Jörg Drews: Nachwort. Zu "Nach soviel Unsinn und Irrfahrt." Liebesgedichte nach 1945
Da behauptet man nun, hier seien Liebesgedichte aus den Jahren von 1945 bis zur Gegenwart versammelt, und muß doch zugeben, daß man keine Definition dessen hat, was Liebe ist, muß obendrein Oskar Pastior zustimmen, der sagte: „Ich weiß nicht, was Lyrik ist“, obwohl man doch denken sollte, er wisse bestimmt was ein Gedicht ist, und schließlich steckt in der Angabe des Zeitraums, aus dem Gedichte hier versammelt sein sollen, eine These, die noch zu beweisen wäre – wenn man denn in der Literaturkritik etwas ‚beweisen’ kann: daß nämlich in den letzten sechzig Jahren, etwa seit dem Zweiten Weltkrieg, oder anders gesagt: in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts irgend etwas anders geworden ist mit der Liebe und dem Liebesgedicht, als es vorher war. Die Lust, bei aller Unsicherheit eine solche Sammlung zu veranstalten – und hoffentlich auch die Lust, darin zu lesen – , steckt aber ohnehin nicht in der Beweisbarkeit von Definitionen und Thesen, sondern darin, daß man sich ins Offene begibt, sich Erfahrungen aussetzt. Daß die Liebe einfach und ungebrochen eine Himmelsmacht sei, behauptete wohl schon immer nur Dichtung niederen Ranges, also etwa Operettenlibretti; daß irgend jemand sicher wisse, was Gedichte seien, nimmt auch kaum noch jemand an, und daß sich in einer Industriegesellschaft, die Tempo und Veränderung auf ihre Fahnen geschrieben hat, allein die Erfahrung der Liebe und ihr Niederschlag in der Dichtung nicht verändert haben sollten, klingt ja auch unwahrscheinlich.
Der Definitionshelfer bei der Frage, was Liebe sei, auch der Definitionshelfer von Rang sind viele, und die äußern sich ja doch sehr skeptisch: Liebe sei „die wahnhafte Überschätzung eines Objekts“, sagt Freud, was etwa so kalt ist wie Kants Definition der Ehe als die „Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigenBesitz ihrer Geschlechtseigenschaften“; Liebe rückt hier in die Nähe eines psychopathischen Phänomens, eines Wahn, der eigentlich keine größere Dignität hat als andere psychische Bildungen und glücklicher- oder unglücklicherweise auch wieder verfliegt. Henry Miller nennt die Liebe einen „Boogie Woogie der Hormone“, was so souverän klingt, wie Miller die Liebe aber – von June Smith bis Eve McClure – weiß Gott nicht erlebt hat; seine Größe als Autor liegt kaum in den sog. „Stellen“, für die er berühmt wurde, sondern darin, daß sich die finstersten Einsichten in die Natur des Menschen bei ihm kombinieren mit einer unvergleichlichen Vis comica. Max Frisch – na ja. Max Frisch, könnte man sagen, läßt nur Don Juan sagen, jeder Mann kenne, sobald er wieder nüchtern ist, etwas Höheres und Wichtigeres als die Liebe, aber so ganz ungenau beobachtet ist das ja auch außerhalb der Dramenwelt nicht. Und um es noch theoretischer zu fassen: Liebe, zeigte Luhmann in „Liebe als Passion“ 1982, ist wahrscheinlich nur etwas, das auch vorwiegend (nur) kulturell-historisch gelernt wurde, eine Art erworbenes Seelenvermögen – jedenfalls wenn man mit „Liebe“ die von einem spezifischen Individuum auf ein spezifisches Individuum gerichtete heftige und auf Dauer sich angelegt glaubende Neigung meint, die sog. „romantische Liebe“. Die scheint es aber erst seit dem 17. Jahrhundert in nennenswerter Häufigkeit zu geben, und stellt in jeder Hinsicht eine „Unwahrscheinlichkeit“ dar. Aber gleichgültig, zu welchen Gipfeln man den Pessimismus angesichts des Phänomens Liebe noch mit Zitaten steigern könnte: der blauäugige Glaube an die Liebe als eine Himmelsmacht ist sicher nicht mehr restituierbar, und dennoch erfahren wir alle die Liebe als ein Metaphysicum, jedenfalls mit der Wucht eines Metaphysicums, nachdem in der Philosophie die Metaphysik bzw. der stabile Bezug auf Metaphysik gestrichen wurde. Die Liebe als etwas Dauerhaftes und Substantielles ist relativierbarer denn je, und dennoch wird sie immer wieder mit archaischer Gewalt als etwas Nicht-Relatives, als etwas Unbedingtes erlebt; der Spott, mit dem das bisweilen bedacht wird, ist nur ein Indiz dafür, daß diese mächtige und der Vernunft so ärgerlich wenig zugängliche, von ihr so gar nicht beherrschbare Angelegenheit namens Liebe kaum eingestanden werden kann und klein gehalten werden muß.
Was die Lyrik der letzten Jahrzehnte angeht, so wäre sie ein Beleg dafür, daß ein Bewußtsein der Flüchtigkeit und Nicht-Substantialität der Liebe in das Sprechen darüber in einem nie dagewesenen Maß eingewandert ist, was es unmöglich macht, etwa mit ungebrochenem Pathos ihr gewissermaßen da Vertrauen auszusprechen, sie rückhaltlos „groß“ zu nennen, sie als mythische Gewalt zu würdigen, zu stilisieren und etwas als Liebender den Verlust der Geliebten in solchen mythischen Dimensionen anzusiedeln. Dafür steht aber in der vorliegenden Auswahl Gottfried Benns Gedicht „Orpheus’ Tod“, das ja eigentlich vom Tod Eurydikes spricht, den Tod beider Liebender aber jedenfalls mit dem Pathos des Mythos, mit schrecklicher Trauer am Mythos reflektiert und gestaltet – und dies 1946! Die Gegenstücke hierzu beim selben Benn wären einerseits jene extrem nüchternen Briefe zur Heirat mit Herta von Wedemeyer (an F. W. Oelze, 23.1.1938 und 29. 6.1938), in denen das Wort „Liebe“ gar nicht vorkommt und die dennoch zwei der großen literarischen Liebes-Geständnisse in der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts sind, und Brechts „Über die Verführung von Engeln“ – ist das einfach frivol oder spricht es auf verdrehte und unterkühlte Weise davon, daß da einer der Liebe selbst nicht mehr ins Gesicht sehen kann und will? –:
Über die Verführung von Engeln
Engel verführt man gar nicht oder schnell.
Verzieh ihn einfach in den Hauseingang
Steck ihm die Zunge in den Mund und lang
Ihm untern Rock, bis er sich naß macht, stell
Ihn das Gesicht zur Wand, heb ihm den Rock
Und fick ihn. Stöhnt er irgendwie beklommen
Dann halt ihn fest und laß ihn zweimal kommen
Sonst hat er dir am Ende einen Schock.
Ermahn ihn, daß er gut den Hintern schwenkt
Heiß ihn dir ruhig an die Hoden fassen
Sag ihm, er darf sich furchtlos fallen lassen
Dieweil er zwischen Erd und Himmel hängt –
Doch schau ihm nicht beim Ficken ins Gesicht
Und seine Flügel, Mensch, zerdrück sie nicht.
Wenn man sich schämt, ein geliebtes Wesen „Engel“ zu nennen, stilisiert man das Ganze um zu einem blasphemischen Fick dem bei aller (eher unangenehmen) anarchistischen Angeberei ein fast rührendes Element von Zärtlichkeit und Behutsamkeit aber dennoch nicht ausgetrieben ist. Das heftig Physische ist keineswegs rein physisch, wird jedenfalls offenbar nicht so erfahren, sondern hat eine – emphatisch gesagt – spirituelle Dimension; über den Körper erfahren wir in der Liebe Geist, und Schönheit nur in Gestalt des Fleisches. Vielleicht ist das Indirekte und Verlegene, auch das Gedämpfte und Zersplitterte, das Lakonische und kabarettistisch Komische vieler Liebesgedichte aus den letzten Jahrzehnten, etwa bei Karl Krolow und bis hin zu Gerhard Rühms Chansons und bei Konrad Bayers Gedichten, gerade ein Reflex dessen, daß diese spirituelle Seite der Erfahrung von Liebe, die Tatsache, daß einem bei körperlicher Lust noch etwas anderes aufgeht und widerfährt als nur körperliche Lust, das mit Verstörtheit quittierte, nimmer endende Skandalon darstellt. Das Ostinato dabei aber, ob es hörbar ist oder nicht, bleibt, daß die Dauer der Liebe nichts Verläßliches ist und also das Allererschütterndste zugleich ganz flüchtig. Das Lied von den „Kranichen“, den Liebenden bei Brecht, sicher eines der großen Liebesgedichte des 20. Jahrhunderts, wird in „Aufstieg undFall der Stadt Mahagonny“ im Bordell gesungen und endet mit einem illusionslosen Resümee:
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
Seit kurzem. – Und wann werden sie sich trennen? –
Bald.
So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.
Das „Herz“, dessen Regungen Authentizität zu verbürgen schienen und das deshalb in der Lyrik als Instanz und Garant der Wahrheit und Dignität von Empfindungen im 18. und 19. Jahrhundert so intensiv und häufig lyrisch angerufen wird, kann nicht einfach deshalb, weil der Reim banal geworden ist, auf „Schmerz“ nicht mehr gereimt werden, sondern weil es zwar den Schmerz noch gibt, aber das Herz als Ursprung und als seelischer Ort der Liebe überhaupt von allen möglichen anderen Genesen und Kausalitäten von Liebesschmerz ersetzt worden ist. Noch bevor einem „das Herz bricht“, ist jedenfalls für diese Dichter die dafür verfügbare Sprache, die poetische Redeweise selbst ohnehin ‚gebrochen’, wofür die ersten Indizien sich wohl in den keß-melancholischen Gedichten der Neuen Sachlichkeit und des literarischen Cabarets der zwanziger Jahre finden.
Von der Offenheit, dem Verschwinden aller wertemäßigen und poetischen Sicherheiten, macht die Liebeslyrik nach 1945 und bis heute allen auch sprachlich-formalen Gebrauch. Dabei ist das Datum 1945 ein eher äußerliches Datum, deutet als Stichdatum höchstens auf die gänzliche Unsicherheit aller bisherigen Annahmen über den Menschen, seit sich Europa zum zweiten Mal in einer Jahrhunderthälfte selbst moralisch das Antlitz demoliert hat. Vor dem 20. Jahrhundert gab es vom Minnesang und dem Volkslied über den Petrarkismus und die elisabethanische Lyrik bis zum klassisch-romantischen Gedicht ein Reservoir von Sprechweisen für die Liebeslyrik, dem eigentlich nur in einer Richtung zu ‚entkommen’ war oder das radikal erweitert werden konnte (und selbst diese Erweiterung gehorchte bestimmten Schemata): Das war die Öffnung der Liebeslyrik in Richtung aufs Erotische, Sexuelle, gröblich und fröhlich Lüsterne. Im 20. Jahrhundert aber, und noch stärker in dessen zweiter Hälfte, wurde von den Poeten auch in der Liebeslyrik alles durchgespielt, was in der „neuen“, „avancierten“, „experimentellen“ Poesie des 20. Jahrhunderts erfunden worden war, und das schloß die Konkrete Poesie, die Visuelle Poesie und alle Lyrik-nahe Literatur – „Texte“ – ein, die den ‚linguistic turn’, die sprachreflektorische Wendung aller emphatisch neuen Literatur mitmachte, von August Stramm bis Franz Mon und Reinhard Prießnitz. Was wohl auch bedeutet, daß es nicht einfach philosophisch-psychologische Skrupel sind, die ein ungebrochenes Sprechen über das Wesen der Liebe, über Glück und Absturz in der Liebe, Jubel und Flüchtigkeit so schwer oder unmöglich machten, sondern daß auch die Angst der Dichter sehr schwer wiegt, einen adäquaten Ausdruck für veränderte Liebeserfahrungen zu verfehlen: Die Vielfalt gerade der unkonventionellen Ausdrucksweisen im vorliegenden Gedichtband beruht auf einem in alle Richtungen suchenden „Bewußtsein von Nöten“, nämlich Nöten des adäquaten Ausdrucks, gekoppelt mit der Befürchtung, bei Fortsetzung der bisherigen Liebesreden wie ein altmodischer Dummling dazustehen, gefühlig und obsolet; das „Il faut être absolument moderne“ war als ein ästhetischer Imperativ doch sehr weit ins Bewußtsein der klügeren der Dichter eingedrungen und spielte auch – nicht dogmatisch, aber als regulative Idee – eine Rolle bei der Auswahl der Gedichte, die in die vorliegende Sammlung aufzunehmen waren; es war nicht mein Ziel, eine historische Bestandsaufnahme zu liefern, die Produktion und Rezeption zu dokumentieren, die Liebeslyrik sozusagen „in der Breite“ seit 1945 erfahren hatte – sonst wären von Kristine Allert-Wybranitz über Ingeborg Bachmann bis zu Erich Fried noch ganz andere Dichter zu berücksichtigen gewesen, und ein in einem anderen Sinn „buntes Lesebuch“ wäre entstanden. Vielmehr wollte ich – gelungene, wichtige, und sei’s auch: auf manche Leser und Kritiker exzentrisch wirkende –Belege für die Versuche versammeln, poetisch den veränderten Lebensbedingungen, Stimmungen Gestimmtheiten, hätte man um 1960 gesagt –, gesellschaftlichen Verhältnissen und anthropologischem Wissen zu entsprechen auf rascheste Veränderungen nicht mit „Normallyrik“ (Herbert Achternbusch) zu reagieren, sondern die Brechungen unserer täglichen Erfahrungen in die Bildung und die Bilder der Gedichte radikal und riskant mit hineinzunehmen.
Mit wie geringen Mitteln, mit welcher schlagenden Ökonomie so etwas wie das „du“ sagen oder der Wunsch, ein „leib“ – welch wunderbar altmodisches Wort! – möge „bleiben“, oder das „vereinigen“ dargestellt werden können, durchaus lyrisch wenn auch mit stärkerer Ausnutzung des Typographischen als in einem konventionellen Gedicht, zeigen die visuellen Texte Gerhard Rühms. Konkret tritt hier Leiblichkeit, das Hervortreten von Bedeutung aus dem Strom von Unartikuliertem, Gleichgültigem, Monotonem: ein „d“ wird in den Fluß „u“ eingefügt und schon entsteht, auf quasi-mechanische Weise ein zärtlich-magisches „du“ neu und dauerhafter, und dies „du“ steht so technisch-graphisch wie bedeutungsmäßig im Mittelpunkt – für den Sprechenden und auf der Buchseite. Selbst das Aufzählende eines Listen-Gedichtes von Friederike Mayröcker, das die Litanei in drängende Zärtlichkeit überführt, und das mundartliche „bfiaddö“ bei Friedrich Achleitner können das pur Technische der neuen poetischen Verfahren und Strukturierungsprinzipien wieder unauffällig übersteigen oder magisch wirken lassen; solche Gedichte, die wohl vielen Lesern noch immer als „experimentell“ gelten, haben doch für eine zunehmende Zahl von Lesern schon eine eigene Klassizität. Vielleicht ergibt übrigens der reflektierte, rücksichtslos verdichtende Umgang mit sprachlicher Bildlichkeit, etwa mit dem Vokabular der Körper-Geographie in Reinhard Prießnitz‘ „reise“ oder eine bestimmte Umkehrung im Blick der Begierde auf Körperregionen, die zurückzublicken scheinen, die intensivste, weil allein der Bildlichkeit vertrauende poetische Wirkung – ohne Kommentar, ohne Folgerung, durch reine Vergegenwärtigung und pures Setzen auf einen aufnahmebereiten lyrischen Leser:
Öffnet
die Brust authentischer die
Augen mit welchen
sie aus dem Fleisch in die
Welt schaut die
sie aus dem selben Geist
geschaffen erkennt
aus dem sie selber das
Fleisch ist mit dem
sie uns augenblicklich
durchbohrt
Die Wahrheit ist komplizierter, und die Wahrheit der Liebe ist schamlos, und die Kunst Paul Wührs in dem zitierten Gedicht aus dem Band „Venus im Pudel“ (2000) ist wohl, daß die Schamlosigkeit zärtlich ist und der begehrende Blick zugleich ein bewundernder und inniger – sonst wäre er nur voyeuristisch.
Am meisten Spaß beim Sammeln machte das Finden und Erproben von Gedichten, die ich bei dem jeweiligen Autor nicht erwartet hätte. Paul Wühr setzt zur Wahrheitsfindung Obszönität ganz unerschrocken und deftig ein, und dann stellt er ein fast atemlos sanftes Gedicht daneben wie „ Sacht“; Enzensberger erlaubt sich die Abgründigkeit von „nänie auf die liebe“, wo der intellektuelle Schick, der ihn schon in den frühen sechziger Jahren lesebuchtauglich machte, plötzlich weg ist; Ulla Hahn läßt so gemein-Hexenhaftes erkennen, daß auch ihr ein Platz in dieser Anthologie gebührt; Karl Krolow demonstriert spät im Leben nicht Altersmilde. sondern Altersradikalität und gewinnt plötzlich an mehr als vornehmer Ausdruckskraft; Christine Lavant schreit heidnisch markerschütternd und Unica Zürn bewegt sich so technisch perfekt und zugleich elegant und mitleiderregend in den Zwängen ihrer anagrammatischen Schreibweise. als hätte sie jedes Wort frei wählen können; H.C. Artmann liefert erlesenste Bilder in den „persischen quatrainen“, Bilder, die nur noch ein Hauch sind und bei denen man sich zugleich fragt, ob das nicht doch lyrischer Tand, poetisches Zuckerzeug, kunsthandwerklich ausgefinkelte Edelseufzer sind – und dann läßt er, una voce mit Paul Wühr, Hintern und Hinterteil alle jene Ehre. die ihnen in jeder Hinsicht zukommt.
Schließlich behalten einige der Gedichte hartnäckig ihr Geheimnis, das Geheimnis vor allem, warum man – in gewissem Sinn – nichts ‚versteht’ und dennoch – ein gar nicht so seltenes Vorkommnis beim Lyriklesen überhaupt – das unabweisbare Gefühl hat, daß etwas, das man gerade zum ersten Mal las, ein bedeutendes Gedicht ist. Stellvertretend sei hier jenes Gedicht genannt, bei dem das Rätsel schon beim Titel anfängt, der eigentlich stumm ist: Wie spricht man „ + + + “, und was bedeutet dies? Daß da über etwas (in der Vergangenheit des Sprechenden) die sprichwörtlichen „drei Kreuze“ gemacht werden? Daß hier einer als Schreiber suggeriert wird, der nicht schreiben kann und deshalb mit drei Kreuzen signiert? Die Überschrift ist eine mehrfache Lücke: Wird hier von jemand gesprochen, der weder Name noch Sprache hatte, und was hat dies zu tun mit der Lücke in der Mitte des Gedichts? Wird hier etwa von den Folgen einer Liebe gesprochen, die beseitigt wurden? Weil die nicht gelingende und die endende Liebe, das abgebrochene, das um sein Leben verkürzte Ergebnis einer Liebe kaum je im Gedicht zur Sprache kommen, die ganze Bitterkeit von Abschied, Tod und Vergehen der Liebe und der Liebenden heute aber viel härter, da ohne jede Verklärung mit oder zu höherem Sinn beredet werden, habe ich die Kapitel „Sehe jeder, wo er bleibt“ und „Vergehen und Tod“ ans Ende der Anthologie gestellt. Daß die Liebe nicht nur süß ist, Glück zwar verspricht, aber fast immer und mit größerer Sicherheit Schmerz und Verletzung bringt – was alle wissen, zugeben müssen und was dennoch keiner wahrhaben will , – das gesteht die große Lyrik mit größerer Nähe zur Gegenwart immer illusionsloser ein, illusionsloser, weil eine die Denkfähigkeit lähmende Romantisierung und höhere Rechtfertigung der Liebe wohl allen zeitgenössischen Individuen und auch den Dichtern immer schwerer fällt.
„Das liebende Subjekt erlebt jede Begegnung mit dem geliebten Wesen als Fest“, erlebt jede Begegnung als „eine unerhörte Summierung von Wonnen, ein Gelage“, schreibt Roland Barthes mit definitorischer Kühle und zugleich mit einer fast schon altmodisch die Liebe und die Liebenden feiernden Emphase. Es ist jene Festlichkeit, welche wir aus einer Handvoll Gedichten des jungen Goethe kennen, welche reinste Manifestationen von Hingerissenheit, Glückserwartung und Glückserfüllung sind, voll Jubel der sinnlichen Präsenz, die bis in den Duktus des Gedichts hineinwirkt, und noch in Reinhard Prießnitz’ „premiere“ treibt dieses beglückte Weiterhasten zum nächsten und dann geahnten höchsten Glück das ganze Gedieht weiter, rastlos und schier endlos weiter. Dies Festliche ist aber allgemein gedämpfter als in einer Literatur der ungebremsten Emphase: Bewußtheit reduziert die Unmittelbarkeit, und schon in der Vergangenheit ist wohl ein Wissen davon, daß auch das Geistige an der Liebe ohne die körperlich sinnliche Seite gar nicht zu haben ist, auf geradezu erheiternde Weise aufgeblitzt, etwa, wenn in Shakespeares „Romeo und Julia“ gerade an den liebevoll-lyrischsten Stellen die – wie wir heute wissen – derb-obszönsten Wortspiele eingestreut sind, welche die Zuschauer dann zu meckerndem Gelächter veranlaßten. Daß vielleicht nicht die hoch-individualisierte„Liebe“, die wahnhaft intensive Neigung zweier bis zur Idiosynkrasie gesteigerter Individualitäten aber doch eine Begegnung und eine Bindung, die nicht nur von Trieb und Laune herbeigeführt wird, immer wieder stattfindet und dann irritiert und beglückt auch lyrisch konstatiert wird, deutet eben doch darauf, daß macht nur der Trieb ewig, sondern Liebe – in welcher Form, mit welchen Nuancen auch immer – so etwas ist wie eine anthropologische Konstante. Es gibt glücklicherweise auch in der Liebe bei gleichzeitigem Zweifel an ihr eine Lust an der Reduktion von Komplexität, die Lust am Kopfüber, ein Sichhineinstürzen trotz allem, nicht nur in der Realität, sondern auch in der Lyrik, und so klingt dann das Merz-poetische Resultat bei Kurt Schwitters:
Meine süße Puppe,
Mir ist alles schnuppe,
Wenn ich meine Schnauze
Auf die Deine bautze.
– und ähnlich wird bei Thomas Kling für einen Augenblick das Liebesgedicht spöttisch und entschlossen mit einem „schmerzcomic“ gleichgesetzt, und jedenfalls werden, für einen kurzen Moment, die beiden Worte in dem Gedicht „ausgerottete augn“ in einer Klammer zusammengestellt: Das Gran Selbstironisierung des Sprechenden ist unverkennbar; eine Liebesgeschichte ist, mit solch lustvoll-despektierlichem Blick gesehen, ja meist eher ein Comic als eine Tragödie, eher eine sehr diesseitige Groteske als etwas, das direkt in den Himmel reicht.
So schwankt der Kampf hin und her. Das Ärgernis der Liebe ist ihre Unbeherrschbarkeit und daß sie sich einigermaßen souverän dünkende Individuen abhängig und närrisch macht und daß gleichzeitig eine der intensivsten Glückserfahrungen nur zu haben ist, wenn man sich auf jene „Liebe“ einläßt, von deren Insubstantialität man gedanklich überzeugt sein muß und die obendrein im Kern unmoralisch und keineswegs per se „gut“ ist. „Gut“ ist sie höchstens in ihrer gezähmten Form, wenn sie in Sozialverträglichkeit überführt wurde; ansonsten neigt sie eher zur Asozialität und dazu, sich für eine Art höhere Lizenz zu Gaunerstückchen und Lügen aller Art zu halten, zur Rechtfertigung des Bruchs vielfältigster menschlicher und sozialer Verpflichtungen, oder wie Gottfried Benn schneidend feststellt: „Es gibt nur ein Glück: das gestohlene.“ Daß Liebe dies innerste Paradox an sich hat, daß sie nämlich aufs innigste zu wünschen und zugleich ein zu verfluchender Wahn ist, daß nicht nur Lust, sondern Liebe sich Ewigkeit wünschen muß und doch alle heutigen Liebenden vielleicht mehr denn je von der Flüchtigkeit der Liebe und der weitgehenden Relativierbarkeit dieses Phänomens wissen und sich selbst dabei beobachten können, wie sie Persönlichstes zu erleben und auszudrücken glauben, während ihnen doch nur das Alltäglichste widerfährt und sie in 99 Prozent aller Fälle in Klischees sprechen – das ist es wohl, was bis heute und in den letzten Jahrzehnten verstärkt die Dichter eine Sprache der Liebe finden läßt, die unharmonisch, bizarr, ausfahrend, widersprüchlich und illusionslos ist. Die Sprache der Liebe gibt es in der deutschen Lyrik so wenig mehr wie in den Gedichten anderer Sprachen; es gibt auch in der Lyrik nur „Fragmente einer Sprache der Liebe“, wie der Titel von Roland Barthes’ Buch heißt. Man kann dieses innerste Paradox der Liebe auch in ganz unauffälligen Zweizeilern, in einem wie harmlos daherkommenden kleinen Dialog formuliert sehen, den Goethe vor 180 Jahren aufschrieb und um den weder er noch seine Interpreten bisher viel Wesens machten:
Er
Gedenkst du noch der Stunden,
Wo eins zum andern drang?
Sie
Wenn ich dich nicht gefunden,
War mir der Tag so lang.
Er
Dann herrlich! ein Selbander,
Wie es mich noch erfreut.
Sie
Wir irrten uns aneinander;
Es war eine schöne Zeit.
Dies „Wir irrten uns aneinander“ ist eigentlich so abgründig wie Sigmund Freuds Diagnose von Liebe unter psychopathologischen Aspekten als der „wahnhaften Überschätzung eines Objekts“, worin ja auch jener Irrtum steckt, den Goethe in seinem kühlen Diktum als Basis dieser erinnerten Liebesaffäre konstatiert. Aber das ist bei Goethe nicht das letzte Wort, denn nicht nur das „Es war eine schöne Zeit“, das man ja noch als nachdenklichen Sarkasmus nehmen könnte, spricht dagegen, sondern auch, daß die ersten drei Zweizeiler dieses Kurzdialogs von Erfahrungen eines Glücks sprechen, das die Sprechenden nur machten, weil sie sich – wie wenigstens der Rückblick (und die Tatsache, daß sie sich ja offensichtlich getrennt haben) ihnen zu zeigen scheint – ineinander täuschten. Kann man tiefe, bereichernde Erfahrungen machen auf der Basis nicht des Erkennens eines Menschen, sondern seines Verkennens? Darauf, daß dies möglich ist, beruht vielleicht in der Tat alle Liebeslyrik und ganz gewiß in erhöhtem Maße, je stärker wir uns der Gegenwart nähern.
München, 29. Januar 2004
Jörg Drews
Nachwort. In Jörg Drews (Hg.): Nach soviel Unsinn und Irrfahrt. Liebesgedichte nach 1945. Leipzig (Reclam) 2004, S. 117–129.