Jörg Drews: Laudatio auf Jenny Erpenbeck. Heimito von Doderer-Literaturpreis, 6. September 2008, Köln
Man schlägt also wieder einmal ein neues Buch auf und beginnt zu lesen. Das ist das Normalste auf der Welt; wozu ist man schließlich Leser, wozu ist man – Leser hoch 2 – Kritiker? Man fängt also an zu lesen, etwa dies:
Das Zimmer, in das er mich gebracht hat, ist mit dicken Teppichen ausgelegt, wenn ich laufen könnte, man würde es nicht hören. Die Tür hat er nur angelehnt, wenn ich laufen könnte, könnte ich das Zimmer verlassen. Gestern hat er mir mit seiner Zigarette die Fußsohlen verbrannt.
Seine Frau bringt mir Tee. Fleckig sei sie, seine Frau, hat er mir gesagt, wie eine geschlagene Frau, dabei habe er sie nie geschlagen. Wie kann das nur sein, dass du so schwach geworden bist?, fragt sie mich. Sie setzt sich auf die Kante meines Bettes und hält die Untertasse, während ich trinke. (…)
Irritiert zu sein ist eines Lesers bester Teil, und solche Irritation sogleich zu genießen oder zunächst zu ertragen, sie sozusagen zu suspendieren und auf Weiteres zu warten, darauf zu vertrauen, dass ein Text schon bald mehr von sich preisgeben wird, ist eine der größten Gaben eines Lesers. Was der zitierte Text, der Anfang der Erzählung „Im Halbschatten meines Schädels“ dann preisgibt, ist zunächst einmal, dass diese Erzählung vollkommen offen ist und zugleich so vollkommen geschlossen wie eine Monade; sodann, dass ihr mit Psychologie nicht beizukommen ist und schließlich das Ganze – eine verstörend grausame Dreiecksgeschichte, kurz aufgerissen und dann erstarrt – in seiner offenbaren Undurchdringlichkeit als Literatur ein Kabinettstückchen wäre; mit Sprache kann man ja nicht nur benennen und klarstellen, sondern man kann wunderbarerweise auch undurchdringliche Geheimnisse damit erschaffen, kann zauberisch verhüllen. Dazu sind aber die 7 Seiten von „Im Halbschatten meines Schädels“ nun wieder zu ernst, nicht schwarz-ernst, sondern unbehaglich grau-ernst. Wenn einen so was nicht neugierig macht! Also weiter durch den Band „Tand“ von 2001, Jenny Erpenbecks zweites Buch, und hinein in die Erfahrung, dass jede Erzählung hier einen neuen Erzählungstyp, eine andere Art Kurz-Prosa vorführt: einen Bericht von einer grauärmlichen Reise in ein wahrhaft unwirtliches Island; einen liebevollen, mühsam an sich haltenden Bericht von der einsetzenden Demenz einer Großmutter; eine Geschichte grässlicher Eifersucht; eine Erzählung von gnadenlosem Einander-Verfehlen zweier junger Leute, die Liebesleute werden könnten, ja dafür bestimmt schienen und die doch Angst und kindische Starrheit voneinander treiben; eine Geschichte vom mörderischen Selbstbehauptungswillen des Menschen à la: wo einer ist, kann jedenfalls kein anderer sein, und so schnüren sich die Menschen bisweilen besten Willens die Luft ab; eine wunderbar lakonische Geschichte leicht alpenländischen Zuschnitts mit einer tonlosen Pointe, vor der man mit offenem Mund dasitzt … und was hält dann diese Geschichten beieinander, was treibt sie zusammen, so dass sie nicht nur einfach additiv da stehen, nur „Tand“ sind? In der Erinnerung würde ich sagen: Daß die Erzählerin nirgends die Stimme hebt, dass sie sich Empörung und Emphase, gar auch erkennbares Mitleid verkneift, damit das Erschrecken gerade größer macht und zugleich etwas sehr Humanes ihren Erzählton durchdringen macht: Sie lässt Menschen und Verhältnisse von Menschen zueinander ihr Unaufklärbares, ihr Geheimnis, ohne dass dies mystifizierend und sozusagen antiaufklärerisch wirkte. Vielleicht gehört das – und nicht nur in Erzählungen – ja zur schmerzhaften Würde eines Menschen, dass er mit einer Erfahrung oder einer Schuld leben muß, an die man nicht rühren sollte. Jenny Erpenbeck tatscht ihre Figuren nicht an, sie menschelt nicht in Ton oder Kommentar.
Dergestalt quasi unangetastet tritt auch das „alte Kind“ in ihrer „Geschichte vom alten Kind“ von 1999, ihrem ersten Buch, mit seinem Eimerchen auf die Straße und wird gefunden. Seine Herkunft bleibt rätselhaft, sein Lebensalter physiologisch nicht erklärbar, seine Placierung innerhalb einer gewissermaßen chronologisch strukturierten Welterklärung völlig unklar: das Mädchen erinnert sich bis ans Ende des Kurzromans an nichts und niemand und ist nur milde erstaunt, dass jemand an seinem Krankenbett sitzt und der Arzt ihr erklärt: „… dies ist ihre Mutter“. Lag vor den paar Jahren im Kinderheim eine lebensgeschichtliche Katastrophe? Lief das Kind dem Elternhaus davon? Wollte das Mädchen närrischerweise oder gar hochmütigerweise Kind bleiben und hielt deshalb – als starres, dickes, verkapseltes Kind – gewissermaßen die Zeit an? Versuchte es einen „Schelmenstreich“ gegen alle Naturgesetze? Oder handelt es sich doch um eine Krankheit, Zwangssymptome und Realitätsuntüchtigkeit, verfrühter Greisenhaftigkeit benachbart? Das Wunderliche ist, dass dies Kind jeden Moment seine Würde behält, unser Mitgefühl hat bei all den Grausamkeiten, die es durch sein pures Anderssein in dem Kinderheim provoziert, und dass man gar nicht wünscht, dass dies Wesen auf einen Begriff und unter die Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität gebracht werde. “Bist du vom Mond gefallen?“, fragt der Sportlehrer, weil es keine einzige der üblichen Spielregeln kennt, und die Antwort muß sein: Ja, sie ist vom Mond gefallen, und weil keiner sie besucht und keiner mit ihr reden will, schreibt sie bald kläglicherweise Briefe an sich selbst – man braucht doch ein Gegenüber! Aber irgendwas in ihr lässt sie versuchen, den Anschluß an die ‚richtige’ Zeit und Lebenszeit zu finden, körperlich wie geistig, und der Bericht von dieser Bizarrerie aus dem Reich des Humanen lässt einen immer und immer Partei ergreifen für das Kind, obwohl oder gerade weil es verstockt ist und alles unklar, auch, wie diese Geschichte weitergehen könnte. Keinen Moment klagt man als Leser ein, dass einem keine Erklärung gegeben wird für dieses Rätsel der Natur. Das Ganze ist eben nicht einfach ein Stück Pathologie, das wäre ja platt, sondern es ist etwas (weil mir kein besseres Wort einfällt) ‚Existenzielles’, nicht psychophysiologisch Herleitbares, poetologisch gesprochen: ein ‚Bild’, was bekanntlich intensiver und unwiderleglicher ist und bisweilen mehr vermitteln kann als Begriffe, nämlich: eine Existenzerfahrung, etwas (wie gesagt) Transpsychopathologisches also. Daß man das als Leser tief berührt hinnimmt, heißt ja aber auch, dass der Erzählton von Jenny Erpenbeck große Autorität ausstrahlt. Sie muß gar nicht erzählerische bzw. erzählte Massen bewegen auf 600 Seiten, wie es ja im Moment fast schon wieder bei in ihren Stoff und ihre Schreibe verliebten Autoren einzureißen beginnt; ihr genügen längstens 190 Seiten, um klarzustellen, was man als Autor oder Autorin will und machen kann, ohne es sich in behaglichen Romanumfängen mit offenen oder verborgenen „Meisterwerk“-Aspirationen bequem zu machen; obendrein zeugt das von höflicher Rücksicht auf unser modernes Zeitbudget – die Zeiten haben sich seit dem 19. Jahrhundert geändert. Es juckt oder gar glüht einem viel öfter in den Händen, an den Fingerspitzen, wenn ein Büchlein nur 110 Seiten hat, die man rasch liest und schließlich am Romanende bei einer Anti-Klimax landet, die einen um den Knalleffekt und jegliche Erklärung zu prellen scheint, bis man merkt, wie Walter Benjamin einmal bezogen auf die Geschichte, die große Geschichte, Die Geschichte formulierte: Daß es so weitergeht, ist die Katastrophe. Ihnen auch nur anzudeuten, um was es in dem Bändchen „Wörterbuch“ geht bzw. auf welche Wahrnehmung die Entwicklungsgeschichte eines Mädchens, meist aus ihrer Perspektive und Sprachfähigkeit erzählt, hinausläuft, hinauslaufen muß, geht gar nicht an; Zeit und Ort werden nur in Splittern angedeutet, die man nicht widerspruchsfrei aufeinander beziehen kann. Das hängt nun in einem sehr konstruktiven Sinn damit zusammen, dass Jenny Erpenbeck das Ungeheuerliche – im Psychischen, im Moralischen, im Historischen – nicht frontal und nicht ‚total’ angeht, sondern – wie gesagt: ohne die Stimme zu heben – nur einen Aspekt herausnimmt, nur in Andeutungen spricht, Ort und Zeit der Handlung verschleiert, Schlimmstes zurückgenommen, wie am Rande mitlaufen lässt und überhaupt von massiven Deutungen ganz absieht. „Wörterbuch“ heißt dieses kleine Buch von 2005, wie gesagt, verglichen mit dem „Alten Kind“ und dem Roman „Heimsuchung“ eher unauffällig, auch weniger besprochen, mit einem niedlichen Titel, aber es spricht davon, wie sich ein Kind nach und nach die Welt zusammenbuchstabiert, bis es ahnend, aber nicht verstehend, vielleicht nicht verstehen wollend, sich zusammenreimen kann, dass sein Vater ein Folterknecht gewesen sein muß. Wann? Wo? Schon im Dritten Reich? Oder in Argentinien, oder in Chile in der Colonia Dignidad? oder nirgends wirklich, weil da nur ein Geisteskranker mörderisch daherschwafelt? Die Pointe ist nun – wenn sie mir dies schnöde Wort erlauben – , dass in dieser verschatteten Modellerzählung Foltertechniken und die Gemüter, die darin schwelgen, übereinander geblendet werden, weil die Phänomene und die perverse, unter jedem politischen Vorzeichen leicht zu mobilisierende Mentalität ja sehr ähnlich sind in Kambodscha, in Abu Graib und Guantanamo, in Gestapo-Kellern oder bei der französischen Armee in Algerien, im Irak unter beiden Regimes, in China, bei der GPU und, in verschieden großem Ausmaß, an vielen anderen Plätzen. Und die Familien, in die ein solcher Folterknecht aus dem Gefängnis (ein bisschen was muß er also doch büßen) nach fünf Jahren zurückkehren wird – na, die wursteln halt irgendwie weiter; und ‚irgendwie’ heißt: mit der bekannten Normalität, unter dem Motto: Über manche Sachen aus der Vergangenheit muß man ja nicht immer so genau reden. Wo der Küchentisch steht, an dem man in sozusagen ‚normaler’ Gemütsverfassung dann wieder sitzt, ist ja egal. Im Hintergrund lauert betont undeutlich, was da von Seite 96 bis Seite 100 des „Wörterbuchs“ mal kurz durch die Pforten der Hölle nach oben drängt und benannt wird – aber gleich wieder weg damit. Irgendwie geht es weiter, immer weiter in dem Benjaminschen Sinn: Dies ist die Katastrophe.
Zu Anfang dieses Jahres 2008 erschien dann Jenny Erpenbecks viertes Buch, der Roman „Heimsuchung“. Die Stelle, von der aus hier von Deutschland erzählt wird, man könnte fast sagen: von der hier Deutschland sich erzählt, ist ein Grundstück und ein Haus an einem der märkischen Seen in den letzten ungefähr hundert Jahren, von dem Zeitpunkt, da ein Stück Land aus bäuerlichem Besitz übergeht und wechselnd bebaut und besiedelt wird von verschiedenen Berliner Familien. Sie kennen vielleicht die alte Vorstellung, dass ein Ort, an dem Wichtiges geschah, einen genius loci hat, so etwas wie den Geist und das Gedächtnis des dieserorts Geschehenen, und dass ahndungsvoll Befähigte in dieser spirituellen Lokal-Chronik lesen können. Sie finden diesen Glauben auch, ins Poetische gewendet, in einem kleinen, aber großen Gedicht Friedrich Hölderlins, „Der Winkel von Hahrdt“; das meint eine Stelle aus der Württembergischen historischen Geographie, von der Hölderlin sagt, dass an diesem Ort immer noch „sinnt ein groß’ Schicksaal“, etwas Bedeutsames in der Luft liege. Jenny Erpenbeck säkularisiert diese Vorstellung, indem sie zusammenführt, was ein solches Grundstück, ein solcher „Ort“ in hundert Jahren erlebt haben kann: Bauernleben in Brandenburg, wohlhabende Berliner als Besitzer in den zwanziger bis vierziger Jahren, darunter auch deutsche Juden, die den üblichen Weg gehen mussten, das heißt in die Emigration oder nach Auschwitz, russische Besatzer danach, später Parteibonzen oder doch partiell Privilegierte in der DDR, bis schließlich Haus und Grundstück in Eigentumsstreitigkeiten absurdester Art um die Jahrtausendwende verkommen und sich eine Sanierung nicht mehr lohnt; am Ende kurven die Abrissbagger auf dem ‚historischen’ Ort, die Profanierung ist vollendet, die Entheiligung, und das Grundstück, die Landschaft ist am Ende der Schattenbeschwörung fast wieder wie an Anfang, sie waren nur eben zwischenzeitlich sozusagen entfremdet – oder man kann auch sagen: beseelt. Keinen Moment kommt hier Sentimentalität auf, nicht nur in der Erzählung, sondern sicher auch kaum bei denen, die vielleicht heute auf diesem Grundstück schon wieder gebaut haben: das Leben geht bekanntlich weiter, und man kann ja gar nicht wünschen, dass es nicht weitergehe… Aber ein Ort kann sein Pathos haben, davon erzählt Jenny Erpenbeck, nach Recherchen dichtend, dokumentarisch und Schicksale montierend und nicht etwa die Transzendentalchronik anzapfend, sondern sie ist die säkularisierte Leserin des im genius loci Aufbewahrten: Landschaftsgesichte, Mentalitätsgeschichte, deutsche Geschichte in einer Nussschale. Dieser Flecken in einem märkischen See spricht so zu uns, weil fast kein Ort in Deutschland unschuldig ist: Man macht Urlaub in einem wunderhübschen Dorf im Norden Mecklenburgs am Ufer der Ostsee, es ist alles entlegen-idyllisch, und erfährt so ganz nebenbei bei einer Plauderei in der Ortsbibliothek, dass zwei Kilometer weiter ein Außenlager des KZs Ravensbrück war und 400 Häftlinge dort begraben sind; auch dergestalt ‚beseelt’ sind halt oft Orte in unserem Deutschland, das zwölf Jahre lang ein Schlachthaus war, so dass einen die Geister der Verstorbenen nicht unbedingt massiv, aber immer wieder leise und hartnäckig ‚heimsuchen’, wenn wir uns ein Heim, eine Heimat suchen; das darf man ja dürfen, aber es kann eben auch eine so vieldeutige „Heimsuchung“ daraus werden wie die, welche in Frau Erpenbecks Romantitel gemeint ist.
Die Welt ist kein vertrauter, kein vertrauenswürdiger Platz, davon sprechen Jenny Erpenbecks Romane und Erzählungen nicht grell und massiv, sondern in unaufdringlicher Beiläufigkeit, unangestrengt, kühl, stetig, manchmal auch mit trockener Ironie. Lachen kann man über ihre Geschichten nicht – oder was wäre daran komisch, was wäre daran auch nur versöhnlich? Nach Max Brods Bericht fand ja Kafka selbst einige seiner Geschichten komisch und wollte sich ausschütten vor Lachen darüber, was wir wohl nur ansatzweise verstehen können. Lieber konstatiere ich, dass ich den ruhigen Ernst, mit dem Jenny Erpenbeck erzählt, für eine Auszeichnung halte. Was soll sie machen, wie soll sie Plasierlichkeit und versöhnlichen Humor prätendieren, wenn die Welt insgesamt viel verstörender ist als wir alle uns meist vorgaukeln und wahrhaben mögen. Und es zeichnet sie auch aus, dass sie nicht in Versuchung ist, mit dem Rätselhaften und dem Ungetrösteten in dieser Welt zu kokettieren. Ist es doch eine Binsenweisheit, dass in allen entscheidenden Fragen für uns alle, sofern wir nicht gerade religiös sind, keine Antwort mehr bereit liegt und der sog. ‚Sinn’ sich uns verweigert – falls da einer ist oder je einer wirklich war. Daher: Wer sagt denn, dass eine Erzählung mit einer Art Lösung oder doch einer Art befriedigender Abrundung enden muß, wenigstens einem rückwirkend manches erkärenden Schluß? Bei Erpenbeck ist das mit gutem Grund nicht der Fall: Führte man sich jeden Moment vor Augen, dass permanent geschieht, was in Erpenbecks „Wörterbuch“ auf den Seiten 90 bis 95 steht, kann man eigentlich nur Adorno beipflichten, dass man in einer Welt, in der Menschen bei lebendigen Leibe die Knochen gebrochen werden, eigentlich nicht leben kann. Es geschieht aber genau das tagtäglich, und wir leben weiter. Das scheint wohl nur zu gehen, weil zur Lebensfähigkeit so etwas wie konstruktives Verleugnen der Realität gehört, der Verdrängung benachbart, aber nicht identisch damit. Phasenweise gelingt es einem ja doch, sich an so was wie Beispielen gelungenen Lebens, auch an manchen Werken der Kunst, zum Beispiel an den Büchern von Jenny Erpenbeck so zu freuen, dass wir es wieder ein Stück weit aushalten können. Und insofern gratulieren wir uns und ihr, Jenny Erpenbeck, hier und heute.
bielefeld, 4. 9. 2008