Jörg Drews: Auf Ulrich Holbein. Laudatio bei der Verleihung des Hugo-Ball-Förderpreises 1993
Wenn es zu den Privilegien von Literaturkritikern gehört, mehr Zeit zu haben als andere, um die klassischenTexte immer wieder zu lesen, so ist ein noch größeres Privileg, früh, vor fast allen anderen, junge Autoren entdecken und deren Texte genießen zu können, noch bevor sie in der Öffentlichkeit breitgeredet werden. John Keats hat einen solchen Moment der einsamen wie intensiven Begegnung mit einem neuen Autor unübertrefflich festgehalten: Als er zum ersten Mal Homer liest, in der Übersetzung von Chapman, notiert er in seinem Sonett On First Looking Into Chapman’s Homer, das diesen Augenblick des glückhaften Entdeckertums feiert, er habe sich gefühlt „like some astronomer, when a new planet swims into his ken“ – wie ein Astronom, wenn einer neuer Planet in sein Blickfeld kommt.
Ein bißchen wie dieser Astronom habe ich mich gefühlt, als ich vor drei Jahren nach einem „edition suhrkamp“-Bändchen mit dem kuriosen Titel Samthase und Odradek gegriffen, ein paar Seiten gelesen habe und mit grimmigem Vergnügen konstatierte: Hoppla, der Bursche kann was. Wer ist dieser Ulrich Holbein, der offenbar nicht nur intelligent ist, sondern auch doppel- und mehrfachbödig sprechen kann, der in Kafkas Odradek die Rätselfigur der Moderne sieht und dabei die Germanisten, die sich um die Deutung dieser Rätselfigur bemühen, nicht ob ihrer vielen widersprüchlichen Deutungen der Zwirnsrolle populistisch über die Klinge springen läßt? Sowas gibt es also: einen Autor, der auf der Höhe dieses Kafkaschen Rätsels und seiner Erforschung ist und gewissermaßen das Rätsel fortdichtet und es deutet, indem er die Ahnenreihe aufstellt, in die die unheimliche Zwirnspule, der mehrfach determinierte Fadenstern hineingehört. Er erkennt in Odradek den Deszendenten vom Bucklicht Männlein und Paul Klees Zwitschermaschine, den Verwandten von Judenstern und Kobold, das essentiell künstliche Gegenstück zu dem Samthasen, der im Innersten darauf aus ist, Natur zu werden und sich in einen echten Hasen zu verwandeln.
Zu bewundern waren aber in diesem ersten Buch Holbeins, das mir vor Augen kam, nicht nur ausgebreitete und wahrhaft entlegene Kenntnisse aus Kunst- und Literaturgeschichte; das wäre ja noch wenig, denn jeder, der’s darauf anlegt, kann durch Einspielen der Früchte krausester Lektüre notfalls seine Leser nicht nur verblüffen, sondern regelrecht bluffen – und das würde dann schnell öde: Man merkt in solchen Fällen die bloße Herrschsucht und ist verstimmt. Sondern Holbeins erstes publiziertes Buch1 deutet schon an, daß eine der aufregendsten Fragen der gegenwärtigen Literatur die nach Echtheit und Unechtheit des Ausdrucks, die nach den melancholisch stimmenden Einschränkungen der Möglichkeit ist, auch nur ein wirklich neues, authentisches, ursprüngliches Wort zu finden und zu sagen. Wie wäre es also durch alle Künstlichkeit hindurch doch möglich, eine nicht mehr durch Skepsis und Relativismus angefressene neue Unmittelbarkeit des Sprechens zu finden?
Holbeins Lösung ist nicht die eines durch Selbstheiligung über alle Niederungen sich erhebenden vornehmenden Tons, des hohen Stils, des neuen feierlichen Kündens; die Erschlichenheit solchen Pathos fiele ihm sofort auf. Zweitens aber ist an Samthase und Odradek schon zu erkennen, daß die Unmöglichkeit, Phänomene zu klassifizieren, das aus allen Medien hervorquellende Wissen, das Formulierungs- und Informationsgestöber zu beherrschen und in eine befriedigende Ordnung zu bringen, einer der Antriebe von Holbeins Literatur ist. Das heißt natürlich auch, daß keiner seiner Texte der Gattung nach ordentlich festzulegen ist; im Odradek-Buch findet man einerseits kleine Traktate zu einer Theorie der Evolution der Literatur, aber andererseits auch Rhapsodien über das Fortleben von Kunstwerken sowie literaturpathologische Miszellen über das, was an der Literatur nur akzidentiell erscheint, aber dann vielleicht doch substantiell ist: Fußnoten, Tintenflecken, Füllhalterqualitäten usw.
Ein Jahr später schlage ich den Band Der belauschte Lärm auf und finde wieder genremäßig kaum klassifizierbare räsonnierende Hin- und Herbewegungen in einem Gebiet, das zwischen den vier Polen Lärm, Musik, Sprache und Stille liegt, finde weiter am Werk den nörgelnd rechthaberischen, seine Neunmalklugheit aber gottseidank durch Selbstironie unterminierenden Mischling aus Plaudertasche und Kulturkritiker, aus einem Egomanen und einem Enzyklopädisten. Und die geraten einander alle dauernd in die Quere, weil da einer aus der Gegenwart ganz up to date alles nur Denkbare heraussaugen und sich trotzdem kulturkritisch von ihr distanzieren, haltlos sich durch’s Bildungslabyrinth plaudern und dennoch immer noch eine objektive Anordnung von Wissen finden will, wobei die totale Egomanie dessen, der immer alles nur auf sich beziehen will, natürlich nicht gerade hilfreich ist; das Ergebnis: erheiternd scharfsinniges Chaos. Das Resultat ist eine Art hypernervöses Vibrieren der Texte, das sich höchstens dann ein bißchen beruhigt, wenn Holbein all die Details, die er einbauen will, auf den ordnenden Faden der Autobiographie bringt wie in seiner kleinen Schrift Die vollbesetzte Bildungslücke. Inzwischen wissen wir aus drei weiteren Büchern: Holbein ist ein Autor, „dessen Gelehrtheit und weitgespannter Kenntnisreichtum den Gegenständen seiner Betrachtungen in ästhetisch-philosophischen und kulturkritischen Kreuz- und Querzügen Überraschendes entlocken“ – so formuliert es einer seiner Lektoren, und das ist ja auch gar nicht falsch und wir wollen darüber uns nicht lustigmachen, denn Klappentexte gehören zu den schwierigsten, undankbarsten Textgattungen und sind meist so schlimm zu lesen wie die Kurzbegründung für die Zuerkennung eines Literaturpreises. Aber der vorgeführte Kenntnisreichtum Holbeins hat zugleich auch etwas Manisches und führt so wenig direkt wie natürlich ostentativ ins Chaos. Das hängt wohl damit zusammen, daß Holbein sich wirklich für vieles interessiert und vieles kennt, aber eben auch an dem Dilemma leidet, daß die nicht mehr vorhandenen Kriterien dafür, was denn wissenswert und wichtig sei, angesammeltes Kulturgut zu unübersichtlich-endlosem Kulturschrott werden lassen. „Bildung“, als es das noch gab, wurde gegliedert von einem inneren System, das dafür sorgte, daß das Wissenswerte an das System sozusagen anschließt, während beliebiges anderes Wissen einfach abgestoßen wird. Wenn aber nicht mehr zu entscheiden ist, was wissenswert wäre und wie es aufeinander zu beziehen wäre, oder wenn Wissenswertes der Menge nach einfach nicht zu bewältigen ist, so entstehen dezentrierte Wissenskosmen, windschief-willkürliche Wissensagglomerationen. Wozu vor vielen Jahren Robert Musil schon ironisch-pompös bemerkte: „Ich bin umfassend halbgebildet“ – und prompt an seinem Essayroman scheiterte, weil der Wissensüberschuss nicht mehr evident zu gliedern war; während James Joyce in dieser Situation ein Buch machte, was tendenziell alles Wissen, alle Mythologien, alle Sprachen zu Kulturschrott zermahlte; die Masse des Zermahlenen brachte er in einen vieldeutig funkelnden epischen Fluß namens Finnegans Wake. Selbstverständlich wird auch bei Holbein für besonders evident gehalten, daß sich Literatur nicht der Inspiration des Originalgenies verdankt, sondern daß noch die größte Begabung sich vor allem durch Literatur inspirieren läßt, aus Literatur schöpft bis zu dem Punkt, den Joyce schon als unausweichlich erkannte: daß es die Grenze aller Innovation in Kunstwerken ausmacht, daß wahrscheinlich jeder Satz, der literarisch denkbar ist, irgendwann und irgendwo schon einmal gesprochen oder geschrieben worden ist. Daß Ulrich Holbeins Literatur Literatur aus Literatur sei, ist so richtig, wie nur Platitüden richtig sein können; bei Holbein läge die Platitüde auf dem Niveau des wissenschaftlichen Begriffes der ‚Intertextualität‘, der auch nicht viel erklärt. Wichtig ist vielmehr, daß Ulrich Holbein die Herausforderung, die in unserem Überschwemmtsein mit Bildungsfetzen und Informationsplunder, mit nichtswürdigen Sprüchlein aus der Werbung und verdinglichten literarischen Zitaten liegt, als Herausforderung annimmt. Ein Schlager von Klasse, sagte Gottfried Benn, enthalte mehr Jahrhunderte als eine Motette (wenigstens für ihn), und das heißt umgekehrt auch, daß viele Kulturgüter sowas wie Schlager, evergreens, Ohrwürmer und Markenprodukte geworden sind. Mit diesem Material, mit dieser Lage nimmt Ulrich Holbein es auf und zieht aus dieser Praxis nicht nur launig seinen Distinktionsgewinn, sondern in der Komplexität seines Umgangs mit Zitaten, der sowohl den pathologischen Befund purer „Zitatose“ übersteigt, wie auch in dieser spezifischen Arbeit mit dem Zitat, dem Vorformulierten verhält er sich adäquat zur Komplexität der gegenwärtigen Gesellschaft und zum Zustand ihrer Bildungs- und Wissenssphäre. Ein Großteil der zeitgenössischen Literatur, auch vieldiskutierte und respektierte, auch in feinen Verlagshäusern publizierte, hinkt ja erbärmlich hinter der Komplikation und Vertracktheit unserer Welt und insbesondere der Ausdifferenziertheit unserer Sprach- und Wissenswelten hinterher, ist intellektuell insuffizient, herzig harmlos verglichen mit der Nuanciertheit von Wissen und Wissenschaften.
Holbein setzt Zitate in seiner Literatur natürlich nicht mehr so ein, daß sie ganz simpel sowas wie „überzeugende Belege“ für etwas wären und einen von der einen Überzeugung zur anderen konvertieren ließen, sondern Zitate sind Material, das, indem er es sich an sich reiben läßt, in Spannung, Kontrast und Widerspruch Gedanken generiert, Argumente hervorruft. Sätze, die in ihrem Wahrheitsgehalt Blabla oder verblaßt oder nichtswürdig sind, können doch so konstelliert werden, daß sie etwas ganz anderes evident machen als das, was in jedem einzelnen von ihnen drinsteht.
Das endgültige, schlechthin wahre Zitat gibt es nicht, und ebenso ist Holbein auch nicht der romantischen Meinung, es müsse das eine, ursprüngliche, uranfängliche, endgültige Wort geben. Er weiß: Wenn wir jenes eine, erste Wort wüssten, das Sein überhaupt erst gesetzt hat, bräuchten wir dieLiteratur nicht mehr: sie wäre dann zu Ende. Da wir dieses Wort nicht kennen, die Dichter auch nicht, und die am wenigsten, die so tun, als sprächen sie aus dem Geheimnis, muß die Literatur aus immer neuen Ansätzen und Umwegen zu dem Wort, in dem unbedingte Setzung und endgültige Deutung der Welt geleistet und nicht mehr nur mißlungen und aufgeschoben wären. Nicht im direkten Zugriff auf das erhabene Wort, sondern durch die Sekundärliteratur hindurch, aus Kulturschrott und Mediendreck, aus Dichtersprüchen und Journalistenphrasen sucht Holbein geradezu zappelnd vor Nervosität immer neu nach Formulierungen, die sein Dilemma ausdrücken könnten. Aber glücklicherweise ist Literatur zwar das Allerernsteste, aber so ernst dann auch wieder nicht. In gewissem Sinn wie James Joyce, in gewissem Maße wie Arno Schmidt steht er als Schriftsteller vor unendlichen Regalen mit Büchern, die alle gelesen, verarbeitet und umgeschrieben werden müssen. Das Resultat dieser Lage ist glücklicherweise nicht so ernst wie die Lage selbst. Denn Holbeins Literatur mag so manisch wie egomanisch und seine Situation die eines Schwimmers sein, der durch Zitate, Wissensfetzen und nicht abschüttelbare Formulierungen wie durch ein „Gestöber aus Hirnplankton“ schwimmt. Aber darüber spricht er doch wieder mit so viel Distanz und so viel Sinn für Komik, daß man mit ausnehmendem Vergnügen als Leser in seinem Hirnplankton herumschwimmt.
Ich bin immer noch so verblüfft darüber, daß wir einen solchen kauzigen Manieristen, einen solchen intellektuellen Spieler, einen solchen Komödianten der Gelehrsamkeit, einen so witzigen Arrangeur von Versuchsanordnungen und Spannungsfeldern aus Zitaten in unserer gegenwärtigen Literatur haben, daß ich fast sagen möchte: Ulrich Holbein war in der deutschen Literatur nicht vorgesehen. Umso mehr freuen wir uns, daß es ihn gibt.
1 Inzwischen weiß ich, daß es sich bei Samthase und Odradek gar nicht um Holbeins erstes publiziertes Buch handelt; vielmehr erschien bereits 1989 Holbeins kurios-gelehrte Abhandlung Der illustrierte Homunculus. Goethes Kunstgeschöpf auf seinem Lebensweg durch hundertfünfzig Jahre Kunstgeschichte, aber der Münchner Verlag Kastell blüht derart entschieden im verborgenen, daß …
Jörg Drews: Ulrich Holbein. Laudatio. In: Jörg Drews (Hrsg.): Vergangene Gegenwart – Gegenwärtige Vergangenheit. Studien, Polemiken und Laudationes zur deutschsprachigen Literatur 1960- 1994. Aisthesis Verlag Bielefeld 1994, S. 249-255.
Auch in: Hugo-Ball-Almanach 18 (1994), S. 34–42.