Jörg Drews: „Mir schwebt etwas Zartes vor”– Inneres Gemurmel: Friederike Mayröckers Briefbuch „Paloma”
Jeder dieser Briefe an einen „lieben Freund” – es sind insgesamt 99 – ist ein so intensives wie unspezifisches Kommunikationsangebot, schnöde und mit compassion gesagt. Die Anrede an den „lieben Freund” schlägt einen vertrauten Ton an, aber alle wir Leser sind die „lieben Freunde”, denen dies Ich seine „Zustände” anvertraut. Und wenn auch die Brief-Form eine literarische Form ist, so ist doch das Mitgeteilte gewissermaßen unliterarisch, das Leben, das Befinden Friederike Mayröckers nämlich, beleuchtet, ausgeplaudert, beklagt, besungen in höchstens zwei Seiten langen Texten, „Briefen” eben, von Mai 2006 bis April 2007 datiert.
Solche Aufzeichnungen könnten trockenste, härteste Prosa sein, könnten in die Selbstreflexion, gar ein begriffliches Rechenschaftsgeben hinübergehen im höchsten Alter; die Autorin sagt ganz unkokett, dass sie 84 Jahre alt ist. Aber Friederike Mayröcker schreibt in ihrer „pneumatischen Fetzensprache”, haucht alles in einer melancholischen Hast hin, im Ton einer entzückenden Leier, klagend und zugleich glücklich im Schreiben und nur noch im Schreiben. Es ist aber gar kein so aktivisches Schreiben, sie webt Träume ein, ohne deren Grenzen ganz deutlich zu machen, sie treibt vielmehr durch Bilder und Zitate und Wortfunde, die sich assoziativ aneinanderhängen, ineinander gleiten. Und wenn sie ganz in sich versonnen und versponnen scheint, so ist ihre Aufmerksamkeit auch ganz offen für ihre Umwelt, von Welt erfüllt, von Gesprächen mit Freunden, von Zuwendung zu Fremden, freundlich gleitend von Einfall zu Wahrnehmung, Wahrnehmung von Worten und Formulierungen: „. . .bin den ganzen Tag am Lauschen: Worte, Wortbilder, Sätze”, und was das Schreiben angeht, der erstrebte Ton: „. . .mir schwebt etwas vor wie von Blumen und Vögeln, etwas Zartes, in vielen Farben Leuchtendes”.
Das inhaltliche Ostinato, die wiederkehrenden Motive sind das Altern, das Auftauchen von Bruchstücken des vergangenen Lebens, die gehegte und erflehte Assoziationskraft und die erschreckte Wahrnehmung und Befürchtung, es könnte die umworbene künstlerische Imaginationskraft erlahmen, weil Zerrüttung und Hinfälligkeit unser aller Schicksal sind oder sein können, es könnte das „Bilder-Gewimmel” verblassen oder versiegen: „Und Senilität ist selbstverständlich nicht zivilisiert.” Ostinat ist auch die schmerzhaft erfahrene Abwesenheit jedes ER, das im bürgerlichen Leben Ernst Jandl hieß; auf diesen Lebensgefährten bezieht sich immer noch fast alles in ihrer eigenen Existenz und ihren Erinnerungen.
Wir treiben durch ein Bewusstsein, wir lauschen einem inneren Monolog, fast schon einem inneren Gemurmel, einem intimen und zugleich dezenten, gar nicht auf grobe, entlarvende oder grell ehrliche Bekenntnisse abzielenden Erinnern, zärtlich und ein bisschen depressiv und zugleich immer leicht high, leicht rauschhaft und fast schleppend, eher wahrnehmend als nachdenkend, eher beschreibend als ernsthaft reflektierend und mit einer Art leiser Selbstverspottung, welche die Egozentrik sehr erträglich macht.
Durchsonnt und durchleuchtet
So trägt es einen durch das Buch, so verzaubert und sanft mitgerissen, dass man nur schwer bestimmen kann, ob es eigentlich so etwas gibt wie Qualitäts- oder Verdichtungsunterschiede zwischen den einzelnen Briefen und Texten, und woran diese dann eigentlich zu messen wären. Durchsonnt und durchleuchtet jedenfalls sind diese Briefe von Gelb, von gelben Blumen, Kannen, Gemäuern, Haaren, vom Blassgelb gedämpfter Freude und Vitalität und nicht etwa – das scheint mir doch bezeichnend – von mächtigem Rot. Und der Rhythmus der Prosa beruhigt sich in den letzten Briefen vielleicht doch etwas, resignativ oder stoischer, gefasster.
Wovon handelt dies Buch also? Von der langsamen Beruhigung der „wilden Zustände” ihres Inneren und der pittoresk-poetischen Zustände in ihrer oft photographierten „Behausung”? „Habe ein Buch über Körperbewußtsein geschrieben”, sagt die Autorin ganz gegen Ende. Ach, etwas größer ist die Reichweite dieser 200 Seiten dann doch.
Jörg Drews: Friederike Mayröcker: Paloma. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 199 Seiten. 16.80 Euro.In: Süddeutsche Zeitung, 14.5.2008