Jörg Drews: Trauerrede für Walter Kempowski am 25. November 2007
Herr Ministerpräsident, Herr Oberbürgermeister, liebe Freunde, liebe Familie Kempowski, liebe Hildegard,
Die Hamburger Großmutter collasius soll Walter Kempowski einen Zettel mit einem Spruch geschickt haben, der lautete: „Ich jage nach dem vorgesteckten Ziel“ Wer nun aber meint, diese Wandsbecker Botschaft sei tiefsinnig nickend auf Kempowskis Leben und Werk zu beziehen, wird bald merken, daß der Spruch eher in Ominös-vieldeutige führt und bestenfalls ebenso viel Unaufgelöstes und Paradoxes enthält wie Leben und Werk des Autors, zu dessen Ehren wir heute in seiner Vaterstadt versammelt sind.
Spricht der Spruch von der Vergeblichkeit ruhelosen Tuns, das dann doch zu keinem Ende kommt, in seiner Fruchtlosigkeit geradezu sündig ist, weil es keine Ruhe im Herrn kennen will? Wer hat das Ziel ‚vorgesteckt’, und ist damit in frommer, strenger Ironie eigentlich nur der Tod gemeint, der ja nun wahrhaft ‚vorgesteckt’ ist und nach dem man eigentlich nicht jagen muß, weil er ja ohnehin unbarmherzig dekretiert ist? Ist also von der Sündhaftigkeit der Ruhelosigkeit, von der eitlen Leere allen Strebens die Rede, die am Ende nur Selbsttäuschung ist? Walter Kempowski läßt an der Stelle, wo er den Satz in seinen fragmentarischen „Memoiren“ zitiert, die Interpretation offen, zeigt sich aber sehr angerührt von diesem Satz, vielleicht weil er sich in seiner Widersprüchlichkeit erkannt fühlte: auch in seiner Kunst, der Literatur, „jagte“ er nach seinem Ziel, als ob er es für erkennbar und erreichbar hielte, und dabei sagte er doch in dem letzten Gespräch, das wir mit ihm hatten, was er tue, sei gar nicht so sehr auf Abrundung und Vollendung angelegt, sondern darauf, dass es immer weiter gehe mit dem Werk. Sah er selbst sein unablässiges Weiterarbeiten zugleich auch als eine Art Getriebensein bei untergründiger Vergeblichkeit? Mit seinem eigenen Fleiß kokettierend kann’ s ja wohl nicht gewesen sein; eher drückt sich da eine protestantische Arbeitsethik aus, die aber nicht zu trennen ist von der Getriebenheit eines Widerholungszwangs: ist der Notwendigkeit eines Buches Genüge getan, ist damit aber nichts gelöst und befriedet, sondern es wird gleich das nächste Buch auf Kiel gelegt und der Triebtäter, der Zwangshandelnde beginnt sein Tun aufs Neue: Er handelt eben nicht in moralischem Auftrag, sondern unter Zwang. Nur eben: Was immer der Antrieb ist, am Ende ist etwas geschaffen worden, was unbestreitbar da ist; das, was da Abendland sein „Höheres“ nennt, sagt Gottfried Benn, ist im männlichen Sitzen produziert, und bei Walter Kempowski heißt das: Einmal die neun Bände der Deutschen Chronik, einmal die zehn Bände des „Echolot“, dann sechs weitere Romane und ein Bericht, dann fünf Bände mit Tagebüchern – und das ist ja doch was anderes noch als einfach ein Bündel von Symptomen einer Kreativitätspsychopathologie, es ist auch noch wesentlich mehr als nur die Bewirtschaftung von seelischen Deformationen und die Verwaltung von Macken und Größenphantasien – es ist formgewordener, überlieferbarer Geist und heißt: Deutsche Chronik, heißt Kollektives Tagebuch, heißt Roman und Bericht und heißt von „Sirius“ und „Alkor“ bis „Hamit“ und weiter, und wird heißen „Langmut“ und „Plankton“ und „Allzeit“, und es ist eben nicht entlarvungspsychologisch relativierbar.
Man kann es auch – Kempowski würde es schief schmunzelnd billigen – „Jahrhundertdichtung“ nennen und sich unter solchem Lob hinwegducken, indem man versichert, dies beziehe sich auf den von Kempowski erzählerisch bedachten Zeitraum von ziemlich genau 100 Jahren, vom Anfang von „Aus großer Zeit“ bis zu dem Tagebuch-Fragment aus dem Jahr 2001. Dies ist aber der Zeitraum, von Kempowski noch authentisiert durch direkte Erzählungen Lebender bis zu den Fernsehnachrichtigen des eigenen Tageserlebens in seinen späteren Jahren. Ein Jahrhundert als Sujet, zunächst authentisiert durch eineStimme, die die Erinnerung sprechen läßt. Dann kommt da etwas ganz Neues: Eine Literatur aus dem Archiv. Es war sein großer Einfall, geschichtliche Dokumente privaten Ursprungs zu versammeln, und wem das zunächst nur ein Akt national-humanistischer Pietät schien eine umfangreiche Skurrilität, der konnte zusehen, wie diese unschematische, quasi ‚unwissenschaftliche’ Neugier plötzlich eine konstruktive Wendung nahm, weit über die punktuell-kuriosen antworten, die Walter Kempowski schon in den Befragungs-Bänden der „Deutschen Chronik“ gesammelt hatte und die noch von unsystematischer Leichthändigkeit waren, nun aber überführt wurden in viel massivere Dimensionen und in die Kraft von Belegen für die Mentalitätsgeschichte hauptsächlich der Deutschen – und so entstand „Das Echolot“, jene zehn Bände, in denen Kempowski es fertig bringt, aus Dokumenten-Bruchstücken Kunst zu machen und dennoch nicht die Geschichte oder Geschichte zu ästhetisieren, sprich: sie künstlerisch bevormundet zu überformen. Tragödien aber sind bekanntlich in der antiken Poethik immer zu durchsetzen mit Burlesken und Satyrspielen, also durchsetzte Kempowski die so zehrend ernste Arbeit an den Fragmenten von Mord und Verblendung, den Dokumenten des Versprengtseins in Leid und Borniertheit, in Schmerz und ideologische Verdummung, mit der Arbeit an seinen Tagebüchern, um einen Atemraum auch zu bekommen für das quasi Unverantwortliche des Sich-Aufführens als lustige Person. Nein, nicht nurlustige Person, denn in den Tagebüchern von „Sirius“ bis „Hamit“ stockt einem ja manchmal das Blut, sieht man einen auch an Abgründen tanzen, aber er ist sozusagen freier, weil er dies alles nur auf eigene Rechnung tut, auf eigene Kosten seinem Affen – dem Affen seines Narzissmus undseiner Selbstdestruktivität – Zucker gibt. Die Tagebücher betrachtete Kempowski als die dritte Säule seines Werkes, und das Wort „Werk“ ist da durchaus erst zu nehmen, denn Tagebücher, besser: die Gattung ‚Tagebuch’ ruft ja wohl immer noch verbreitet das Missverständnis hervor, dies garantiere für Authentizität dessen, das da unter einem Datum und syntaktisch etwas lockerer zu lesen steht – dabei ist der Tagebuchton ja auch glänzend simulierbar, und von dieser Möglichkeit und Lizenz machte Kempowski durch übermütig und so ungeniert wie hinterhältig Gebrauch; die Tagebücher sind bei ihm selbst wieder durchaus eine Bühne auf der er sich aufführen , für die er sich erfinden kann, und wenn er einmal anderthalb Monate gar keine Aufzeichnungen gemacht hat, ist es dennoch möglich, dass im gedruckt erscheinenden Tagebuch fein säuberlich für anderthalb Monate die Aufzeichnungen glattweg erfunden sind. Da fällt dem Leser, welcher dergleichen merkt, doch durchaus der Kiefer herunter, und dann kann er das bewundern – soviel Sinn für Komik wird der Leser doch noch haben, so viel Gespür dafür, dass die Welt ja betrogen werden will und auch bisweilen sogar echt böse wird, wenn man sie nicht elegant hinters Licht führt. Und dann hörte man zum Schluß noch – aber erst seit 2006 im Mai -, dass er an seiner Autobiographie, seinen „Memoiren“ sitze. Wo sollte das Material noch herkommen? Hatte er nicht alles autobiographische Material schon in die Bände der Deutschen Chronik und einige weitere Bände versteckt? Was blieb da noch zu schreiben? Antwort Kempowskis, trocken und lakonisch: „Die andere Seite“. Was dies sei, werde man dann ja sehen. Nun werden wir dies allerdings nur noch als Fragment sehen, diese vierte Säule seines Werks; da setzte der Tod eine Grenze.
Dieses riesige Werk entstammt nun einer Physis, die man wahrhaftig nicht zyklopenhaft nennen kann. Walter Kempowski körperliche Erscheinung war ja nun nicht gerade imponierend; dennoch wurde er in der Familie bisweilen spaßeshalber „der Gigant“ genannt, und wer das verstehen will, der schaue auf die anderthalb Meter seines Werks und vor allem auf die 60 Zentimeter allein von „Das Echolot“. Was da zu suchen und zu finden und auszuwählen, zu durchsinnen und zu montieren war, erwies sich für Jahre als so mühsam, als hätte er alles selbst geschrieben. Das hat er aber nicht, und das gereicht ihm zur Ehre seiner künstlerischen Moral. Man muß schon seiner selbst sicher und vor allem von künstlerischer Statur einigen Ranges sein, wenn man sich selbst dergestalt zurücknehmen und quasi anonymisieren, das heißt nicht dauernd sichtbar sich was ausdenkend und formulierend, fingierend in den Vordergrund spielen muß. Und so durften unzählige Namenlose – zwar benannt, und doch uns so unbekannt – und einige wenige Namenhafte immer wieder an die Rampe treten und jeder für sich und vor einer bestimmten Instanz, die der Fromme GOTT nennen mag sagen, was sie leiden: alle ein einschüchternder Chor.
Die Frage nach der Physis, die das alles tragen konnte, dieser eher schmächtigen Physis ist das eine; ein anderes ist die Frage nach dem Antrieb, der hinter diesem allem steckt, der Energie in einem spirituell-moralischen Sinn. Ohne allzu indiskret in eine, in diesePerson hineinleuchten zu wollen, können wir doch wohl mit Sicherheit sagen, daß es ein Verlustund eine Schuldwar, die Walter Kempowski dergestalt trieben, daß er nicht ruhen noch rasten konnte, dieses sein – am Ende immer noch unvollendetes, vielleicht eben auch nicht auf Vollendbarkeit angelegtes – Werk zu schaffen. Der Verlust war der seines Vaterhauses im Krieg wie auch der Verlust einer geordneten Familie und eines gewissen Selbstwertgefühls, das mit dieser Familie zusammenhing. Kempowski, in seinen fragmentarischen „Memoiren“, die sicher eines Tages aus seinem Nachlaß publiziert werden, formuliert, es habe ihn so sehr getroffen der Verlust von Rostock „als eines humösen Biotops“. Das ist eine kuriose Formulierung in Gestalt eines Adjektivs zu Humus, das es meines Wissens gar nicht gibt. Aber wir verstehen, was er meint; es ist Ausdruck der rückwärts gewandten Hoffnung, es wäre sein ohne diesen Verlust der Heimat glückhafter verlaufen; das muß man gleich koppeln mit der Diagnose, daß dann ohne diesen Verlust ein entscheidender Antrieb gefehlt hätte. Zum zweiten ist da eine Schuld, ein Schuldgefühl, das Kempowski sein Leben lang gehabt hat und welches wohl darauf zurückzuführen ist, daß er bei den an Folter grenzenden Befragungen durch die Russen nach seiner Verhaftung wegen „Spionage“ nicht ausreichend standgehalten und seine Mutter in die Sache hineingezogen habe, also auch in ihrer Verurteilung und Haft schuld zu sein. Es ehrt ihn sicherlich, daßer dies Gefühl einer Schuld hatte, aber es ist dann doch die Frage, mit wieviel Recht man von jemand verlangen kann, ein Held zu sein unter der Tortur. Es genüge hier zu sagen, dass damit jedenfalls der Impuls in ihm verstärkt war, durch nicht endende Arbeit etwas doppelt Verlorenes zu restituieren: Die Respektabilität des Namens, der Stellung, der sozialen Position einerseits und seine eigene Respektabilität vor sich selbst, zu führen war der Beweis, dass er doch etwas tauge. Das paradoxe Resultat war – das können wir ja sehen – , dass er mehrfach etwas taugte: als Lehrer – „Landlehrer“ – wie er sich selbst so bescheiden nannten -, als ernsthafter wie auch (sagen wir es doch einmal:) äußerst unterhaltender Schriftsteller, als Chronist des Dritten Reiches (Abteilung Mentalitätsgeschichte), als Historiker, als „Archivar“, als hintersinniger Tagebuchschreiber (man kann auch sagen: als Tagebucherfinder, der sogar den Stand-up-Comedian geben kann). Es ist schon verständlich, dass einer, dem alles abgestreift wurde, dem buchstäblich alles genommen wurde – man könnte eigentlich sagen: alles außer der Chorleitung in Bautzen -, sich im Kern intakt und mit seiner letzten Kraft darauf wirft, das Verlorene und mehr wieder an sich hin zu schaffen: Wer einmal nur noch im Besitz von Stimmgabel, zwei Notenblättern und einem Photo der Mutter über die DDR-Grenze nach Westen expediert wurde, der wird á tout prix nach Normalität und mehr streben, nach solch achtjähriger Unterbrechung einer Entwicklung, die doch gerade zwischen dem 19. und dem 27. Lebensjahr entscheidende Anreicherungen auf jedem Gebiet erfährt. Wenn alle Gegenstände aus der Objektwelt, die einem die Kontinuität von Familie und eigener Person verbürgen, abhanden gekommen sind, muß man Wege der Restitution finden, direkte und indirekte, von Käufen beim Antiquar bis zum künstlerischen Nacherzählen der Familiengeschichte. In diesem Zusammenhang steht auch das Haus in Nartum, das Walter Kempowski als Architekt (ein solcher war er nämlich auch noch) – man könnte sagen: für die Darstellung nicht nur seiner, sondern seines Werkes hat bauen lassen. Das Schöne daran ist, dass es großzügig entspannt und an keiner Stelle protzig oder großkopfig oder überdimensioniert wirkt und wahrhaft ein Ort ist von „offener Behaustheit“, wie er selbst in seinen Memoiren formuliert. War Bautzen ein Ort und eine „Zeit der Kompression“, so ist das Haus ab den frühen siebziger Jahren Zug um Zug ein Ort der Extension, der glückhaften Entfaltung geworden, an dem auch andere – Autoren, Leser, Gäste – teilhaben durften und bis heute teilhaben dürfen.
Walter Kempowskis Werk aber, das dort entstand (mit Ausnahme der frühen Bücher aus den beiden Landschulhäusern), gehorcht übrigens einer eigenartigen Diskretion. Ich nehme an, man hätte gerade auch aus Bautzen – auf die Details will ich gar nicht eingehen – viel greller und knallig-bekenntnishafter schreiben können als Kempowski das in „Der Block“ tat, doch so modern, wie wir inzwischen und immer sein Werk sehen, es auch ist, so weicht es doch in einem Punkt seiner Ästhetik gewissermaßen von der Literatur des 20. Jahrhunderts ab. Diese setzt ja generell eher auf eine Ästhetik der Direktheit, der Drastik, der Entblößung; Kempowski dagegen spricht meist in Andeutungen und/oder mit leicht schrägem Witz, sich schützend diskret, manchmal als ab er einen durchsichtigen Wandschirm vor das Erzählte stelle und zugleich wieder es bubenhaft bis böse genießend, wenn er eine Sekunde von tödlichem Ernst oder tödlicher Drastik eingebaut hat bzw. eine ‚unmögliche’ Bemerkung herauslassen kann. Er paßte sehr genau auf, wann er sich und wie weit in die Karten schauen lassen will. Eigentlich ist er ‚very mutch a gentelman’; umso erschreckender, wenn er`s manchmal – und vor allem auch im Leben – nicht war, umso erstaunlicher, wenn er einen im Gespräch dann doch plötzlich Blicke in ihn hinein und in seine Phantasien tun ließ, bei denen man nicht wußte, sollte man nun entsetzt oder amüsiert sein. Am besten vielleicht, man nickte leise bedächtig und starrte mit einer Art freundlichem Pokerface zurück. Wie heiß es bei Büchner doch so illusionslos und menschenfreundlich: „Der Mensch ist ein Abgrund, wenn man hineinblickt, schaudert’ s einen.“ Ich denke, Walter Kempowskis Umgang mit ihm selbst war mit größter Vorsicht darauf gerichtet, mit sich selbst, seinen Dünnhäutigkeiten und seinen Verletzungen pfleglich umzugehen. Er war gewissermaßen jünger als er selbst und zugleich älter: darauf zielt wohl eine der lyrischen Eintragungen in dem Gedichtband „Langmut“, die lautet:
„Sohn warst du und Vater zugleich.
Du hieltest dich selbst an der Hand.“
Wir wissen, daß es eine Zeit gab, in der Walter Kempowski mancherorts mit einem schnöden Ressentiment begegnet wurde, das weder literarisch noch politisch so recht begründbar war – es war halt irrational oder vorrational wie Ressentiments sind, und heute ist schon gar nicht mehr recht rekonstruierbar, wie dieser – vorsichtig gesagt – Vorbehalt gegen Kempowski zustande kam. In den Gedichten, von denen ich noch genau weiß, wann sie entstanden, wann sie überarbeitet wurden und worauf sie sich konkret beziehen, heißt es einmal:
„Die da draußen sähen dein Licht,
wenn sie aufschauten.“
Ich lese das jedenfalls so, daß es in den späten siebziger und in den achtziger Jahren eine Unwilligkeit gab, bei Kempowskis Büchern genauer hinzuschauen und die eigene Meinung revidieren zu lassen; das halblinke Establishment hatte da irgendwie ‚zu gemacht’ und hielt Kempowski, weil er bestimmten Parolen nicht recht folgte und auf eine sozusagen nörgelige Art widerborstig war, für einen „Reaktionär“ und „Kalten Krieger“. Dies Mobbing durch einen Teil des publizistischen Establishment kam auch daher, daß man sich ärgerte über Kempowskis unversöhnliche Haltung gegenüber der DDR, aber daß er da unversöhnlich war, konnte man angesichts der zunächst albernen, dann aber inhumanen Knast-Erfahrung, die ihn die Sowjets wie die DDR machen ließen, eigentlich verstehen. Tat man aber nicht, weil damals ein großer Teil der Öffentlichkeit (und von uns allen) der Meinung war, daß man halt mit der Regierung der DDR um den Frieden in Mitteleuropa willen sich irgendwie arrangieren mußte und diese Sorte Ko-Existenz halt nicht stören durfte. Es kommt hinzu, daß Walter Kempowski gar nicht direkt, aber irgendwie eben doch den Begriff der Nation hochhielt, jedenfalls bisweilen einen Zungenschlag ‚drauf’ hatte, der nicht so recht zum links-liberalen Credo paßte. Und dann war der obendrein noch Landschullehrer und benahm sich nicht so salopp-rechthaberisch wie die Linken bzw. die Halblinken der alten Bundesrepublik – und fertig war das Bild vom klein-kariert quasi-rechten Volksschullehrer-Unterhaltungsschriftsteller. Daß der in solchen Dingen dünnhäutige und überhaupt durch Zurücksetzungen schlechtgelaunte und bisweilen sogar leicht paranoide Kempowski in diesem Kampf nicht gerade entspannt oder gar mit LMAA-Haltung eintreten konnte, kann man verstehen. Inzwischen möchten ja gerne Leute, die ihm Mitte der siebziger Jahre schadeten und über ihn spöttelten, durchaus in seiner Nähe bzw. in der Nähe seines Namens gesehen und genannt werden. So ändern sich die Zeiten. Glücklicherweise hat Walter Kempowski noch erlebt, wie da ein bedeutender Umschwung eintrat, aber da bliebeine Verletztheit, die manchmal auch seineZüge verzerrte. Was verkannt wurde, war auch, daß es eine Radikalität im Ästhetischen gibt, die zunächst nicht viel von sich her macht und jedenfalls nicht schrill auftritt. Ich halte zum Beispiel „Aus großer Zeit“ für ein untergründig ganz böses und trauriges Buch, dessen dröge-pomadiger Erzählton täuschte: es ist ein Buch vom Untergang, der sich hinter der selbstgefälligen Fassade schon andeutet, und wie atemberaubend radikal scheinbar konservative Bücher sein können, dafür sind ja zum Beispiel Goethes „Wahlverwandschaften“ noch immer ein großes Beispiel: Was da verhandelt wird, blickt schon dem blanken Nihilismus ins Gesicht, und der das wußte , war nicht nur Walter Benjamin, sondern auch Bertolt Brecht: Es wird umständlich erzählt, jeder Satz ist grammatisch korrekt und das Ganze verstörend. Walter Kempowskis Literatur ist zugleich böser und lustiger, als es viele Leser wahrgenommen haben, die ganz andere Texte gewohnt und die auch dessen entwöhnt waren, Lesearten und Lesetempi immer wieder neu den Texten anzupassen. Wer nur Kriminalromane liest, muß sich verdammt umstellen, wenn er etwa in Kempowskis „Weltschmerz“ hineinblickt, eine feinste Studie übers Kind-Sein, und da dann also die Nuancen der ausgekundschafteten kindlichen Psyche mitkriegen will. Walter Kempowski hat einen hoch flexiblen Leser verlangt, eben nicht nur den amüsablen „Tadelloeser & Wolff“-Leser, der in sich selbst dann fest einstellt: Ah, so ist Kempowski.
Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Ein großer Mann ist ein soziales Unglück“, und das heißt auch, daß es eine verdammte Spannung gibt zwischen der üblichen und ja auch wirklich zu fordernden Sozialverträglichkeit eines Menschen und den psychischen Spannungen, unter denen er lebt und die allein seine Produktivität hervorbringen bzw. sie wirklich begleiten. In diesem Sinn hat Kempowski seiner Umgebung immer viel abverlangt, und daß dies halt so sei bei schöpferischen Geistern war nicht immer akzeptabel. Für die, die damit leben müssen, ist das zumindest phasenweise eine ziemliche Zumutung, und so war es auch bei Walter Kempowski. Er war zudem einerseits ‚echt’, andererseits Schauspieler, Schlitzohr, Kostümträger, Träger unauffälliger grauer Anzüge und einer, der sich auch mit einer Fliegenklatsche und mit Strohhut auf dem Kopf überlegt, womit er das jeweilige Publikum jetzt verblüffen oder schockieren könnte, als Inszenator seiner selbst und bis in die Tagebücher hinein, die ja auch zu einem erheblichen Teil Selbstinszenierungen sind, gewissermaßen mit der Zunge in der Backe selbstgenießerisch installiert.
Wir stehen in seiner Schuld, menschlich wie auch als Leser. Es ist ein Privileg, ihn zu lesen, und wenn man wüßte, wie man’s gegebenenfalls zu nehmen hat, war auch der Umgang mit ihm ein Privileg. Der Genuß daran war nicht zuletzt, daß in seiner Literatur wie auch im gelebten Leben er immer wieder mit Überraschungen aufwartete. Wie verblüfft mußte man sein, daß nach dem „Echolot“ dann der quasi-Schwanengesang der „Letzten Grüße“ auftauchte, diese zärtliche Elegie, und dann kam noch das wahrhaft ‚experimentelle’ „Allzeit“-Projekt, und wie bitte? – selbst verständlich arbeite er weiter an dem 1500-Seiten-Dings namens „Plankton“, und plötzlich war da – wie schon erwähnt – auch die Rede von 300 Seiten eines vorläufig skizzierten Dings namens „Memoiren“. Und wenn man ihn nicht bedrängte, sondern ihn im Gespräch einfach kommen ließ, dann sagte er plötzlich selber, in welcher Hinsicht ihm die Auswahl der Texte im „Echolot“ selbst problematisch sei und dass das natürlich kein Rezept für andere Autoren sein dürfte …
Lieber Walter Kempowski, jetzt gehören deine Bücher zum großen Schrifttum deiner Nation, wie man früher gesagt hätte. Das Gespräch mit dir aber geht weiter, auch jetzt, da du elender da liegst als dein melancholischer Alter ego, der liebe Alexander Sowtschik, durch den du uns einen deiner zärtlichsten Romane übermitteln ließest, nämlich „Letzte Grüße“. Die senden wir jetzt dir.
Jörg Drews: Trauerrede auf Walter Kempowski. Gehalten bei der Feier der Stadt Rostock anläßlich seines Todes. Rostock, 25. November 2007. In: Die Spatien. Texte und Bilder aus dem Kempowski-Archiv. Sonderausgabe. April 2008, S. 49 – 60.