Jörg Drews: Zu lesen anfangen in den fünfziger Jahren
für helma drews
Daß man mit acht Jahren eine für Jugendliche bearbeitete Ausgabe des „Robinson Crusoe“ liest und dies das erste „Leseerlebnis“ ist, dürfte fast zeitlos normal sein, auch daß man zur selben Zeit oder kurz danach Grimms Märchen (in meinem Fall erschienen um 1921 bei Langewiesche, mit Scherenschnitten von Dora Brandenburg-Polster), eine Auswahl aus „Tausendundeiner Nacht“ und etwas wie den „Germanischen Sagenborn“ (kein Nazi-Buch, sondern von Emil Engelmann schon nach 1945 herausgegeben) verschlingt und dann wieder und wieder liest (vor allem liebte ich die herrlichen Illustrationen von Karl Mühlmeister der „Tausendundeine Nacht“-Ausgabe bei K. Thienemann, und „Prinz Achmed und die Fee Paribanu“ macht mich noch heute wegen des Namens Paribanu besoffen!) – das war oder ist vielleicht noch bei (klein)bürgerlicher Herkunft die Regel und kein Spezifikum der Lese-Sozialisation eines vom Jahrgang 1938. Die Bücher im elterlichen Bücherschrank – eine Bibliothek ergaben sie ja nicht; es war eher ein halb schematisch-typisches, halb zufällig zusammengelaufenes Sammelsurium – dürften in ihrem Ensemble ebenfalls unspezifisch und zugleich eben deshalb symptomatisch sein; das und das hatte „man“ eben damals im nicht ganz ungebildeten Bürgerhaushalt, und man hatte darin auch ein paar durch die Nazi-Zeit bedingte politische Einsprengsel, versteht sich. Da waren vier Bände Goethe in einer verschollenen Ausgabe (mit Jugendstileinband; immerhin, wie ich heute weiß, aus der Reihe von „Bongs Klassikern“), acht Bände Shakespeare in deutscher Sprache, Uhland (von 1902, mit einer Einleitung von Rudolf Steiner) und Hauff in je einem Band, Mörike in zwei Bänden (das machte die schwäbische Herkunft der Mutter), ein Band Körner und ein Band mit Eichendorff-Gedichten (das kam vom preußischen Vater); daneben stand die „Judenbuche“ der Droste-Hülshoff, von Fontane „Effi Briest“ und „Schach von Wuthenow“, alle Novellen und Gedichte von Storm in vier Bänden nicht zu vergessen, von Gerhart Hauptmann ein Sammelband mit Erzählungen (Suhrkamp 1948), und dann ging es schon mehr in die Niederungen … oder ist das Hochmut aus dem Rückblick? Also es gab da zum Beispiel Hans Benzmanns Anthologie „Moderne deutsche Lyrik“, von Avenarius das „Hausbuch deutscher Lyrik“ und das „Balladenbuch“, beide München 1907, von Isolde Kurz „Vanadis“ und die „Florentinischen Novellen“, von Rudolf Binding „Moselfahrt aus Liebeskummer“ und „Der Opfergang“, von Emil Strauss „Der Schleier“, von der Colette „Mitsou“ (worin ich mit meinem Schulfranzösisch herumbuchstabierte), von Selma Lagerlöf „Jerusalem“, von Brachvogel „Friedemann Bach“ und von Arnold Ulitz „Die Braut des Berühmten“, aber eben auch „Niels Lyhne“ von Jens Peter Jacobsen, na, und unvermeidlich natürlich Margaret Mitchells „Vom Winde verweht“, Frank Thiess’ „Die Verdammten“ und Viktor von Scheffels „Ekkehard“ (darin muß es eine Szene zwischen einer Herzogin Hadwig und einem Mönch geben, die mir großen Eindruck machte – die beiden wollten wohl, aber durften nicht), erfreulicherweise aber auch die Jahrgänge 1924 bis 1931 von „Velhagen & Klasings Monatsheften“ – die Bilderwelt des Theaters, der Kunst, der Architektur der zwanziger Jahre ist mir darin erstmals vor Augen getreten, vom späten Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit machte ich mir daraus eine erste Vorstellung.
So weit, so kleinbürgerlich bis bürgerlich. Es fanden sich aber auch eine sechsbändige „Geschichte der nationalen Bewegung“, herausgegeben von einem Mann namens Dr. Karl Siegmar Baron von Galera (der Name klang mir damals nicht unbedingt germanisch; ich dachte immer vage, der Mann müsse wohl italienischer Herkunft sein – wie seltsam!); außerdem erinnere ich mich an Alfred Rosenbergs „Der Mythos des 20. Jahrhunderts“ (ich habe nie hineingeschaut) und an Adolf Hitlers „Mein Kampf“ (den hatten wohl meine Eltern 1937 zur Trauung wie üblich geschenkt bekommen) … Und ich erinnere mich jetzt noch an ein zweites „Leseerlebnis“ von damals. Es muß 1946 oder 1947 gewesen sein, da fiel mir bei Bekannten ein kleines, mit Photographien bebildertes Heftchen in die Hand, wohl herausgegeben von einem amerikanischen Information Office, irgendeiner Re-education-Stelle, darin wurden die deutschen Konzentrationslager dargestellt, jedes einzelne, mit Zahlen der darin ermordeten Häftlinge, mit Schilderungen der Folterarten, die in dem jeweiligen KZ besonders häufig vorgekommen waren, mit Photos von Lagerbaracken, Leichenbergen und einzelnen ausgemergelten und zerschundenen Häftlingen. Das schaute ich an und las es durch mit fieberndem Entsetzen und zugleich mit untergründiger Sensationslüsternheit und geiler Faszination. Daß mir das Heftchen in die Hand gefallen war, verschwieg ich meinen Eltern ebenso wie später die Lektüre oder Betrachtung von Photobänden wie etwa „Klassische Schönheit“ mit „künstlerischen“ Aktphotos: ich spürte wohl, daß beides irgendwie „obszön“ und daher tabuiert war.
Von André François-Poncet hatten wir „Als Botschafter in Berlin“; da wunderte ich mich, daß der Diplomat alles so gemessen und ohne jedes Eiferertum darstellte; ich glaubte sogar ein verstecktes Fasziniertsein durch die Nazi-Größen herauszulesen, und Rowohlts Rotations-Romane sah ich erstmals in Gestalt von Dr. Hjalmar Schachts „Meine Abrechnung mit Hitler“ – das war dick wie ein Buch und doch großformatig wie eine Zeitung, und den Titel fand ich angeberisch und großspurig. Das waren wohl die einzigen Ansätze – in Buchform – zu so etwas wie „Bewältigung der Vergangenheit“ bei uns zu Hause; Gespräche über das Dritte Reich allerdings gab es bei uns (untypisch) viele und offene.
Diese Vergangenheit ragte aber noch in die fünfziger Jahre hinein, denn zu den ersten Sach- und Abenteuerbüchern, die ich las, gehörten Ernst Udets „Mein Fliegerleben“ in einer Auflage von 1935 (6l. -100. Tausend, mit einem nazistischen Vorspruch: „ … ich möchte zeigen, daß es das Schicksal jedem von uns in die eigene Hand gegeben hat, ob wir Krämer sein wollen oder Soldaten, ob wir das Leben genießen wollen oder unser Glück für nichts achten vor einer Idee, die die kleine Barke unseres Daseins in den ewigen Strom der Geschichte hinausträgt.“), Hanna Reitschs „Fliegen – mein Leben“ und das Buch „Flieger vor die Front. Ruf und Befehl an die deutsche Jugend“ eines gewissen Karl Theodor Haanen, geschrieben in einer Stilmischung aus Wehrmachtstagesbefehl, schlechter Lyrik und Nietzsches „Also sprach Zarathustra“; da ahnte ich, daß ich, wäre ich zehn Jahre früher geboren worden und zehn Jahre früher damit in Berührung gekommen, auch nicht unempfindlich hätte bleiben können gegenüber diesem heroischen Appell. Das ausländische Nachkriegs-Gegenstück dazu waren die beiden Bücher des französischen Jagdfliegers Pierre Clostermann „Die große Arena“ – parallel dazu las ich Adolf Gallands „Die Ersten und die Letzten – Jagdflieger im Zweiten Weltkrieg“ – und „Brennender Himmel“, doch ging mit der Lektüre dieses zweiten Buchs von Clostermann das Interesse schon von der tagträumerischen Identifikation mit dem großen Fliegerhelden über ins historische Interesse an der Geschichte, vor allem und zunächst an der Geschichte der Luftkriegführung, und daher folgte dann auch die Lektüre der Memoiren des Flugzeugbauers Ernst Heinkel „Stürmisches Leben“. Doch das wichtigste Sachbuch und die wichtigste Traumvorlage in den frühen fünfziger Jahren war – neben Hans Hass „Unter Korallen und Haien“ – Thor Heyerdahls Bericht von seiner Überquerung des Pazifik auf einem Floß, „Kon-Tiki“.
Es mußte nicht unbedingt Schiller sein, doch eine Klassikerausgabe bekam man damals wohl häufig zur Konfirmation. Bei mir war es also ein dreibändiger Schiller, worin ich den „Wallenstein“ sogar mit einem gewissen Interesse las. Doch was ich, als die Phase der Abenteuerbücher und der technischen Sachbücher langsam schwand, aus dem – damals für uns (und bis in die Jahre des Studienanfangs in Heidelberg) außerordentlich wichtigen – Amerikahaus und aus der Stadtbücherei in Kaiserslautern mir holte, das war nun in zunehmendem Maße Literatur, Literatur im engeren und vor allem im zeitgenössischen Sinn. Ernst Kreuders „Die Gesellschaft vom Dachhoden“ als rororo-Bändchen, das war noch Zufall, diese krause Geschichte von den geheimnisvollen Einzelgängern, von einer Untermieterin ausgeliehen, zog mich sozusagen orientierungslos an, verhalf zu pubertären Einsamkeits-Tagträumen. Doch der Hinweis „Lies doch mal die ‚Buddenbrooks’!“, und dann „Lies mal den ‚Zauberberg’!“, auf die nörgelnde Frage „Mutti, was könnte ich denn jetzt lesen?“ machte endgültig das Tor auf zur Literatur, auch wenn ich noch nicht richtig mitkriegte, was Naphta und Settembrini da eigentlich miteinander diskutierten und wie Clawdia Chauchats unter der Tür gesprochener Satz „N’oubliez pas de me rendre mon crayon!“ eigentlich zu verstehen sei. Mir wie anderen meiner Generation muß wohl damals an Thomas Mann aufgegangen sein, was Stil sein könnte (so dubios mir inzwischen auch „Stil“ als Qualitätsbezeichnung für Literatur des 20. Jahrhunderts geworden ist) und vor allem: was Bildung – und davor hatte man ja schließlich einen Heidenrespekt. Bis zum Abitur las ich dann alles von Thomas Mann, die Josephs-Romane schließlich am Ende des ersten Semesters im Sommer 1957 in einer Woche. Den Tod Thomas Manns in August 1955 erlebte ich als etwas, was mich ganz persönlich anging, denn die Nachricht davon erreichte mich an einem Morgen um 7 Uhr in der Jugendherberge in Memmingen – und ich war doch mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Zürich, wo ich phantastischerweise den „Meister Thomas von der Trave“, wie er zu Hause, Hesse folgend, genannt wurde, irgendwie besuchen und fragen wollte, was er denn von der Anthroposophie halte, denn Rudolf Steiners „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ und andere Schriften waren mir in die Hände gefallen, und manches daran fand ich in meinem l7jährigen Kopf doch irgendwie bedenkenswert, wenn auch kraus … Mit Thomas Mann’sch gestelztem Pathos, ohne jede Ironie aber schrieb ich dann über seinen Tod nach Hause: „Welch ein Verlust!“
Gebildetsein, Belesensein als etwas irgendwie Aufregendes und Imposantes (wobei Bildung für den Schüler eines Humanistischen Gymnasiums „natürlich“ was mit der Antike und dem christlichen Abendland zu tun hatte, einen aber obendrein ebenso „natürlich“ zu Menschlichkeit und Ablehnung des Krieges verpflichtete, wie uns aus einer szenischen Lesung von Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ in einem evangelischen Sonntagsnachmittags-Kaffeekränzchen klar hervorzugehen schien) – sich in der Literatur auszukennen also als etwas ganz Selbstverständliches, Fröhliches und zugleich Verpflichtendes, das trat einem Klassenkameraden und mir mit schlagender Evidenz entgegen aus Hermann Hesses „Eine kleine Bibliothek der Weltliteratur“, aus dem gleichnamigen Reclam-Bändchen von einem Deutschlehrer in irgendeiner Stunde vorgelesen, in der nichts anderes zu tun war. Gleich nach der Schule rannten wir los, kauften Hesses Text und die ersten weiteren der bei Hesse erwähnten Titel, natürlich ebenfalls bei Reclam, unserem Geldbeutel angepaßt. Derselbe Lehrer hat uns allerdings auch ein Vergnügen vermasselt, und daß er das tat, hängt genau mit seinem konventionellen, wenn auch sehr „gebildeten“ Literaturbegriff zusammen, sagt etwas über den Deutschunterricht und die literarische Öffentlichkeit der fünfziger Jahre. Denn im Ramsch einer Buchhandlung, die bald darauf Pleite machte, fand ein Freund zwei Bücher eines gewissen Arno Schmidt, „Brand’s Haide“ von 1951 und „Aus dem Leben eines Fauns“ von 1953. Wir lasen das begeistert, das war ja so ungewöhnlich und frech und irgendwie vage „modern“, und rannten aufgeregt zu dem Deutschlehrer hin: Ob er diesen Schmidt kenne und was er davon halte und ob es von Schmidt noch mehr Bücher gebe? Da erhielten wir von oben herab eine kräftige Zurechtweisung: Dieser Schmidt sei ein absoluter Spinner, total verrückt, nicht lesenswert, da seien wir auf dem falschen Dampfer … Es dauerte fünf Jahre, bis ich dieses Urteil zu revidieren den Mut hatte, doch ich kriege noch heute die Wut, wenn ich daran denke, daß es von Kaiserslautern nach Kastel/Saar, wo Schmidt damals wohnte, nicht mehr als 100 Kilometer waren, daß ich mit dem Fahrrad hätte hinfahren und reden können mit ihm, der damals so wenige Leser hatte. – Daneben las ich, urteilslos und in alle möglichen Richtungen verführbar, Erich Landgrebes „Mit dem Ende beginnt es“, Ernst Penzoldts „Süße Bitternis“ und „Die Powenzbande“, Seidels „Leberecht Hühnchen“, Ernst Heimerans „Christiane und Till“, Manfred Hausmanns „Martin“ und „Abel mit der Mundharmonika“; vorgelesen wurde uns abends eine Zeitlang Mörikes „Stuttgarter Hutzelmännlein“. Und – was erst bei einer erneuten Beschäftigung mit Günter Eich Anfang der siebziger Jahre aus meinem Gedächtnis auftauchte: Ich muß in den frühen fünfziger Jahren sehr viele Hörspiele gehört haben; es gab ja damals Gottseidank noch kein Fernsehen.
Das zerlesenste meiner Bücher, bis heute ironisch und pietätvoll als Reliquie früher Begeisterung aufbewahrt, ist die Ullstein-Taschenbuchausgabe einer Auswahl von Gottfried Benns Prosa, „Provoziertes Leben“. Noch bis in meine ersten Semester hinein hätte ich auf die Frage nach meiner Weltanschauung mit fester Stimme geantwortet: Ich bin Nihilist. Diese Folgerung lag doch auf der Hand, wenn man die politische Welt und insbesondere diese dumme und moralisch verlotterte Bundesrepublik mit dem komischen Opa Adenauer sich ansah! Einsam, melancholisch, sensibel und zugleich kaltschnäuzig – jawohl, so mußte man sich tapfer der trostlosen modernen Welt gegenüberstellen, man konnte da nur probieren, „Haltung“ zu bewahren, und im übrigen mußte man intellektuell „oszillieren“, wie Benn (wie man das mit dem „Oszillieren“ eigentlich anstellte, wußten wir nicht so recht, aber wir probierten es meist leicht angesoffen und ich manchmal auch nachmittags, wenn ich in spätpubertärer Melancholie auf dem Sofa lag und alles öde fand). Angesichts dessen, was wir aus Benn über den Zustand der modernen Welt, des „Quartär“, und über wahrhaft moderne Lyrik und Prosa wußten, war es natürlich lächerlich, wenn wir im Deutschunterricht Gedichte von Werner Bergengruen interpretieren mußten, in denen ein Hirt sich eine Flöte schnitzt, und deren „Klang! spricht alle Erde aus“ (Wahnsinn! Wo gab es 1956 noch Hirten in Deutschland?), oder wenn der Lehrer bei einem Gedicht von Georg Heym die Nase rümpfte, weil darin Ratten vorkamen: wie unlyrisch! Da waren wir aus den Benn’schen Gedichten stärkeren Toback gewohnt und wußten, was die „Epoche“ verlangte! Derselbe Deutschlehrer legte uns allerdings auch das Gedicht „Mörder Sommer“ aus Wolfdietrich Schnurres 1956 erschienenem Band „Kassiber“ vor; ganz unmodern war unser Deutschunterricht also doch nicht, wenn auch Schnurres Poem einen etwas schmalspurig-kessen Schick hatte. Ich habe heute noch eine Schwäche dafür:
Die Leuchtspurgeschosse
des Nachtigall-Liedes
haben die Fliederdolden
zerfetzt; die Statue des
Frühlings wurde gestürzt.
Nur Wicke schmückt noch
den Sockel; das
abgeschlagene Haupt
ist mit Bahnen
glänzenden Schleims
überzogen: vom
Salzrand des Auges
zehrt noch die Schnecke.
Übrigens war da diese unangenehme Sache mit Gottfried Benn und dem Dritten Reich, da wurde uns etwas unbehaglich, denn das Nazi-Reich war ja nun moralisch ein klarer Fall, und wie hatte Benn das nicht gleich zu Anfang merken können? Aber er hatte sich eben „groß“ geirrt, das erhöhte fast noch das Tragische seines Lebens, und außerdem hatte ja dann niemand so ekelerfüllt-scharfsinnige Sachen über das Naziregime geschrieben wie er. Also konnte man ihn schon als unerbittlich klarsichtigen geschichtsphilosophischen Gewährsmann zitieren, wenn man im Abitur im Januar 1957 sich über das Thema verbreiten mußte: „Ist das Abendland auch von innen bedroht?“ Antwort mit Benn: Selbstverständlich, das Abendland ist ein Kulturkreis, der seinem Zerfall entgegengeht und nicht nur von den Sowjets (mit Adenauer: den „Zoffjets“) bedroht ist. Für den, der in seinen Schülerjahren wild und eher blind drauflos liest, der auch noch nicht ans Informationssystem der zeitgenössischen Literatur richtig angeschlossen ist, bedeuten wohl die ersten Studiensemester eine Zeit der Relativierung und Neu-Beleuchtung des bisher Gelesenen. Neben Thomas Mann trat nun Heinrich Mann (die Ausgaben vom „Untertan“ und vom „Henri Quatre“ besorgten wir uns damals auf Schleichwegen über Berlin aus der „Ostzone“); daß Hesse überschätzt und Hermann Broch unterschätzt war, lernte ich aus Karlheinz Deschners „Kitsch, Konventionen und Kunst“ von 1957; Kafka und Brecht waren in unserer pfälzischen Provinz nie zur Kenntnis genommen, uns gegenüber jedenfalls nie erwähnt worden, also sah ich im Wintersemester 1957/58 in Heidelberg erstmals ein Stück von Brecht, die „Mutter Courage“, auf der Bühne: das war höchst aufregend und führte zur Lektüre weiterer Stücke von ihm – die Lyrik blieb aber noch aus irgend welchen Gründen außen vor, und Kafka las ich zum ersten Mal sehr spät, im April 1959. Bei Paul Fussell jr., einem Fulbright-Austauschprofessor, hörte ich eine Vorlesung über Ezra Pound; Renate Gerhardt, die später in Berlin den Gerhardt-Verlag gründete, saß mit mir im Sommer 1958 auf dem Katzenbänklein in Arthur Henkels Oberseminar über moderne Lyrik und machte mich auf T. S. Eliots Lyrik aufmerksam – da merkte ich, daß Benn doch wohl nicht so einsame Spitzenklasse war, sondern durchaus auf der internationalen Szene seinesgleichen hatte, und außerdem gab es offenbar noch modernere Lyriker, die waren nachzulesen in Höllerers Anthologie „Transit“, zum Beispiel analysierten wir in Henkels Seminar Gedichte eines gewissen Paul Celan, sehr verwirrend, fast so kompliziert und irritierend wie die Gedichte jenes Helmut Heißenbüttel, von denen wir dann ein Jahr später in München eines mit Durchschlägen abtippten, das hieß: „Ein Satz: Einsatz: Einsätze“ und stand, wenn ich mich recht erinnere, entweder in einem Band der „Jahresringe“ oder in der „Festschrift für Martin Heidegger“ (und wie kam Heißenbüttel in die Heidegger-Festschrift? Der Heidegger war doch ein Nazi gewesen!). Im Mai 1959 las ich Max Frischs „Homo Faber“ und war enttäuscht, daß das irgend wie nicht so aufregend und modern war wie das Buch „Portrait of the Artist as a Young Man“ von James Joyce, das ich einen Monat früher gelesen hatte und das toll war, weil die Sprache was mit der Erzählperspektive und dem mit dem Lebensalter sich ändernden Bewußtsein des Helden zu tun hatte; als ich allerdings im Kreis von Kommilitonen sagte, Frischs Buch sei pseudo-modern und schnell durchschaubar und flach, Joyce sei „besser“, gab es eine wilde Diskussion, und ich wurde als „verrückt“ und als „Snob bezeichnet. Das war ja schon sehr merkwürdig, ebenso merkwürdig wie die Tatsache, daß in einer Diskussion im Bayerischen Rundfunk noch 1961 Willy Hochkeppel in Anwesenheit des Autors Hans G. Helms sagte, „FA:M‘ AHNIESGWOW“ sei ein so verrücktes Buch, daß es nie in die Literatur eingegliedert und nie Gegenstand philologischer Untersuchung werden könne. Die Bibel einer ästhetischen Theorie war zu diesem Zeitpunkt für mich Albrecht Fabris „Der rote Faden“, in der Taschenbuchausgabe bei List. Renate Matthaei hat für ihre Anthologie „Grenzverschiebung“ das Jahr 1960 als Einschnitt gewählt, und in der Tat läßt sich wohl zeigen, daß um 1960 die westdeutsche Literatur aus der Nachkriegsphase heraustrat, daß sie offener wurde auch für experimentelle Literatur, die in den fünfziger Jahren praktisch nur im Untergrund und am Rande entstanden und publiziert worden war, und zugleich scheint um 1960 auch eine systematischere Beschäftigung mit der deutschen Literatur der zehner und zwanziger Jahre begonnen zu haben. Vom Expressionismus wußten wir fast nur durch Benn selbst bzw. durch die von ihm 1955 herausgegebene Anthologie „Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts“; im übrigen hatte Arno Schmidt irgendwo mal auf August Stramm und Albert Ehrenstein hingewiesen und überhaupt auf den „großen heiligen Expressionismus“. Aber erst 1959 erschien bei Rowohlts Klassikern Kurt Pinthus‘ „Menschheitsdämmerung“ von 1920 wieder, und 1960 fand dann in Marbach die große Expressionismus-Ausstellung statt, für die Paul Raabe und Ludwig Greve den berühmt gewordenen Katalog zusammenstellten. Langsam ergaben die Einzelinformationen ein Bild, ein genaueres der Vergangenheit und ein lebendigeres und vollständigeres der Gegenwart. Die Herausgeber der Zeitschrift „nota“, Morschel und von Graevenitz, veranstalteten in München im Januar und Februar 1960 eine Reihe von Lesungen, und da hörten wir zum ersten Mal Bazon Brock, Eugen Gomringer und Max Bense – jenen Bense also, der das Pamphlet „Ein Geräusch in der Straße“ geschrieben hatte und in dessen Zeitschrift „augenblick“ wiederum Sachen von Heißenbüttel, Arno Schmidt und Ludwig Harig standen; wir hörten jenen Heißenbüttel, dessen Text „Ein Satz: Einsatz: Einsätze“ uns Benn-Jünger, die sich in einer Lesegruppe namens „forum artisticum“ gefunden hatten und seine Gedichte ergründeten, so völlig irritiert hatte und von dem nun im Sommer 1960 das erste „Textbuch“ erschien, hörten jenen Mon, von dem wir die seltsamen „artikulationen“ von 1959 kauften und der dann im Sommer 1960 mit Walter Höllerer den Band „movens“ herausgab (den kaufte ich mir vom Lohn für einen Tag Arbeit in einer Münchner Brauerei), und in dem standen auch Texte jenes Claus Bremer, den wir auch hörten und der wiederum eine Übersetzung von Alfred Jarrys „Ubu Roi“ gemacht hatte, jenes Stücks, das im Sommer 1959 im Werkraumtheater der Münchner Kammerspiele in wenigen Vorstellungen lief, bis das Stück abgesetzt wurde, weil es angeblich hinter der Bühne eine Rauferei der Schauspieler gegeben hatte, die sich – halb-besoffen – nicht drüber einigen konnten, wer heute welche Rolle spielen dürfe … Einem Freund, dem späterell „Civis“-Feuilletonredakteur und damals besten deutschen Filmkritiker, Otmar Engel, gestand ich im Dezember 1959, früher hätte ich ja Arno Schmidt mal gutgefunden, sei mir aber nicht sicher, ob … „Klar ist der gut“, sagte Engel, und wir lasen nochmal alles, was es bis dahin von Schmidt gab und entdeckten ihn neu. Im Herbst 1960 wurden wir konsternierte Zeugen jenes Sprunges in Schmidts Werk, der sich nach der „Gelehrtenrepublik“ vollzog: in dem Literaturkalender „Spektrum des Geistes“ auf l961 war Schmidt porträtiert und außerdem jene Stelle aus „Kaff auch Mare Crisium“ abgedruckt, wo das Nibelungenlied travestiert wird. Da dachten wir: Jetzt werden wir verrückt und verstehen überhaupt nichts mehr; wir kennen doch seine anderen Sachen, aber jetzt schreibt er ja noch irrer und komplizierter! Heute kann man vielleicht sagen, daß das Auftauchen, das langsame Öffentlich-Werden experimenteller und sprachreflektorischer Poesie um 1959/60 – aus Randzonen und Kleinverlagen, die es natürlich schon in den fünfziger Jahren gab: Heißenbüttels „Topographien“ und „Konstellationen“ waren ja schließlich schon 1954 bzw. 1956 erschienen – untergründig etwas zu tun hat mit der neuen Besinnung auf Sprache, die sich in Schmidts im Dezember 1960 erschienen „Kaff“ zeigt. Ja, und schließlich hatte es im Herbst 1959 noch die Romane „Die Blechtrommel“ und „Mutmaßungen über Jakob“ von Grass und Johnson gegeben, von denen wir das Gefühl hatten, daß sie irgendwie zeitgenössischer oder zeitadäquater waren als etwa die Romane und Erzählungen von Böll. In jener Zeit kamen wir auch alle auf Joyces „Ulysses“; ich las das Jahrhundert-Buch in der ersten Woche des Jahres 1960 auf einen Sitz und mit Hilfe der Goyertschen Übersetzung und kam zu der Überzeugung, daß an diesem Buch alle große erzählende Literatur unseres Jahrhunderts sich würde messen lassen müssen; Thomas Manns „Doktor Faustus“ zum Beispiel erschien mir nun mit einem Schlag als ein irgendwie altfränkisches und sehr vergangenes und betuliches Buch. Unter heutigem Blick würde ich sagen, daß ein anderes 1947 erschienenes Buch, nämlich die „Exercises de style“ von Raymond Queneau, der Modernität des „Ulysses“ viel nähersteht als der „Doktor Faustus“, und die deutsche Übersetzung „Stilübungen Autobus S“, schon in den späten fünfziger Jahren auf Hinweis des großen Anregers Max Bense von zwei damals noch unbekannten Saarländern namens Ludwig Harig und Eugen Helmlé unternommen, erschien ebenfalls 1961, sozusagen aus der Schublade der Übersetzer.
Im Dezember 1960 las ich zum ersten Mal in einem Buch von Ernst Bloch, im 1959 erschienenen „Prinzip Hoffnung“, bald darauf die ersten Bücher von Adorno. Damit trat neben ein literarisches Umdenken auch eine politische Neuorientierung. Im Sommer 1962 fuhr ich, so oft ich konnte, per Anhalter von München nach Tübingen, um die Vorlesungen des zweiten Teils von Blochs „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ zu hören; im selben Sommer waren die Schwabinger Unruhen, aus läppischen Anlaß entstanden und irgendwo auch eine Alberei, aber da saßen wir zum ersten Mal mitten auf der Straße und hielten den Verkehr auf, und da sahen wir auch zum ersten Mal die Polizei mit Pferden in Menschenansammlungen hineinreiten und prügeln. Eigentlich begannen damit für uns die sechziger Jahre, von denen Heißenbüttel meint, sie würden vielleicht einmal in der deutschen Nachkriegsgeschichte und ihrer Literatur mit Recht die „goldenen“ heißen dürfen.
Ich habe diese Erinnerungen an meine Lektüre der Jahre von ungefähr 1950 bis 1960 aufgeschrieben, weil sie vielleicht trotz mancher Zufälligkeiten ein nicht ganz untypisches Bild ergeben der Veränderungen in den literarischen Erfahrungen derer, die damals erwachsen wurden. Eine größere Anzahl solcher Aufzeichnungen könnte Materialien liefern helfen für eine Literaturgeschichte der Leser in den fünfziger Jahren.
Jörg Drews: Zu lesen anfangen in den fünfziger Jahren. In: Jörg Drews (Hg.): Vom „Kahlschlag“ zum „movens“. Über das langsame Auftauchen experimenteller Schreibweisen in der westdeutschen Literatur der fünfziger Jahre. München: edition text + kritik, 1980. S. 136 – 146.