Jörg Drews: Dreißig Quadratkilometer Exil
Europäische Juden und Kommunisten an einem ihrer fernsten Zufluchtsorte: Ursula Krechels bewegender Roman „Shanghai fern von wo”
Am Ende muss man sich selbst noch einmal vorsagen, wie es denn möglich gewesen ist, dass in Schanghai in den dreißiger Jahren 100 000 Ausländer leben konnten, darunter fast 15 000 deutsche und etwa 3000 österreichische Juden, genauer: in zwei Stadtteilen innerhalb Schanghais, und diesem halb-exterritorialen Status machten allmählich erst die Japaner und dann nach deren Niederlage die Rotchinesen 1949 ein Ende.
In diese rechtlich geradezu bizarre Enklave konnte man bis Anfang 1940 von Europa aus noch einwandern, und wenn es auch schon Autobiographisches und Dokumentarisches zum jüdischen Emigrantenleben auf diesen dreißig Quadratkilometern gibt, so können wir uns doch erst jetzt mit Ursula Krechels Bericht vom Leben eines Dutzends dieser Insassen von erst Enklave, dann Ghetto ein Bild machen, wie es gewesen ist, wie es sich lebte oder wie man zugrunde ging in Schanghai und nach 1945 aus dem Chaos nach New York oder Haifa, London oder Hongkong entkam.
Ursula Krechel verfolgt das Schicksal von ein paar Juden, jüdischen Paaren oder Kommunisten im Exil jener Jahre, Menschen aus Berlin und Wien, vom Buchhändler und Kunsthistoriker bis zum Kaufmann, die sich – wenn sie überhaupt etwas dort Brauchbares oder Erlaubtes konnten – , als Autoschlosser, Apfelstrudelbäcker, Berater im Kunsthandel und Kleinhändler skurrilst verzweifelter Art am Leben hielten, notfalls über Jahre durch täglichen Besuch der Küche von Wohlfahrtsorganisationen und in Unterkünften, in denen es mehr Ratten als Menschen gab, und dies alles in der feuchten Hitze von Schanghai: „Die Flüchtlinge trugen eine Vergangenheit in sich, die keinen Ort mehr fand.”
Obwohl das Buch im Untertitel „Roman” heißt, ist es der strengen jahrelangen Recherche verpflichtet und erlaubt sich nicht, ins Fiktionale abzuheben. Aber die Autorin erzählt ihren historischen Stoff in einer Folge von Szenen oder Episoden mit einer Sprache und einem Einfühlungsvermögen, einer distanzierten ‚compassion’, die dem psychologischen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts verpflichtet ist. Sie erzählt mit einer Art unterdrücktem Pathos, im Tonfall eines völlig desillusionierten Mitgefühls für jenes Dutzend Passions-Geschichten (hinter denen 1000 andere stehen), die nicht nur die Nazis in Deutschland, sondern auch ihre Emissäre in Gestalt von Angehörigen des Auswärtigen Amtes und des deutschen Konsulats und dazu die Japaner in Schanghai veranstalteten und zu verantworten hatten.
Beeindruckend ist nicht zuletzt, wie Krechel auch die Schicksale nach Deutschland zurückgekehrter Schanghai-Exilanten etwa in Berlin und Hannover ab 1945 verfolgt und dokumentiert, wie sie, fast ohne die Stimme zu heben, von der Art und Weise berichtet, wie die deutschen Behörden für „Wiedergutmachung” in den fünfziger Jahren mit Schanghai-Rückkehrern verfuhren.
Bewegend ist, wie Ursula Krechel weder kalt dokumentarisch noch summarisch verfährt, sondern auf einzelne Menschen eingeht, sich sowohl atmosphärisch wie psychologisch Zeit lässt für sie und für das, was sie tagtäglich und lebensgeschichtlich ‚erfahren’, im emphatischen Sinne des Wortes. Vor allem die 20 Seiten, in denen erzählt wird, wie das war, als Franziska Tausig ihren toten Mann ganz allein zu dem außerhalb des Ghettos gelegenen Friedhof begleitet, begleiten muss und eben auch nur ganz allein (auf Anweisung der Japaner) hinter einem schäbigen Leichenkarren herlaufend begleiten darf, das ist große, bewegende Prosa.
Drews, Jörg: „Dreißig Quadratkilometer Exil“. In: Süddeutsche Zeitung, 4. 2. 2009. Zu: „Shanghai fern von wo“. Roman. Jung und Jung Verlag, Salzburg und Wien 2008“.