Jörg Drews: Lakonik als Ethik. Zur Poetik Warlam Schalamows
Wie erzählt man aus zwei absoluten, zwei absolut perspektivlosen Todeszonen, eigentlich: aus dem Nichts? Wie erzählt man, ohne dass sich in die Darstellung des absoluten Grauens, in die Erzählung von massenhaftem Morden und Sterben doch etwas Tröstendes einschleicht, und bestehe dieser Trost auch nur darin, dass aus den Berichten aus den Todeszonen dann doch wieder Kunst gemacht würde? Den moralischen Aspekt dieser Frage hat Claude Lanzmann weitergetrieben in ein Verbot fiktionales Erzählens in filmischen Bildern: „Zu behaupten, man könne das absolute Grauen in Bildern nachstellen, ist Grabesschändung.“ Den Erzählungen des Kolyma-Häftlings Warlam Schalamow und seinen Überlegungen zur Erzählbarkeit der Lagerwelten merkt man an, wie sehr ihn diese Frage in den zwanzig Jahren nach seiner Entlassung aus dem GULag 1951 umtrieb, was denn die moralischen und erzähltechnischen Implikationen seines Schreibens über den GULag seien, welche Schreibweisen der von ihm erlebten Wirklichkeit adäquat seien. Seine Prosastücke sind Belege einer Art vielfältigen, unaufhörlichen Anrennens gegen die Unvorstellbarkeit dessen, wovon erzählt wird: das Entsetzliche muss in immer neuen Facetten formuliert werden, und doch bleibt die Beschreibung dessen, was da Realität war, ungenügend, unausgeschöpft; zugleich aber besitzt das Lagerthema eine erdrückende Dringlichkeit: „Warum das Lagerthema?“, fragt Schalamow 1965, und er antwortet: „Das Lagerthema, weit gefasst – ist die größte, die Kernfrage unserer Epoche. Ist denn die Vernichtung des Menschen mit Hilfe des Staates nicht die Kernfrage unserer Zeit, unserer Moral, die in der psychologischen Verfassung jeder Familie Spuren hinterlassen hat?“
Die Kernfrage auch, weil nicht zum Verschwinden zu bringen, ist, was die beiden Lagerwelten, die Hitlerschen und die Stalinschen, zeigten: Dass alle Zivilisation auf dünnem Eis gebaut ist und unsere ganze Anthropologie danach neu definiert werden musste.
„Wenn unser Blick was Ungeheures sieht, / Steht unser Geist auf eine Weile still“, formuliert Antonio edel – Schalamow würde sagen: humanistisch – in Goethes „Tasso“. Damit unser Geist nicht auf die Dauer still steht, durch das Ungeheure mit Verstummen so geschlagen wird wie die in Stummheit verharrende und in den Wahnsinn getriebene Mutter des Erzählers in Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“, muss vom namenlosen Grauen erzählt werden, und wie man das tut, ist offenbar erst seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts ein großes erzählerisch-moralisches, das heißt: künstlerisches Problem. Weiss denkt in seinem Roman darüber nach, wie dies Namenlose, Überwältigende des Nationalsozialismus und des stalinistischen Kommunismus – massenhafte Vernichtung von Menschen – erzählt werden könnte. Dabei formuliert er das Paradox, dass das Erzählen aus humanen Gründen gerade aus Distanz, aus kalter Übersicht geschehen, also durchaus unter Hintanstellung von heißherziger Sympathie mit den Opfern gestaltet werden müsse. Schalamow stand im Unterschied zu Peter Weiss noch ein anderes Wissen für sein Schreiben zur Verfügung: Er war über 17 Jahre lang selbst Insasse von Lagern, er überlebt und in einem entsetzlichen Sinne authentische Erfahrungen gemacht in den Lagern der Kolyma-Region, am Kältepol der Erde, im „Auschwitz ohne Öfen“. Und etwas anderes als die Kälte, die Weiss von seinem fiktiven künstlerischen Chronisten für dessen Schreibzukunft fordert, ist von Schalamow als Schreibantrieb und vom Leser bei der gemilderten Emotionalität der Texte zu spüren. Es ist etwas, das Schalamow „Erbitterung, das langlebigste menschliche Gefühl“ nennt; er gesteht diese fortdauernde Erbitterung über die totale Hilflosigkeit, Demütigung und Entmenschlichung des Lagerhäftlings. Und er darf diese Erbitterung nicht zugleich in endloses Klagen und Darüber-sprechen münden lassen, sondern fordert von sich als höchste Maxime „das Abwerfen alles Unnötigen“ in seiner Prosa; er fordert eine spezifische „Tonlosigkeit“‚ und meint wohl, dass es keine subjektiven Eitelkeiten in der Äußerungen seiner Figuren und im „Stil“ seines eigenen Erzählens geben dürfe, eine asketische „Reinheit des Tons“ müsse herrschen; es dürfe kein übliches selbstgefälliges Behagen beim Erzählen geben. Lakonik ist seine Ethik. „Alles, was die Wahrheit verdeckt, muss weg, wie unansehnlich diese Wahrheit auch sei“, fordert er in dem Brief an Aleksandr Kremenskij.
Daher sagt er selten „ich“, und wenn er „ich“ sagt, so erzählt er meist von anderen neben ihm im Lager und deren Schicksalen. Er ist Zeuge, nicht Autobiograph, und er spürte wohl, dass dies nur indirekte Einschließen seiner selbst in sein Erzählen ihm die letzte Peinlichkeit ersparte, dass nämlich – und sei es gegen seinen Willen – sein eigenes Ich sich in den Vordergrund schöbe, wo es doch am Beispiel von ein paar Dutzend Fragmenten von Lebensgeschichten und Schicksalen, Szenen, Vorfällen und Anekdoten um das Schicksal von Abermillionen Häftlingen der ganzen Lagerwelt gehen musste. Beim Erzählen aus der Lagerwelt ist nichts zu fabulieren. Aus 17 Lagerjahren bringt Schalamow genügend zu erzählende Momente und Geschichten mit und braucht sich nichts auszudenken: sich allerlei ‚fiction’ zu imaginieren wäre frivol. Angesichts des Ungeheuerlichen, von dem in Splittern und Fragmenten zu erzählen er sich vorgesetzt hat, kann „Stil“ im Sinne des Behagens an der eigenen sprachkünstlerischen Ausdrucksfähigkeit keinen legitimen Platz mehr haben. Schalamow will Prosa schreiben, die beglaubigt und „abgegeben (ist) von einer Autorität des Authentischen“ und mit „Gewähr durch den Autor“. Er treibt das noch weiter: „Der Schriftsteller soll dem Dokument den Platz räumen und selbst Dokument werden“, wie es in einem Brief an Julij Schrejder heißt. In extremer Bescheidenheit soll der Autor sich alles künstlerisch Inszenierten entledigen und sich zum „Dokument“ versachlichen, das Geschehenes und Erlebtes authentifiziert – mit anderen Worten: „Meine Erzählungen sind durch und durch dokumentarisch.“
Hat man sich an diesen Sprachgebrauch gewöhnt, leuchtet er ein als Kontrast zu dem großen moralgeleiteten Phantasieren der Romanliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts. Für Schalamow ist angesichts der erdrückenden inhumanen Wirklichkeiten des 20. Jahrhunderts der Spielraum schmal geworden und die Lizenz zu künstlerisch erdachten und erzählten Fiktionen kaum noch zu rechtfertigen. Was anthropologisch als Erkenntnis den Geschehnissen des 20. Jahrhunderts zu entnehmen ist, wozu nämlich Menschen fähig sind gegen ihre Mitmenschen, ist selbst so unheimlich und erdrückend, dass Fiktionalisierung, Humor, Komik, Satire sich verbietet und eben nur als Dokument darstellbar ist.
Die Frage wäre vielleicht, ob mit wachsender Distanz zu den historischen Ereignissen die Möglichkeiten einer Darstellung bzw. Reflexion unter Kategorien des Grotesk-Komischen oder Spotts sich doch wieder erweitern.
Wie also erzählen davon, dass es sich hier nicht um ein paar Arbeitslager, verstreut über die Sowjetunion handelte, sondern um viele Lager, an extremsten Orten angesiedelt, errichtet unter mörderischen Bedingungen und über fast 30 Jahren als ein ganz eigenes, lebensweltliches System neben der ‚normalen’ Sowjetunion unterhalten, das viele Millionen Einwohner hatte, dass das Lager-Universum millionenfach ‚Normalität’ war? Schalamow entschied sich gegen die Darstellung eines ‚Gesamtbildes’ und damit gegen die Geste Solshenizyns, ein solches Universum zu entwerfen; er entschied sich dafür, Ausschnitte aus der überwältigenden Fülle zu bieten, Fragmente und Anekdoten, bezeichnende Vorfälle, besonders sprechende Einzelschicksale, in der Hoffnung, dass dadurch doch so etwas wie eine Ganzheit, ein Gesamtbild, etwas Kohärentes entstehen würde, keine epische Totalität, aber ein Netz, eine Konstellation von erzählten ‚Inseln’, auf denen man einige Personen plötzlich in anderen Geschichten wiedererkennten würde, zaghafte Andeutung für die zufällig scheinende, aber souveräne Verknüpfung von Einzelleben in der wüsten Weite.
Als deutende, als organisierende Instanz nimmt Schalamow sich so weit wie möglich zurück, damit nicht der Eindruck von Wissen und Souveränität über Schicksale entstehe. Auch diese Zurückhaltung ist nicht Ausdruck von Bescheidenheit, sie zeigt vielmehr den Wunsch und die Notwendigkeit, nicht den verfügenden Großepiker zu spielen, und auf Authentizität in engsten Lebenskreisen zu pochen: „… ich habe kein Recht, für andere zu sprechen (außer vielleicht für die Toten der Kolyma).“ Das Unfassbare bleibt: „Auch die besten Erzählungen aus dem Kolyma – alles ist nur die Oberfläche, eben darum, weil es fasslich beschrieben ist.“
Erbitterung spricht auch aus den Briefen und aus den „Notizen“, und zwar Erbitterung über eine Literatur vor allem des 19. Jahrhunderts, über das, was er die „humanistische“ Literatur nennt und aus der er offenbar schon in den späten zwanziger Jahren geradezu im Schock erwachte. Es war eine Literatur in der Nachfolge Belinskijs und Lew Tolstojs, den er – im Gegensatz zu Puschkin und Dostojewskij – in seiner Poetik immer wieder attackiert und als Prototyp des „antipuschkinschen moralpredigenden beschreibenden Romans“ verachtet. An Tolstoj regt ihn das Tugendpredigen auf, dies Überzeugtsein obendrein, dass man durch literarische Ermahnungen die Leser ändern und bessern könne.
Er muss als Autor unerbittlich illusionslos sein, fast auch im Sinne des berühmten dialektischen Satzes: „Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter“, Verräter an der untröstlichen Trauer über die Millionen unschuldigen Opfer. „Sobald ich den Ausdruck ‚das Gute’ höre, nehme ich meine Mütze und gehe“, heißt es schneidend in dem Brief von 1968 an Julij Schrejder. Die Geschichte des russischen 20. Jahrhunderts lehrt ihn die Vergeblichkeit aller literarischen Moralpredigt. „Lebenslehrertum“ hält er für naiv und rhetorisch verblasen, und Moralpredigt ist obsolet, erfolgt es in literarischen Formen des 19. Jahrhunderts, denn: „Was kann auch ein Schriftsteller einem Menschen beibringen, der durch Krieg, Revolution und Konzentrationslager gegangen ist und die Flamme von Alamogordo gesehen hat?“
Daher seine paradoxe Poetik der äußersten Nüchternheit, des äußersten Desillusioniertseins, sein Wunsch und Streben nach einer „neuen“, anderen Prosa, deren Kennzeichen er immer wieder aufzuführen versucht und schreibend beschwört: Sie soll, schreibt er im Brief an Kremenskij von 1972, eine Prosa „ohne Sujet“ und „ohne die sattsam bekannten Charaktere“ sein, und sie soll mager, nicht-prunkend sein und alles müsse daraus herausgetrichen werden, was zu den klassischen Beispielen des Genres gehört. „Neue russische Prosa“ – das ist ihm der emphatische Begriff für das, was er in den „Erzählungen aus Kolyma“ verwirklicht sieht: uneitle, drainierte Prosa, schlank, nicht bevormundend, nicht deutend, nicht Themen ‚abhandelnd’, vielmehr: an „Menschen in Ausnahmesituationen“ vorführend, wie durch die geschichtlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts „alles Negative schrankenlos aufgedeckt ist“. Nämlich: „Der Mensch trägt tief in seiner Seele das Schlechte, und das Gute erstrahlt nicht ganz auf ihrem Grund, sondern viel entfernter.“ Das lehrten uns, sagt er, die Lager: „Jede Zivilisation wird in drei Wochen zerfallen, und vor dem Menschen ersteht die Gestalt eines Wilden.“ Aus uns allen kann man mit Schlägen, Kälte und Hunger in drei Wochen Tiere machen. Das war es. was die „humanistische’ Literatur vor allem des 19. Jahrhunderts nicht ahnte, die deshalb zur Wirkungslosigkeit so sehr verdammt war, dass sie der Verachtung anheimgefallen ist.
Schalamow steigert diese Abrechnung in seinen Notizheften in der Passage „Warum ich Erzählungen schreibe“ zu einer Erklärung in drei Punkten, in die dann „das Gute“ doch wieder einwandert, als wisse er, dass auch das Erinnern und das Erzählen ethische Implikationen, eine moralische Verbindlichkeit – und sei es noch verdeckt und verschämt – eben doch in sich trägt:
„1. Ich glaube nicht an die Literatur. Ich glaube nicht an ihr Vermögen, den Menschen besser zu machen. (…)
2. Ich glaube auch nicht an ihr Vermögen, irgend jemand zu warnen, vor der Wiederholung zu bewahren. Die Geschichte wiederholt sich, und jede Erschießung des Jahres Siebenunddreißig lässt sich wiederholen.
3. Warum schreibe dann trotzdem? Ich schreibe, damit der Leser in meiner von jeder Lüge sehr fernen Prosa, wenn er meine Erzählungen liest, sein Leben so gestalten kann, dass er etwas Gutes tut, wenigstens irgend etwas Positives. Der Mensch muss etwas tun.“
Rückblickend auf die zwanziger Jahre und seine eigene Lebensstimmung in diesen Jahren heißt es wenige Zeilen später: „Die Kernfrage , der Kernpunkt der zwanziger Jahre – das ist die Übereinstimmung von Wort und Tat. Die Poesie reichte uns nicht.“
Dass die Literatur doch in ihrem Erzählen und Erinnern ethische Impulse transportiert und diese vom Schreiben wie vom Lesen nicht ganz abzutrennen sind, ist ein ganz unsystematisches Eingeständnis Schalamows, der nicht immer der kalte Anthropologe seiner „Erzählungen aus Kolyma“ war. Er ist kein ausgeklügelt’ Buch, er ist ein Mensch mit seinem Widerspruch und seine Poetik voller Konflikte und voller Dynamik. Es wäre auch das erste Mal, dass eine Autorenpoetik das Tun ihres Autors genau beschreibt bzw. er ihr und seinen eigenen Anweisungen folgt. Sein poetisches Tun greift über sein angestrebtes systematisches Denken hinaus, aber mindestens an einem Punkt entspricht Schalamows Selbstdefinition seinen Texten: in der sanften Lakonie, die noch nicht einmal um diese Lakonie viel Aufhebens macht. Wenn in der Erzählung „Der Antiquar“ die immer wieder jäh sich wendende und abstürzende Biographie des „Professors“ Fleming“ samt einem Bündel von irrwitzigen Randschicksalen erzählt wird und doch keine Aufhebens gemacht wird um das Grelle, das Unglaubliche, sondern wie nebenbei notierend vor uns hingestellt wird und es nur einen einzigen pathetischen Satz am Ende dieser Erzählung gibt – dann haben wir es mit einem Wunder zu tun, das sich in keiner Poetik begrifflich auffangen lässt.
Schalamows konsequente Weigerung, seine Erzähltechniken effektvoll in Szene zu setzen, hatte sicher auch zur Folge, dass seine Lagererzählungen sehr viel später als andere bei uns wahrgenommen wurden. Heute wird deutlich, wie herausragend die Prosa Schalamows ist, die programmatisch – und vielleicht ist dies seine Poetik – beginnt mit jenen „Durch den Schnee“ betitelten anderthalb Seiten am Anfang der „Erzählungen aus Kolyma“. Schalamow stellt vor uns hin, wie eine Handvoll Häftlinge einen Weg durch den unberührten Schnee zu treten hat, ganz „realistisch“, ohne nach andere Bedeutungen zu schielen. Ein karger Text. Zugleich haben wir hier eine Parabel vom Künstlertum: Wie es ist, wenn einer einen Weg bahnt durch eine Landschaft, die noch nie erschlossen wurde und die alle Kräfte fordert. Diese Schilderung ist nur eine der Möglichkeiten, dieser ausgezehrten, im Sinne von Deleuze/Guattari „kleinen“ Literatur aus unauffälligen „Erzählungen“ Warlam Schalamows: Er, ein Avantgardist der besonderen Art, trampelt den Pfad, und wir die Leser – das steht in den vier Worten eines Halbsatzes – kommen bequem auf Traktoren und Pferden, hinterher.
Jörg Drews, Februar 2009
Jörg Drews: Lakonik als Ethik. Zur Poetik Warlam Schalamows. In: Warlam Schalamow. Über Prosa. Berlin. Matthes & Seitz 2009, S. 134-143.