu lernen, der Stimmenvielfalt also nicht gänzlich ausgeliefert zu sein – was den Aufnahmeprozeß gewissermaßen dekomponieren würde –, sondern die Stimmenvielfalt zu strukturieren und zugleich das Gefühl zu behalten, daß man sich in einem „enormen Raum“ (E.E. Cummings) aufhält.5
In diesem Raum der unzähligen Stimmen gerät man in eine Art stumme Starre. Fast jede zitierte Eintragung in diesem Tagebuch ist ein Fundstück, das man ausdeuten und bewerten muß, das in mentalitätsgeschichtliche Tiefen führen kann und vor allem immer wieder Überlegungen herausfordert bezüglich des Verhältnisses seines Verfassers zu Wahrheit und Lüge, zu Aufrichtigkeit und Verblendung, und einer der Effekte dieser Lektüre ist, daß man kaum noch urteilen und rechtbehalten möchte, dies jedenfalls als unangemessen und kleinkariert empfindet gegenüber der Möglichkeit, das Urteil zunächst zu suspendieren und zu lernen, das Authentische – so unangenehm es einen berühren mag – wirken zu lassen und das Gefangensein all derer, deren Stimmen da zu vernehmen sind, wahrzunehmen. Wenn depressives Verstummen zumindest eine adäquate Phase in der Reaktion auf die Kenntnisnahme der deutschen Vergangenheit ist, so wird solches Verstummen bei der Lektüre von Echolot, dieser Sondierung der Tiefen und Untiefen deutscher Geschichte und Mentalität, begleitet von einem Gefühl der Pietät, definiert als unabweisbares Recht auf Erbarmen, das daher rührt, daß nicht nur die Opfer ohne Verschulden Opfer wurden, sondern daß auch die Täter und Mitläufer nie eine Chance hatten, aus dem Bann, der durch Erziehung und Propaganda auf ihnen lag, sich zu lösen. Als Leser leben wir nicht mehr im Dunkel der Uninformiertheit der meisten hier zitierten Schreibenden; wir sind Leser nach dem Verfliegen des kollektiven Wahns und haben den Vorteil der Kenntnis der ganzen Epoche und damit einer Perspektive auf diese Zeit.
Das Echolot ist die Krönung von Walter Kempowskis Buchreihe, die von Aus großer Zeit bis Herzlich Willkommen den Versuch einer literarischen Chronik des deutschen Bürgertums von 1850 bis in die fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts macht.6 Sein Blick fällt nun aber auf mehr und weiteres als nur das Bürgertum, und damit löst er sich auch von gewissen Ergötzlichkeiten des bürgerlichen Jargons; vor allem aber besteht seine Leistung darin, daß er verantwortlich und uneitel reagiert auf die Schwierigkeit, daß die Epoche des Dritten Reiches einerseits in ihrer Gänze unfaßbar und zugleich überdokumentiert ist, und daß andererseits das freie literarisch-ästhetische Erfinden von Schicksalen etwas Frivoles haben, zynisch, beliebig wirken könnte, vielleicht sogar wirken muß; mit anderen Worten: es wäre halt „fiction“. Kempowski nimmt sich wissentlich und planmäßig, ich finde: geradezu demütig und souverän zurück. Als Urheber, als „Originalgenie“, das mit eigener Sprache schöpfergleich Welt schafft oder gestaltet, ist er nicht mehr da, aber als Arrangeur und als Hirn. Das vielbeschworene „Verschwinden des Autors“ ist hier kein theoretisches Postulat oder die Beobachtung von etwas, was der Literatur zustieß hi den letzten Jahrzehnten, sondern dies ist hier die bewußt ergriffene Möglichkeit, eine problematische Instanz, nämlich den erfindenden und wissenden Erzähler zurückzunehmen, aus der Schöpferrolle in die Indirektheit und Bescheidenheit hinüberzuwechseln, welche auch mit der Einsicht zusammenhängt, daß vielleicht gar nicht mehr ausgedacht werden kann, was als Formuliertes ja schon bereitliegt und in Dokumenten aller Art aufbewahrt ist.
Es ist eine der großen Leistungen von Das Echolot, daß hier die Menschen nicht bevormundet werden, sondern ihnen erlaubt wird, sich selbst zu ihren Chronisten zu machen, und daß dabei stellvertretend eine große Zahl von unbekannten Namen aus der Anonymität hervortreten darf. Kempowskis Buch ist nicht im alten Sinn als ,Dichtung‘ zu nehmen: sei’s drum. Es ist aber große Literatur, und als Literatur nicht mehr mit verstaubten Definitionen dessen, was Autorschaft oder was Literarizität sei, einzuholen. Nachzumachen, als Rezept, ist das wohl durch keinen anderen Autor, vielleicht als Verfahren noch nicht einmal durch Walter Kempowski selbst; man darf gespannt sein, wie das Pendant zu Das Echolot, eine Textmontage zu den Monaten Januar/Februar 1945, die Kempowski unter dem Titel Das Echolot, Fuga furiosa eben publiziert, Ausfallen wird. Zugleich aber steht Das Echolot nicht nur in der Perspektive von Kempowskis bisherigen eigenen Büchern, die auf diffizile Weise Dokument und Zitat zu einem Kempowskischen Text einschmolzen; jetzt erst wird vielmehr von ihm mit dem kühnen, puren Zitatismus ernst gemacht. Walter Kempowski, der ungerechterweise nicht gerade im Verdacht stand und steht, mit künstlerisch progressiven Zirkeln der Bundesrepublik in Verbindung gebracht werden zu können, realisiert etwas, das seinem Werk eine überraschende Radikalität der Methode sichert. Das Echolot gelangt in die Nähe der radikalen Konzeptionen eines Autors, den man noch nie in einem Atemzug mit Walter Kempowski nennen mußte.
Walter Benjamin träumte in den dreißiger Jahren davon oder erwog doch zumindest auf einer bestimmten Stufe der Konzeption, sein Buch über die Pariser Passagen nicht mehr durchzukomponieren, nicht mehr (sozusagen) zu ,verfassen‘, sondern die Materialmassen als reine Zitat-Montage anzuordnen, das Material so zu arrangieren, daß kommentarlos herausspringe, was er sagen wollte (wozu er es, wie er sagte, „verhalten“ wollte.) Angesichts einer Trümmerlandschaft, die hundert Jahre nach Walter Benjamins Sujet und drei Jahre nach dem Zeitpunkt entstand, da Benjamin sein Passagen-Projekt als Trümmerlandschaft, als „Niederlage im Großen“ zurücklassen mußte, erfüllt Walter Kempowski das künstlerische Vermächtnis Walter Benjamins. Picasso soll im Zweiten Weltkrieg in seinem Pariser Atelier von einem deutschen Offizier aufgesucht worden sein, der nicht nur Photos von den im Atelier befindlichen Bildern Picassos machte, sondern auch mit Picasso ins Gespräch zu kommen versuchte. Insbesondere habe der Offizier sich länger Picassos Guernica-Gemälde angesehen und Picasso schließlich gefragt: „Haben Sie das gemacht?“ – „Nein, Sie!“, sei Picassos kurze Antwort gewesen. Im Sinne dieser Anekdote könnte man sagen, daß Walter Kempowskis Buch Das Echolot gar nicht von ihm stammt, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn von ihm ,gemacht‘ wurde und keines seiner ,Werke‘ ist, sondern von denen stammt, die damals lebten, damals – Anfang 1943.
Wie Peter Weiss’ Die Ästhetik des Widerstands bei ihrem Abschluß 1982 sogleich als eine große abschließende Chronik der deutschen Arbeiterbewegung erkennbar war, so ist Kempowskis Beschwörung des Chors der Stimmen aus einer entscheidenden Phase des Zweiten Weltkriegs das zweite große literarische Monument jener Epoche, die wir Deutschen nie ganz werden abschließen können und die wir gerade deshalb gewissermaßen offensiv den Beständen und Arbeitsmaterialien unserer Nation zuschlagen sollten. Weiss’ Buch ist das Memorial der deutschen Arbeiterbewegung; der Ton, auf dem es endet, auch schon der des tiefen Zögerns vor der Frage, welche Interpretation, welche ,Sinngebung‘ dem Untergang der Arbeiterbewegung und des linken Widerstandes im Dritten Reich zu verleihen sei. Eine der zentralen Intentionen Weiss’ übrigens war die Nennung von Namen im Sinne der stellvertretenden Rettung einer Anzahl von Menschen vor der Furie des Vergessens,7 und parallel hierzu steht die Rettung der Stimmen bei Walter Kempowski; Sinngebung wäre dabei vermessen und wird verweigert, bei Kempowski mehr noch als bei Peter Weiss, aber die Vergangenheit soll doch einmal auferstehen, die (inzwischen meist schon) Toten sollen noch einmal sprechen dürfen. Und wir müssen zuhören, im doppelten Sinne: im Sinne des Schmerzes dabei und im Sinne unserer Verpflichtung für die Toten. Ihr Sterben wäre erst ganz sinnlos, wenn wir ihnen nicht einmal mehr zuhörten und das Siegel des Vergessens darauf drückten.
2.
Erinnerung ist ein Teil der Ziviltheologie, der einzig noch möglichen, der von jeglicher Transzendenz befreiten, der säkularisierten. Kempowski wie auch Paul Wühr treibt die Absicht um, aus purem „Eingedenken“ kulturelles Gedächtnis zu machen. Stärker als bei Kempowski ist bei Paul Wührs Gedichtwerk, diesem Argumentationsfeld aus Gedichten, diese Intention aufs Durchdenken der politisch-poetischen Situation des deutschen Staates ein beherrschender Antrieb, und sei es auch nur im Sinne der Mahnung, daß mit Gründen, mit guten, und das heißt mit schlimmen Gründen der Versuchung gerade jetzt, nach 1989, nicht nachgegeben werden darf, dem Staat durch vergangenheitsvergessene ideologische Dekrete eine Dimension von Sinn, Wesenhaftigkeit oder Beglaubigung zuzusprechen, die über die nüchternste und zivilste Selbstdefinition hinausginge. Wühr aber öffnet die Erinnerung in die Zukunft und läßt die Stimmen der Vergangenheit nicht einfach stehen, sondern läßt sie in argumentative Dynamik zueinander treten, konstelliert aus der Gegenwart die Stimmen der Vergangenheit und scheut sich nicht, eine andere, engere Auswahl von Stimmen zu Wort kommen zu lassen, über deren Anwesenheit man sich zunächst so wundern kann wie über die Anwesenheit von Pontius im Credo:
Aus
der Vergangenheit kömmt jede
Gedankenwelle und in die
Zukunft eilt sie
davon ging die Günderode aus
[…] (S. 389)
Der Satz der Günderode steht zunächst als argumentative Partikel zum Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft. Kempowski stellt sich – im Grunde ,epischer‘, könnte man sagen – dem Problem von Materialmenge, Totalität und Repräsentativität. Paul Wühr wählt von vornherein eine andere Stimmenkonstellation, wählt Namen aus, die aber ,bedeutend‘ sind, das heißt historisch und argumentativ aussagekräftig und die er nun in seinem spirituellen Raum zusammentreten und in einem fingierten Palaver die deutschen Dinge ausreden läßt, einem Palaver, das ausgelöst wird von einer Gegenwart bzw. jüngsten deutschen Geschichte, die die historischen Figuren gar nicht kennen konnten. Wenn unter den Wührschen Stimmen Gotthold Ephraim Lessing und Theodor Lessing sich befinden, dann bildet sich darin eine Konstellation deutscher Geschichte ab: Der eine war der Fürsprecher der Emanzipation der Juden und der Freund Moses Mendelssohns im 18. Jahrhundert, der Sprecher also von nicht nationalen, sondern menschheitlichen Idealen; der andere stammt aus einer Hannoveraner jüdischen Familie, die nach dem Aufklärer und Humanisten Lessing sich genannt hatte, und er wurde erstens wegen seines Namens umgebracht und zweitens als erster von 6 Millionen planmäßig ermordet, nämlich im Sommer 1933 in Karlsbad: in Lessing wurde Lessing ermordet. Moses Mendelssohn tritt hinzu in einem idealen Wolfenbüttel, in einer versäumten, besseren Möglichkeit deutscher Geschichte; hinzu kommen als romantische und als spätaufklärerische Staatstheoretiker Novalis und Johann Gottfried Seume, der eine der Verklärer der Monarchie, der andere der radikale Spätaufklärer und Zerstörer aller Staatsmetaphysik, der Republikaner und Atheist Seume, die ihre Argumente gegeneinander setzen dürfen – provoziert, gewissermaßen hervor- und hereingerufen, zum Sich-Melden angestachelt von Personen und Stimmen der Gegenwart, wie Ezer Weizmann oder Rafael Seligmann, die über die alte und die neue Möglichkeit oder Unmöglichkeit, als Jude in Deutschland zu leben, ja sogar sich noch oder wieder als „deutscher Jude“ zu bezeichnen, streitend, einander – meist mit Originalzitaten – ins Wort fallend perorieren:
Als
deutsche Juden standen wir
auf unserem
deutschen Standpunkt in
den Lagern sagt
Theodor Lessing in einem
Gotthold der
jenen aus der Zukunft
zurück sagen läßt
wir waren typische Deutsche
keine Juden wie
wir sie jetzt in unserem
Staat sind in
dem wir nichts anderes
sein wollen als
Juden was die kollektive
Selbsterhaltung
unseres Volkes wahrhaftig
gezeigt hat
(S. 328)
Wühr läßt die beiden Lessings auseinander sprechen, wobei der Realis in den Irrealis changiert: ein Theodor Lessing, der das Dritte Reich überlebt hatte und ausgewandert wäre, würde „jetzt“ als israelischer Bürger ganz eindeutig nur ,Jude“ sein wollen – und würde damit so verständlich wie borniert im Sinne der „Selbsterhaltung“ plädieren und damit obendrein noch Recht haben, aber damit wäre ein Teil des zivilen und humanen Ideals im Denken beider Lessings verloren. Es folgt ein unbehagliches Schweigen, denn „nichts anderes / sein wollen als // Juden“ wäre das Ende der fruchtbaren Möglichkeit, deutscher Jude oder jüdischer Deutscher sein zu können:
Daraufhin
schwiegen die beiden
Lessings nämlich auch
der andere sagte dazu
kein Wort
Moses Mendelssohn stieß
seinen Freund so oft in
die Seite bis dann doch
einer von beiden aus dem
größeren Lessing heraus
sagte
uns beiden kann das
eine Volk in einem Staat
gestohlen bleiben
(S. 329)
„Das / eine Volk in einem Staat“ wäre eben das starre Prinzip, was in der Vergangenheit so viel Unheil gestiftet hat; es liefe auf die Forderung hinaus, jedes Volk müsse auch staatlich verfaßt sein und jeder Staat sollte nur ein Volk in seinen Grenzen haben wollen – was obendrein schon deshalb schwierig wäre, weil dann die Frage der Religionszugehörigkeit als nächstes sprengendes, trennendes Prinzip ins Spiel gebracht werden könnte. Die vier Aufklärer sehen da eine Lösung nur unter einem ganz anderen Prinzip:
Wie
wäre es wenn wir den
Juden nicht mehr
sagt Theodor Lessing
und Gotthold Ephraim
sagt und den Christen
gar nicht mehr heraus
kehren würden
nur noch reden mit
einander meinte
Mendelssohn und
essen
und trinken riefen
die Lessings
und lieben seufzte
besonders der Mann
aus Wolfenbüttel
und nur noch bekennen
wie gut es tut hier
überall zusammen
zu sein
um eines Tages sagen
zu können sagt Seume
die Erde hat den Himmel
verdorben
(S 331)
Der Seume der Apokryphen von 1807/8 wird hier hereinzitiert, der meinte, wenn das Leben auf der Erde vernünftig eingerichtet wäre – und das schließt einen toleranten, die Menschenrechte achtenden Staat ein –, wäre der Himmel als Trostgrund nicht mehr nötig, der Verweis auf jenseitige Tröstungen überflüssig und insofern der Himmel, fröhlich sarkastisch gesagt, „verdorben“. Wenn aber „alle Menschen Brüder“ werden sollen und auch wirklich werden, dann kann ich Gott sei Dank gar kein „Volk“ mehr verraten, da ich ja zu keinem mehr ausschließlich gehöre:
Als
Bürger eines Staates mitten
in Europa der
Name desselben verdürbe
mir nur die Sache
um die es mir geht sagt
ein Lessing
der hier aus einer Zukunft
zurückspricht in
der wir eines Tages Menschen
sein wollen
kenne ich keine Brüder
im Glauben ein
Volk kann ich auch nicht
verraten
(S. 327)
Damit es aber nicht zu pathetisch wird, treiben die vier ihr Gespräch in einem utopischen Wolfenbüttel nun vollends ins Heiter-Absurde, indem sie mit fast syllogistischem Scharfsinn jenem Ezer Weizmann heimleuchten, der vor zwei Jahren bei einem Besuch der Bundesrepublik gesagt hat, er verstehe nicht, wie ein Jude noch oder wieder in Deutschland leben könne, wofür er von Ignaz Bubis bis Rafael Seligmann viel Kritik zu hören bekam; human wäre überdies ein Staat, bei dem man sich nicht dauernd zu etwas „bekennen“ muß, aber sich natürlich bekennen kann, wozu man Lust hat, wenn man Lust hat. Und also stellt der niedersächsische Jude Lessing – als Hannoveraner ist er das ja logischer- und verrückterweise – die bizarrste Frage, die natürlich blanker Hohn ist, auf die aber, wenn sie ernst gemeint wäre, Gotthold Ephraim Lessing im Sinne des eben Diskutierten wirklich mit „ja“ antworten muß:
Ein
Deutscher muß kein bekennender
Jude sein lebt er im deutschen
Staat er kann aber
sagt Moses
ein Israeli das müßte doch
der Weizmann sagen müsse
kein bekennender Jude sein
wenn er im jüdischen Staat
leben will
aber er kann
das meinte der Gotthold
ob er warf Theodor in die
Runde verletze mit seinem
Bekenntnis er hoffe ein
jeder Staat ließe ihn Bürger
sein auch wenn er Niedersachse
sei und zwar ein bekennender
ja sagte Gotthold
(S. 332)
Walter Kempowski spricht überhaupt nicht von der Zukunft und scheint sich mehr um den Verlust der Stimmen, von denen er eine gewisse Anzahl aufgenommen hat, zu grämen. Was deren Bewahrung bedeuten und bewirken könnte, spricht er gar nicht aus; hier verhält er sich sozusagen abstinent, und die Grundhaltung ist die eines Erbarmens mit der Vergangenheit und einer Pietät gegenüber dem Schicksal der Einzelnen, die hier sprechen. Sowohl Kempowski wie Wühr arbeiten, mit leichten Verschiebungen, in der Funktion bzw. mit dem Begriff eines ,erweiterten Autors‘, machen sich selbst zu erweiterten Autoren. Als solche lesen sie aus der Zukunft heraus die Vergangenheit anders; als Nachfahren der Katastrophe stehen sie nicht in der Katastrophe und auch nicht der Katastrophe unmittelbar gegenüber, sondern schreiben und komponieren im Bewußtsein der inzwischen vergangenen Zeit. Paul Wühr insbesondere trägt dem Rechnung, daß die Bedeutung eines Autors verändert wird durch die inzwischen vergangene Zeit: Was Lessing und Mendelssohn etwa im 18. Jahrhundert verhandelten, hat sich gewandelt, hat jedenfalls neue Nuancen bekommen durch das, was inzwischen vorfiel und weil neue Autoren zu ihnen treten. Die Autoren werden ,vorgeführt‘ als solche, die einander immer wieder anders lesen, weil sie Erfahrungen machten. Sie bilden eine imaginäre Bruderschaft durch die Zeiten hindurch, über die Zeiten hinweg. Kempowski wie Wühr sehen, daß das Verhältnis zur Geschichte immer neu zu bestimmen ist und daß jede Zeit erneut sagen muß, welchen Willen zu welcher Zukunft sie hat.
In diesem Sinne sind Kempowski wie Wühr, der eine geboren 1929, der andere 1927, Angehörige einer Generation, nämlich derer, die im Bewußtsein der Vergangenheit fürchten, daß diese mit ihnen sterben könnte. Aus diesem Grund versammeln sie, montieren sie Stimmen. Stimme steht bei Kempowski kommentarlos neben Stimme, und er vertraut ohne nähere Bestimmung auf den Chor der Stimmen. Bei Wühr aber steht Stimme gegen Stimme, ,diskursiv‘ und dialogisch und dennoch sozusagen agnostisch, nicht im Ton der sicheren Diagnose, sondern in einer Art stotterndem Räsonnement, so daß sich ein Geflecht von Stichworten, Namen und Denkmotiven ergibt, das sich vor allem gegen jede Sinngebung des Sinnlosen wendet und alle Arten von Selbstgefälligkeit und selbstgefälligen Dogmen unterminiert. Die Utopie darin ist, es könnten diese fünf, sechs zueinandertreten und miteinander reden und die deutsche Sache einmal in Bewußtsein der Vergangenheit, aber mit dem Blick auf die Zukunft ausreden, und was sie sagen, wäre gefärbt durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Sie träten und treten zusammen im imaginären Raum des Gedichts, nach der Katastrophe, stellvertretend, und sprächen für eine reflektierte Zukunft.
Verglichen mit solcher Inszenierung von Stimmen aus der Vergangenheit zu einem Dialog über die Prinzipien einer vernünftigen gesellschaftlichen und staatlichen Zukunft in Deutschland ist zumindest die schon existierende „Zentrale Gedenkstätte“ in Berlin Unter den Linden eine Veräußerlichung dessen, was sicher ein moralischer Auftrag ist; hoffen wir, daß die zu errichtende andere Gedenkstätte doch noch mehr und anderes werden wird. Dies Paradox aber wird bleiben, daß Walter Kempowskis Versammlung von authentischen Stimmen aus der Vergangenheit zu einem literarischen Chor, einem literarischen Fugato, wie auch Paul Wührs Herrichtung einer Bühne für einen imaginären, aber auf Zitate sich stützenden vernünftigen und brüderlichen Dialog in den Gedichten der Abschnitte „Ob Theodor Israel Lessing“ und „Der deutsche Jude“ in dem Band Salve die gewichtigere, nuancenreichere, im Ton unendlich moduliertere Art ist, mit der Vergangenheit ins Gespräch zu kommen, als ein noch so durchdachtes Bauwerk es sein kann, bei dem das architektonisch massiv gut Gewollte vielleicht das Spirituelle dann doch überwältigt. Das Dilemma wird ohnehin bleiben: Die ihre Lektion gelernt haben, brauchen weder das eine noch das andere Stein gewordene Memorial. Doch vielleicht braucht es ja wirklich eine Stätte in Berlin, wo symbolische Akte des Gedenkens vollzogen werden können. Für die aber, die mit der Literatur leben, sind die würdigsten und unerschöpflichsten Gedenkstätten diejenigen, welche die Form von großen Büchern angenommen haben. Kempowskis Echolot und Wührs Salve Res Publica Poetica gehören dazu.
Anmerkungen
1 Paul Wühr: Sage. München Wien: Hanser, 1988. S. 25; S. 27.
2 Walter Kempowski: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. 4 Bände. München: Knaus, 1993.
3 Paul Wühr: Salve res publica poetica. München Wien: Hanser, 1997; im folgenden mit der Sigel S und der Seitenzahl direkt im Text zitiert.
4 Charlotte Heinritz: „Das Kempowski-Archiv für unpublizierte Biographien“. Walter Kempowski zum 60. Geburtstag. Hg. Richard Hacken u. Bernd Hagenau. München Hamburg: Knaus, 1989. S. 21-46.
5 S. dazu Carla Damiano: Montage as Exposure: A Critical Analysis of Walter Kempowski’s DAS ECHOLOT. Dissertation, University of Oregon 1998.
6 S. dazu Jörg Drews: „Für einen, der sich’s hat sauer werden lassen“. Walter Kempowski zum 60. Geburtstag (wie Anm. 4). S. 7-20.
7 Jörg Drews: „Echte Trauer — was ist das? Die Namenlosen, die Namhaften und die Unnennbaren in Peter Weiss’ ,Die Ästhetik des Widerstands‘. Protokolle. Zeitschrift für Literatur und Kunst H.l (1967). S. 105-132.
Jörg Drews: Stimmen aus der Vergangenheit. Paul Wührs und Walter Kempowskis Gespräch mit deutschen Dichtern der Vergangenheit und mit Alltagsdokumenten. Zwei Arten, Erinnerung zu stiften. In: Die poetische Republik. Annäherungen an Paul Wührs „Salve res publica poetica“. Hg. von Sabine Kyora. Aisthesis Verlag, Bielefeld, 2002, S. 47-60. Wiederabgedruckt in: Jörg Drews: Lob des krummen Holzes. Über Paul Wühr. Hg. von Thomas Combrink. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2016, S. 97-115.